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WOHER STAMMT DAS DATENMATERIAL FÜR DIE AUSSTERBEFORSCHUNG?

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Seltsamerweise wird in der Diskussion um Muster und voraussichtliche Ursachen vergangener Aussterbeereignisse oft gerade die Darlegung der Datenquellen, auf denen zahlreiche Schlussfolgerungen basieren, ausgespart. Am Ende kann (meist) fast jeder paläontologischer Datensatz – rein theoretische Studien ausgenommen – auf einen einsamen Paläontologen zurückgeführt werden, der auf einem mit Geröllen übersäten Hang sitzt und die geografische Lage eines neu gefundenen Fossils und seine Position innerhalb der Abfolge von Sedimentschichten aufzeichnet, bevor er das Fossil für den Transport verpackt und es schließlich in einer Sammlung ähnlicher Exemplare in einem Museum, einem universitären geologischen Institut oder einem privaten Labor landet (siehe S. 38, oben). Wie bereits angeführt, lokalisiert der geografische Nachweis das Fossil im Raum, und zwar nicht nur im Raum der heutigen Welt, sondern auch im Raum der Vergangenheit, als die Kontinente oder Teile davon noch ganz andere Positionen einnahmen. Zusammen mit dem geografischen Nachweis verortet der Tiefennachweis das Exemplar in der Zeit gemäß der geologischen Zeitskala. Häufig ist für die Bestimmung des relativen Alters des betreffenden Exemplars außerdem die Information essenziell, die von anderen, in derselben Gegend gefundenen Fossilien gewonnen werden kann.

Überraschend wenige Fossilien werden oder können bereits zum Zeitpunkt der Auffindung im Feld akkurat bis zur Speziesebene identifiziert werden. Um sie mit einiger Sicherheit bestimmen zu können, müssen die meisten fossilen Exemplare an Orte transportiert werden, wo sie mit Zeichnungen, Fotos und Beschreibungen anderer Exemplare, gesammelt von anderen Paläontologen, oder besser noch mit anderen Exemplaren |38|in Museumssammlungen, die bereits von Spezialisten identifiziert wurden, verglichen werden können.


Nahezu alle paläontologischen Daten werden von Paläontologen bei ihrer Feldforschung auf der Suche nach Fossilien zusammengetragen. Das Foto zeigt den Autor auf der Suche nach Fossilien in Gesteinen des Oberkarbons in Nordzentraltexas, USA.

Paläontologen, die vergangene Aussterbeereignisse erforschen, sind hauptsächlich an speziellen Teilmengen dieser Datensätze interessiert, die unter großem finanziellem und (oft) persönlichem Aufwand von Generationen ihrer Kollegen zusammengetragen wurden. Die Aussterbeforschung konzentriert sich auf das stratigrafisch oberste beobachtete Auftreten einer Spezies, einer taxonomischen Gattung oder einer taxonomischen Familie, zu der das Exemplar gehört. Diese Art der Beobachtung liegt an der Schnittstelle zwischen dem bereits Beobachteten und dem noch Unbeobachteten. Der Großteil der Wissenschaften beschäftigt sich mit der Dokumentation der Charakteristiken von Objekten, Exemplaren und Spezies und dem Verständnis derjenigen Prozesse, die dazu führen, dass diese entstehen oder an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit bestehen bleiben. Aussterbedaten sind jedoch anders. In diesen Fällen sind wir an der Kehrseite derselben Frage interessiert – an den Gründen für das Verschwinden von Arten aus dem fossilen Befund.

Wissenschaftler und Philosophen betrachten die Daten, die sich auf das Fehlen einer Beobachtung beziehen, als negative Beweise oder Beweise für Abwesenheit. Negative Beweise begegnen uns ständig im täglichen Leben. Beispielsweise analysiert ein Arzt, der einen Patienten auf Krebs untersucht, Zellproben, um festzustellen, ob Krebszellen vorhanden sind. Ein medizinisch günstiges Resultat ist jenes, das keinen Hinweis auf Krebs findet. Ein geläufigeres Beispiel sähe so aus: Man besucht |39|einen neuen Supermarkt auf der Suche nach seiner bevorzugten Marke Frühstücksflocken, kann sie aber nicht finden. In beiden Fällen deuten die Anzeichen darauf hin, dass die gesuchten Objekte nicht da sind. Jedoch erlauben die (nicht) erhobenen Daten keine Unterscheidung zwischen wirklicher Abwesenheit und dem irrigen Anschein der Abwesenheit, der sich daraus ergeben könnte, dass man an der falschen Stelle sucht oder keinen Zugriff auf die Technologie hat, mit der sich die Anwesenheit des Objekts nachweisen lässt. Im zweiten Beispiel ist diese Zweideutigkeit ärgerlich, im ersten Beispiel dagegen möglicherweise tödlich.


Stratigrafische Verteilung des Vorkommens von Ammoniten im Abschnitt kurz unterhalb der KT-Grenze auf der Seymour Island, Antarktis.

Informationen über Aussterbeereignisse sind in dieser Hinsicht problematisch. Wie schon bemerkt, ist das Auffinden eines Fossils meist ein relativ ungewöhnliches Ereignis. Wenn ein Paläontologe auf der Suche nach Fossilien aus einer Schichtfolge Stichproben nimmt, gibt es oft große Lücken zwischen den Schichten, in denen Fossilien derselben Spezies gefunden werden. Beispielsweise zeigt das Diagramm rechts das Schema des Auftretens von Ammonitenarten in der auf die Kreide-Paläogen-Grenze (im Deutschen abgekürzt als „KT-Grenze“ nach der früheren Bezeichnung des Paläogens als Tertiär) hinführenden Gesteinsabfolge auf der Seymour Island in der Antarktis. In diesem Diagramm wird die KT-Grenze durch die horizontale Linie dargestellt. Auf den ersten Blick scheint der fossile Befund zu zeigen, dass keine der Ammonitenarten bis an die Ebene (= Zeit) der KT-Grenze heranreicht. Das scheinbare Muster der Aussterbeereignisse suggeriert, dass alle zehn in diesem stratigrafischen Abschnitt belegten Ammonitenarten bereits vor der KT-Grenze ausgestorben sind.

Jedoch sind die Belege für das Vorkommen jeder dieser Spezies eher dünn gesät und weisen große Lücken zwischen dem Auftreten entsprechender Exemplare (repräsentiert durch die Punkte im Diagramm) innerhalb ihrer bekannten stratigrafischen Reichweite (repräsentiert durch die vertikalen Linien, die die Punkte des individuellen Auftretens verbinden) auf. Während der Zeiträume, die durch diese Lücken angezeigt werden, muss jede dieser fossilen Spezies fortbestanden haben, obwohl es auf der Seymour Island keinen Beleg für ihre Existenz gibt. Über das letzte Auftreten im fossilen Befund der einzelnen Spezies hinaus gibt es allerdings keinen Beweis mehr dafür, dass irgendeine dieser Ammonitenarten noch irgendwo auf der Welt existiert hat.

Angesichts der Lückenhaftigkeit des fossilen Befunds dieser Arten stellt sich die Frage, wie man sicher sein kann, dass nicht eine dieser Spezies über ihr letztes Vorkommen auf der Seymour Island hinaus irgendwo weiterexistierte. Mit anderen Worten: Wie weit müssen wir über den Horizont des letzten Auftretens hinausgehen, um sicher zu sein, dass diese Arten wirklich ausgestorben sind? Könnten nicht einige der Spezies bis zur KT-Grenze |40|ausgeharrt haben und dann ausgestorben sein? Könnten nicht sogar einige wenige über die KT-Grenze hinaus bis ins Paläogen überlebt haben? Solche Fragen stellen sich die Paläontologen, die vergangene Aussterbeereignisse erforschen, und versuchen, Antworten zu finden.

Unglücklicherweise ist die paläontologische Literatur zu umfangreich, als dass ein Forscher einen Datensatz erschaffen könnte, der zuverlässig die Aussterbehorizonte aller bisher beschriebenen rund 500.000 fossilen Arten zusammenfasst. Um die generellen Tendenzen innerhalb der Daten auf der Speziesebene zu erfassen, haben Spezialisten synoptische Datensätze von handlicherer Größe auf der Gattungs- und Familienebene zusammengestellt. Angefangen bei taxonomischen und chronologischen Kompendien wie The Fossil Record (Harland u.a. 1967), Treatise of Invertebrate Palaeontology (1953 bis heute) und The Fossil Record 2 (Benton 1993) haben Datenkompilierer Zusammenfassungen zu rund 35.000 fossilen Gattungen und 4.000 fossilen Familien erstellt und veröffentlicht – namentlich der bereits verstorbene Chicagoer Paläontologe J. J. (Jack) Sepkoski Jr. –, die von einer Armee von Spezialisten für verschiedenste taxonomische Gruppen geprüft, verbessert und wieder geprüft wurden. Diese Arbeit wird auf freiwilliger Basis als Herzstück des Paleobiology Database Project (http://fossilworks.org/bridge.pl?) weitergeführt. Taxonomische Kompendien versammeln Daten auf der Speziesebene und behandeln taxonomische Kategorien höherer Ordnung so, als hätten sie denselben ontologischen Status wie eine Spezies. Die meisten Biologen würden allerdings sagen, dass es zwischen den Konzepten einer Spezies und einer Gattung oder Familie fundamentale Unterschiede gibt. Erstere repräsentiert eine Ebene der biologischen Organisation als Ergebnis natürlicher Prozesse. Letztere stellen das Produkt eines menschlichen Versuchs dar, Biodiversitätsdaten in einer geringeren Zahl von hierarchischen Kategorien zu organisieren, als es im Rahmen der darwinistischen Evolution möglich oder logisch konsistent ist. Ungeachtet der Unterschiede zwischen Arten und höheren taxonomischen Kategorien sind solche Zusammenfassungen hilfreich, indem sie wiederkehrende Muster innerhalb des fossilen Befundes aufdecken. Daten auf der Ebene von Gattung und Familie können als Stellvertreter für Informationen der Speziesebene dienen und werden auch als solche herangezogen. Sie sind besonders nützlich, um herauszufinden, worauf sich zukünftige Forschungen auf der Speziesebene konzentrieren sollten, und um bestimmte Arten von Hypothesen zu testen.

Neben der Sammlung von Datensätzen über verschiedene Spezies fassen diese taxonomischen Kompendien die stratigrafischen Informationen, die den Artbeschreibungen beigefügt sind, in höheren stratigrafischen Kategorien zusammen, meist auf der Ebene der stratigrafischen |41|Zeitalter, wenngleich in manchen Fällen Untereinheiten verwendet werden. Dies ist eine äußerst pragmatische Konvention, da die Interpretation der in der Artenliteratur verzeichneten stratigrafischen Ebenen (meist Biozonen) selbst im besten Falle kompliziert ist, von einer Zusammenfassung ganz abgesehen. Allerdings führt der Gebrauch stratigrafischer Aggregate zu einer Einteilung der stratigrafischen Information in relativ grobe Zeitabschnitte.

Beispielsweise werden in den meisten paläontologischen Kompendien alle Aussterbeereignisse, die zu irgendeiner Zeit im Maastrichtium stattgefunden haben, als „Maastricht“ aufgeführt. Während diese Bezeichnung eigentlich „irgendwann während des Maastrichtiums ausgestorben“ bedeutet, haben viele die Resultate der Analysen aus Daten taxonomischer Kompendien so interpretiert, dass alle Maastricht-Aussterbeereignisse exakt an der KT-Grenze stattfanden. Diese Praxis verlängert die stratigrafische Reichweite von mindestens einer, wenn nicht möglicherweise sogar aller Spezies einer taxonomischen Gruppe bis hinauf zum oberen Ende des stratigrafischen Intervalls, ungeachtet der Tatsache, dass kein Mitglied der Gruppe jemals innerhalb dieses Horizonts beobachtet wurde (siehe S. 39) – das ist das paläontologische Äquivalent zum „Aufrunden“ der stratigrafischen Daten zum nächsten Zeitalter. Da diese Praxis die Zeit innerhalb paläontologischer Datensätze sehr vereinfacht widerspiegelt, geht der Vorteil für den Paläontologen, in den Daten aus unzähligen Sammlungen bestimmter Exemplare aus der Feldforschung allgemeine Tendenzen feststellen zu können, auf Kosten der zeitlichen Präzision. Insofern die Beurteilung der Übereinstimmung verschiedener Daten mit den Vorhersagen verschiedener Szenarien ein präzises Wissen über das zeitliche Vorkommen von Spezies voraussetzt, sind die Gefahren einer bloßen Annahme – statt der Beobachtung – der Anordnung von Abläufen offensichtlich. Alternativ zu taxonomischen Kompendien könnten Paläontologen auch ausschließlich mit genauen Daten aus der direkten Beobachtung der Vorkommen bestimmter Spezies im Feld arbeiten. Datensätze für beide Arten von Studien sind für einige Gruppen vorhanden, jedoch nicht für die Mehrheit der biologischen Gruppen in den bedeutendsten stratigrafischen Aussterbehorizonten.

Ungeachtet dieser Komplikationen spielen stratigrafisch zusammengefasste Daten eine grundlegende Rolle bei der Entdeckung wichtiger Variationsmuster in der Geschichte des Aussterbens auf der Erde und stellen ein verlässliches Mittel zur Prüfung bestimmter Hypothesen dar. Solche Daten sind zwar mit Vorsicht zu genießen und sollten keinesfalls überinterpretiert werden. Doch bieten sie den besten Überblick, der den Paläontologen momentan zur Verfügung steht, um uns viele Aspekte des fossilen Befundes nahezubringen.

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