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9.

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Es war halb drei morgens. Saidi beschloss, für heute Schluss zu machen. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Er schaltete das “OFF”- Licht an und fuhr in Richtung Queensboro Bridge.

Es waren zwar immer noch Leute auf den Straßen in der ‘Stadt, die niemals schläft’, aber der Verkehr war deutlich ruhiger geworden. Fast nur noch Taxis und Limousinen und all diejenigen, die wegen des starken Tagesverkehrs nachts arbeiten müssen: Die Müllwagen, diverse Lieferantenfahrzeuge, Strassenbauarbeiter und die Reparaturkolonnen und Kabelleger der verschiedenen Telefon- und Elektrizitätsgesellschaften.

Aufpassen musste er auf die Asiaten, die rund um die Uhr auf ihren altersschwachen Fahrrädern, ohne Licht und ohne Ampeln und Einbahnstraßen zu beachten, Sushi oder Tsaos To Fu an Nachtschwärmer auslieferten. Manchmal konnte man sie nur im letzten Moment sehen, wenn sie für einen Moment von einem der Wasserdampf speienden dicken Rohre über den Kanalisationsschächten, die sich zum Teil mitten auf der Straße befanden, verdeckt wurden.

Er würde in 20 Minuten zu Hause sein. Meistens hatte Elvira etwas vom Abendessen für ihn bereitgestellt, das er sich nur aufwärmen musste. Heute hatte er aber noch am Abend downtown im Punjabi Grocery & Deli einen Curryreis zu sich genommen und war daher nicht besonders hungrig. Eigentlich mochte Saidi diese Imbisstreffen der New Yorker Taxifahrer nicht besonders. Mit den Indern, Pakistani und Bangladeschi, die sich überwiegend dort trafen, war er nie richtig warm geworden. Lieber unterhielt er sich mit den Kollegen europäischer oder lateinamerikanischer Herkunft.

Elvira schlief. Mit ihren langen schwarzen Haaren, dem dunklen Teint und den leicht geöffneten vollen Lippen bot sie ein schönes, reizvolles Bild. Häufig, wenn er von der Spätschicht kam, weckte er sie mit leichten Küssen auf Stirn und Wangen, wobei eine Hand ihren prallen Busen sanft berührte. Sie stöhnte dann schläfrig, aber lächelte. Es dauerte nicht lange und sie hatten Sex, mindestens eine Stunde lang. Elvira stammte aus Puerto Rico und hatte ein heißes Temperament. Beide liebten Sex. Und wunderbarerweise fuhren sie auch nach 14 Jahren Ehe immer noch aufeinander ab. Danach konnten sie dann gut schlafen.

Heute war ihm jedoch nicht nach Zärtlichkeiten zumute. Er duschte und schlüpfte unter die Bettdecke, bemüht, seine Frau nicht aufzuwecken. Er lag lange wach und dachte nach. Trotz der geschlossenen Jalousien drang Licht von der gegenüberliegenden Parkgarage und von der Leuchtreklame an der Häuserwand daneben gelb und rot ins Schlafzimmer.

Er war noch sehr jung gewesen, damals in Maputo. Mosambik befand sich im Bürgerkrieg. Die Hälfte der Bevölkerung lebte in Armut. Da war es für ihn, seine Eltern und Schwester fast wie ein Geschenk des Himmels, als er den Job als Arbeiter und Fahrer bei der Botschaft der DDR bekam. Die Leute von der Botschaft hatten ihn stundenlang interviewt, ihm tausend Fragen gestellt nach seiner Familie, seinen Lebensgewohnheiten, seinen Freunden, seinen Vorlieben und seinen Abneigungen. Irgendwie hatten sein smartes Reagieren auf die Fragen und vielleicht nicht zuletzt sein gutes Aussehen – sein Vater war Portugiese, seine Mutter kam aus Tanzania – wohl dazu beigetragen, dass er den Job erhielt.

Man gab ihm zwei kurzärmelige weiße Hemden, eine graue leichte Baumwollhose sowie ein Paar dunkelbraune Halbschuhe aus recht hartem Leder, die eher für eine Wanderung im Thüringer Wald als für den Gebrauch in Südostafrika geeignet waren. Wenn er zur Arbeit ging, tauschte er diese Ausstattung gegen seine Sandalen, die abgetragene adidas-Trainingshose und ein ausgeblichenes grünes Polohemd.

Meistens chauffierte er den Wirtschaftsattachee Kutschinski, einen hochgewachsenen, kräftigen Mann mit einem kantigen Gesicht. Ein Gesicht, das Furcht einflößte. Eine ziemlich große Narbe unterhalb seines linken Ohres unterstrich diesen Eindruck. Er erinnerte ein wenig an einen der stereotypen deutschen Nazi-Offiziere, wie sie in der recht stupiden amerikanischen TV-Serie Hogan’s Heros vorkamen.

Sie fuhren einen brandneuen, dunkelblauen Volvo. Kutschinski traf sich regelmäßig mit Regierungsangestellten, manchmal in verschiedenen Verwaltungsgebäuden, manchmal aber auch in Hotelhallen oder kleinen Restaurants am Stadtrand. Dann kamen auch andere dazu. Die sahen allerdings nicht so aus, als würden sie für die Regierung arbeiten.

Kutschinski wurde immer von einem jüngeren, blassen Typen aus der Botschaft begleitet. Der hieß Hans-Jürgen. Er sagte nicht viel. Es war augenscheinlich, dass seine Aufgabe darin bestand, auf den Wirtschaftsattachee aufzupassen.

Es war etwa Ende Oktober 1986, kurz nachdem Präsident Samora Machel, zu dem die DDR-Mission gute Beziehungen hatte, bei einem Flugzeugabsturz seiner Tupolev 134 in den Lebombobergen zusammen mit einer Reihe anderer Regierungsmitglieder ums Leben gekommen war.

Kutschinski und seine Kollegen schienen seit dem verändert; oft schlechtgelaunt und gereizt. Leute aus der DDR kamen nach Maputo und der Botschafter war für zwei Wochen weg. Zur Berichterstattung in Ostberlin, hieß es.

“Wie lange bist Du jetzt schon bei uns”, fragte Kutschinski eines Tages, als der ihn gerade an dem Restaurant Costa de Sol etwas außerhalb der Stadt an der Baia de Maputo absetzen wollte. Seine Treffen mit diversen einheimischen Männern waren häufiger geworden. Seinen Begleiter hatten sie kurz vorher an einer Strandbar abgesetzt.

“Mehr als ein Jahr”, antwortete Saidi.

“Es sieht so aus, als ob du hier bald keinen Job mehr haben wirst. Die Zeiten haben sich geändert. Es sei denn, ich mache mich stark für dich. Ich könnte dir möglicherweise sogar einen Job bei uns in der DDR verschaffen, Du könntest dort eine Ausbildung erhalten.”

Saidi war so perplex, dass er zunächst gar nichts sagen konnte. Aber er war smart.

“Warum würden sie dies tun”, fragte er nach einer Weile.

“Hör’ mal zu, du bist doch ein schlauer Junge. Ich treffe hier eine Menge Leute und manche davon regelmäßig. Ich habe gute Gründe dafür, dass die Leute in der Botschaft und auch andere nicht erfahren, wen ich wie oft treffe. Mit Ausnahme der offiziellen Besuche im Handelsministerium . Verstanden ? Hans-Jürgen zählt nicht. Der hat kapiert. Auch meine gelegentlichen Abstecher zur Africa Bar und zu Dolce Vita gehen Niemanden etwas an. Du hältst also deinen Schnabel, und ich sorge für deine Zukunft. Klar ?”

Saidi nickte. Was für ein Angebot ! Er würde rauskommen aus diesem Chaos, aus dieser Unsicherheit, dem Elend, aus dem täglichen Kampf ums Überleben. Er würde vielleicht einen Beruf erlernen.

“Solltest du schwatzen, schneide ich dir die Zunge raus”. tönte Kutschinski mit einem fiesen Lächeln und einem Ausdruck im Gesicht, der Angst machte.

“Oder besser: Ich erzähle der Polizei, zu der ich – wie du weißt – einen guten Draht habe, von deinen kleinen Nebengeschäften.”

Saidi zuckte zusammen. Woher wusste er dies. Saidi, wie viele seiner Kumpel, machte hin und wieder ein paar Metical - oder manchmal auch Dollars – als Runner durch den Weiterverkauf von Stoff – meistens Koks – den ‘Profis’ von Südafrika über die Grenze nach Maputo brachten.

Er ließ ihn also beobachten.

“Kein Problem, Sie können sich auf mich verlassen”. sagte er schnell und streckte ihm seine Hand entgegen. Kutschinski ignorierte die Geste, tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger zum Gruß an die Stirn, öffnete die Wagentür, blickte sich kurz nach beiden Seiten um und verschwand schnell im Restaurant.

Er musste jetzt schlafen. In zweieinhalb Stunden würde es hell werden. Er nahm ihr ruhiges, gleichmäßiges Atmen wahr. Elvira schlief fest. Sie musste in zwei Stunden aufstehen. Um sieben fing ihre Schicht im Lenox Hill Hospital an. Sie versuchte dann, ihn nicht aufzuwecken. Das Frühstück für Jazmin und Roy bereitete sie schon am Abend zuvor vor. Sie waren jetzt groß genug, um sich selber Brot zu toasten und Orangensaft aus dem Kühlschrank zu holen. Cornflakes standen auf dem Küchentisch.

Was sollte er Elvira sagen ? Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, und er hatte ihr am Anfang ihrer Ehe natürlich von seiner Jugend in Maputo erzählt.

Und er wusste, wie sie aufgewachsen war. Etwas außerhalb von San Juan. Alle paar Jahre besuchten sie Elviras Schwester und deren Familie in Puerto Rico. Durch den regen Verkehr zwischen New York und San Juan waren die Flüge recht preiswert geworden.

Aber er war eigentlich nie ins Detail gegangen. Sie wusste lediglich, dass er für einen Diplomaten gearbeitet hatte, der sich als fieser Gauner erwiesen und ihm übel mitgespielt hatte. Der Mann, der schließlich der Grund für seine Flucht aus Mosambik war.

Über seine Schwester hatte er seiner Frau nur erzählt, dass sie in jungen Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommen sei. Einzelheiten verweigerte er immer mit dem Hinweis auf die schmerzlichen Erinnerungen, die diese in ihm hervorrufen würden. Auch jetzt war bei dem Gedanken an Micaela an Schlaf nicht zu denken. Wie bei einer Rückblende im Film kamen die Ereignisse wieder wie ein böser Traum zurück.

*

Kutschinski hatte Micaela zum ersten Mal gesehen, als sie ihren Bruder eines Abends vor dem schmiedeeisernen Tor der DDR-Botschaft in der Rua Damiâo de Góis abholte. Für seinen Nachhauseweg nahm er normalerweise einen der Minibusse und ging die restliche Strecke zu Fuß. Micaela war mit dem alten Fahrrad gekommen, das – wenn es nicht gerade kaputt war – von den Familienmitgliedern abwechselnd benutzt wurde. Sie trug knappe weiße Shorts und ein hellblaues T-Shirt. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit ihren knapp 18 Jahren war sie eine hübsche junge Frau, nach der sich die Männer in Maputo umschauten. Sie fuhren zusammen auf dem Fahrrad nach Hause, er auf dem abgenutzten Sattel, sie im Damensitz auf dem Gepäckträger.

“Eine hübsche Schwester hast du, Saidi”, sagte Kutschinski am nächsten Morgen. “Was macht sie? Geht sie noch zur Schule ?”

“Nein, sie arbeitet im Hotel Pestama Ruvama in der Rua da Se. In der Wäscherei.”

Später erfuhr er, wie sich Kutschinski an Micaela herangemacht hatte. Er hatte ihr in der Nähe des Hotels aufgelauert und ihr – wie auch zuvor ihm - von den Chancen in der DDR erzählt.

Saidi hatte nie genau herausbekommen, wo Kutschinski seine Schwester in den folgenden Wochen getroffen hatte. Wahrscheinlich an Wochenenden, wenn Saidi meistens frei hatte und Kutschinski ohne - zumindest sichtbaren - Aufpasser war.

Micaela und Saidi verstanden sich sehr gut und hatten eigentlich keine großen Geheimnisse voreinander. Über romantische Themen oder gar Sex sprachen sie allerdings nie. Nur einmal, als sie an einem Sonntagabend spät, völlig verstört, verweint und mit zerrissenem T-Shirt nach Hause kam, stellte er sie zur Rede. Ihre Eltern schliefen bereits. Micaela ging sofort in den Hof, wo es eine Dusche gab, deren Wasser aus einer Zisterne kam, die das Regenwasser auffing, das sich tagsüber durch die Sonne aufwärmte. Sie wohnten in einem einfachen Holzhaus am Stadtrand. Dort, wo die kleineren Wohneinheiten beginnen. Aber noch vor den Schilfhütten der Armen in der Canhico-Stadt.

In ein großes weißes Badelaken gehüllt, das vom vielen Waschen an den Rändern ausgefranst war, hockte sie sich auf die Holzstufen, die von einer Art Veranda des Hauses in den Vorgarten führten. Sie sah schrecklich aus: Ihr Gesicht war verquollen, ihre nassen Haare standen nach allen Seiten und das Strahlen in ihrem Gesicht war einem Ausdruck von Leere gewichen. Sie hatte ihre Arme mit den Ellenbogen senkrecht nach unten über ihrer Brust verschränkt, und Saidi konnte im fahlen Licht der Verandabeleuchtung trotz ihrer braunen Haut die dunklen Blutergüsse auf ihren Oberarmen erkennen.

“Dein Boss ist eine Bestie,” sagte sie mit leiser Stimme. “Gerd Kutschinski ist ein Schwein”.

Saidi war geschockt. Eine unbeschreibliche Wut kam in ihm hoch. Er musste all seine Beherrschung aufbringen, um ruhig auf sie einzureden. Aber er wollte wissen, was geschehen war.

“Wir haben uns heute Abend in der Avenida Mao Tse Tung getroffen. Ecke Julius Nyere. Er lud mich zu einem Drink in die Aquarius Bar vom Polana Hotel ein. Ich dachte, er wollte mir mehr über das Leben in der DDR erzählen. Außerdem war ich noch nie in diesem tollen Hotel. Ich hab’ den ganzen Abend nur einen Caipirinha getrunken. Er hat dann tatsächlich von dem Leben in der DDR erzählt und von sich. Wie allein er in Maputo sei. Dann bot er mir an, mich nach Hause zu fahren. Er bog dann ab zur Baia und hielt am Strand. Keine Menschenseele ringsum. Er hielt sich nicht lange mit Vorreden auf und kam gleich zur Sache. Ich bat ihn aufzuhören. Ich wehrte mich mit allen meinen Kräften. Ich bettelte, ich schrie, ich weinte. Aber diese Sau ist stark. Hinterher befahl er mir, keinem etwas zu erzählen. Schon gar nicht etwa der Polizei. Anderenfalls, drohte er, würde ich es bereuen.”

In Saidis Kopf kamen viele Gedanken gleichzeitig zusammen. Was ist mit Micaela, was würde sie tun, wie würde sie mit diesem Horrorerlebnis fertig werden ? Was sollten sie ihren Eltern sagen. Oder vielmehr der Mutter. Der Vater würde histerisch reagieren und wenn er betrunken war – was in den letzten Jahren immer häufiger vorkam – anderen davon erzählen. Sollten sie zur Polizei gehen ? Sollte er jemandem in der DDR Botschaft sagen, was für ein Schwein Kutschinski ist ? Ein Verbrecher.

Sie schwiegen beide. Eine ganze Weile.

“Sag’ nichts,” hörte er Micaela ganz leise. “Gar nichts. Zu niemanden.”

“Spinnst du ? Wie stellst du dir dies vor ? Soll ich diese brutale Sau weiter chauffieren, als sei nichts geschehen ?”

“Bitte !”

Saidi war außer sich. Er glaubte fast, den Verstand zu verlieren. Als älterer Bruder hatte er sich immer als Beschützer seiner Schwester gesehen. Hatte er versagt ?

Er musste sich beruhigen. Klaren Kopf behalten.

Am nächsten Morgen war Sonntag. Gottseidank, er hatte frei. Zeit zum Nachdenken.

*

Obwohl es über 20 Jahre her ist, wühlte ihn die Erinnerung an diese Nacht mit seiner Schwester in Maputo immer noch auf. An Schlaf war jetzt nicht zu denken. Die Erinnerungen ließen ihn nicht los. An dem Sonntag war er trotz Wut und Rachegefühle nach quälenden Überlegungen zu dem Schluss gekommen, Micaelas Wunsch, überhaupt nichts zu unternehmen, zu respektieren. Kutschinski würde sowieso alles abstreiten. Er hatte außerdem Diplomatenstatus und konnte nicht belangt werden. Und er hatte gute Beziehungen zu den Behörden. Außerdem, wer hätte ihnen geglaubt. Sie hätten sich nur in Schwierigkeiten gebracht. Aber weiter für diesen Verbrecher arbeiten, konnte er nicht. Er konnte ihm nicht gegenübertreten, ohne seinem Drang, mit physischer Gewalt auf ihn loszugehen, nachzugeben. Er hatte sich daher an dem Montag krank gemeldet und war danach nie wieder dort hingegangen.

Er hatte damals darüber sinniert, wie er Kutschinski bestrafen konnte. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr rückte dies in den Hintergrund. Obwohl sich sein Hass auf den Ostdeutschen in seiner Brust keineswegs verringerte.

Micaela hatte sich zweifellos verändert. Sie war ernster geworden – und schweigsamer. Sie alberte kaum noch mit ihren Freundinnen herum. Aber sie ging zur Arbeit und schien okay.

Dann passierte Ende August etwas, das das Leben der Familie Calhoun zutiefst erschütterte. Saidi wird den Tag nie vergessen.

Sie standen an der Pforte vor dem Sandweg, der zur Veranda führte, und wollten Senhor Calhoun sprechen. Es war abends und Saidi war bereits von einem seiner Gelegenheitsjobs nach Hause gekommen. Er sah, wie sein Vater mit den beiden Polizisten ins Haus ging. Nach einer Weile kamen sie wieder heraus; sein Vater mit versteinertem Gesicht, dahinter seine Mutter laut weinend. Sie verschwanden alle in dem Polizeiwagen und fuhren weg, bevor Saidi etwas sagen konnte. Er war wie gelähmt. Er ahnte, dass etwas ganz Schlimmes passiert sein musste.

Als seine Eltern nach zwei Stunden zurückkamen, erfuhr er die schreckliche Wahrheit: Seine Schwester war in einem Zimmer des Hotels Southern Sun erschossen aufgefunden worden.

Viel später erhielten sie das Ergebnis der Obduktion: Micaela war im dritten Monat schwanger gewesen.

Die ersten Ermittlungen hatten ergeben, dass es kein Selbstmord war.

Saidi war geschockt. Tieftraurig und niedergeschlagen konnte er zunächst keinen klaren Gedanken fassen. Zugleich überkam ihn eine ungemeine Wut.

Die lokale Presse berichtete ausführlich über diesen Fall. Saidi ging jeden Tag zum Bahnhof , wo sich – wie in fast allen Bahnhöfen der großen Städte in der Welt – ein buntes Gemisch aus Einheimischen und Fremden tummelte. Auch im sozialistischen Maputo. Als architektonisches Juwel hatte der Bahnhof auf Fremde eine besondere Anziehungskraft und war beliebter Hintergrund für Erinnerungsfotos.

Meistens ging er gegen Mittag, um entweder ein Exemplar der Fim de Semana oder der Noticias zu ergattern, Zeitungen, die andere bereits gelesen und weggeworfen hatten. Er wollte alles wissen, was mit dem Tod seiner Schwester zu tun hatte.

Saidi las, dass Micaela mit einer PM-53, einer russischen Makarow Pistole getötet worden war. Er erfuhr weiter, dass dies eine Militärwaffe war, die über viele Jahrzehnte zur Standardausrüstung der Armeen in den sozialistischen Ländern gehörte.

‘Dann wurde diese Waffe auch von der NVA (Nationale Volksarmee) der DDR benutzt,’ kombinierte Saidi. Und Kutschinski war Major der NVA ! Das hatte der Ostdeutsche einmal drohend durchblicken lassen, als er Saidi befohlen hatte, über alles, was er hörte und sah zu schweigen.

Seine anfänglichen Vermutungen wurden jetzt zu einem konkreten Verdacht. Diesmal zögerte er keinen Augenblick, der Polizei von seinem Verdacht zu berichten.

Die Polizei war zunächst nicht bereit, Saidis Verdacht ernst zu nehmen und ihm nachzugehen. Das Verhältnis der Frelimo-Regierung und seiner Organe zu der Vertretung der Ostdeutschen durfte nicht getrübt werden. Zu sehr war das marxistische Regime auf die Unterstützung der DDR angewiesen, die neben der Sowjetunion der wichtigste Partner des Landes war. Da die Polizei aber keine anderen Anhaltspunkte hatte, war sie schließlich bereit, die Spur, auf die sie Saidi gesetzt hatte, zu verfolgen. Die Polizei hatte jedoch keine direkte Handhabe gegenüber Angehörigen diplomatischer Vertretungen und musste das Außenministerium einschalten.

Saidi und seine Eltern hörten einige Tage gar nichts bis die Polizei Saidi noch einmal ins Präsidium beorderte, um ihm weitere Fragen zu stellen. Dabei erfuhr er, dass Kutschinski offenbar nicht auffindbar war. Verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.

Die nächsten Wochen waren unerträglich. Seine Mutter weinte oft und sein Vater trank noch mehr als sonst. Saidi war tief aufgewühlt. Seine Schwester war tot. Er hatte einen Teil seiner Familie verloren. Einen Menschen, zu dem er ein enges, vertrauens- und liebevolles Verhältnis hatte. Unwiederbringlich. Und er war überzeugt, den Mörder zu kennen. Aber er war zur Tatenlosigkeit verdammt. Keine Chance, seine Schwester zu rächen oder diesen Verbrecher seiner Strafe zuzuführen. Saidi war der Verzweifelung nahe. In den folgenden Wochen reifte in ihm das Verlangen, alles hinter sich zu lassen. Er wollte weg, am liebsten nach Europa oder Amerika.

Saidi drehte sich von einer Seite auf die andere, vorsichtig, um Elvira nicht aufzuwecken. Wenn er heute daran dachte, wie er es geschafft hatte, aus Mosambik zu fliehen, erscheint es ihm wie in einem Film. Seine Kontakte zu den Drogenschmugglern aus Südafrika hatten ihm damals sehr geholfen. Man unterstützte ihn mit Geld, Transport und gelegentlich Unterkunft. Aber es dauerte fast eine Woche – entlang der Ostküste, dann westlich über Nelspruit und Witbank – bis er schließlich Pretoria erreichte, wo sich – wie er herausgefunden hatte - die US Botschaft in Südafrika befand.

Heute kam ihm alles so unwirklich vor: Wie er sich bei den Amerikanern als Flüchtling gemeldet, seine Story über Bürgerkrieg, die Repressalien in Mosambik etwas aufgemotzt hatte und viele Fragen beantworten musste – überwiegend zu seinem Job bei der DDR Botschaft in Maputo. Er war damals 25 Jahre alt und machte offensichtlich einen vertrauenswürdigen Eindruck. Die politischen Verhältnisse in Mosambik waren zwar gerade im Wandel begriffen, sie waren aber immer noch geprägt von dem Einfluss des Sowjetblocks. Saidis Antrag auf Anerkennung als Refugee wurde daher ohne große Schwierigkeiten bearbeitet.

Es dauerte einige Wochen, in denen er in einem einfachen Hotel auf Kosten der US Botschaft untergebracht war, bis er nach New York ausgeflogen wurde. Alles arrangiert von der International Organisation for Migration (IOM) mit späterer Rückzahlungsverpflichtung.

Er wird nie vergessen, von welchen Gefühlen er bei seiner Ankunft in Amerika überwältigt wurde: Einerseits dieses Hochgefühl, im ‘Traumland’ USA gelandet zu sein, wo für ihn ein neues Leben beginnen würde. Andererseits eine gewisse Traurigkeit, alles hinter sich gelassen zu haben: Seine Eltern, seine Freunde, seine Heimat, in der er aufgewachsen war .

Ein Vertreter der USCRI Albany hatte ihn am JFK-Flughafen in Empfang genommen. Es folgten Wochen, in denen er mit Umsiedlungs- und Integrationsorganisationen zu tun hatte, mit viel Bürokratie.

Ein leises Brummen ertönte. Elviras Wecker.

“Liebling, du brauchst nicht zu schleichen. Ich bin wach und stehe mit dir auf.”

“Was ist denn mit dir los, sonst schläfst du doch wie ein Bär um diese Zeit. Was hast du, Alter ?” Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf ein Augenlid.

“Die Erinnerungen an früher. Ich habe die ganze Zeit daran gedacht. Ich erzähl dir später.”

“Lasst uns heute Abend darüber reden. Aber grüble nicht so viel über die Vergangenheit.” Sie verschwand im Badezimmer und drehte die ziemlich geräuschvolle Dusche auf. Daher konnte er auch nicht hören, was sie noch sagte: ‘Uns geht es doch gut.’

Als Elvira gegangen war und etwas später auch die Kinder, wollte Saidi sich wieder hinlegen. Zuvor musste er aber seine Gedanken ordnen. Kutschinski ! Er lebt ! In New York ! Unter einem anderen Namen, und offensichtlich lebte er nicht schlecht. Wie oft hatte er sich ausgemalt, was er mit ihm machen würde, wenn er ihm begegnen sollte. Ein qualvolles Ende hatte er ihm gewünscht. Doch jetzt, nach so vielen Jahren waren Hass und Rachegefühl abgeebbt.

Aber etwas musste geschehen. Er sollte zahlen ! Und nicht zu knapp. Warum sollten Saidis Kinder eines Tages nicht aufs College gehen und vielleicht einen Universitätsabschluss machen können ? Kutschinski wird zahlen, der hat bestimmt genug Cash – und keine andere Wahl. Anderenfalls würde Saidi ihn hochgehen lassen.

Es kam ihm nicht in den Sinn, dass er sich mit seinem Ansinnen strafbar machen würde. Vielmehr war er davon überzeugt, dass sein Plan lediglich ein kleiner gerechter Ausgleich wäre für den Schmerz, den dieser Mann ihm und seiner Familie zugefügt hatte.

Er musste sehen, wie und wo er ihn erreichen konnte. Er würde heute, bevor er seine Schicht antrat, zur Pine Street fahren, wo er Kutschinski und den anderen an dem ehrwürdigen Bürogebäude abgesetzt hatte. Er würde den Pförtner in der Lobby fragen, wer die beiden waren, die um kurz nach sechs am Empfang registriert wurden. Er würde vorgeben, dass sie ein Schlüsselbund in seinem Taxi vergessen hätten, das er ihnen gerne zurückbringen wollte. Ja, das würde er tun. Und dann würde er Kutschinski, oder wie er jetzt hieß, auf die Pelle rücken.

Sobald er den Namen und gegebenenfalls seine Firmenzugehörigkeit in Erfahrung gebracht hatte, würde er sich noch einmal vergewissern, um ganz sicher zu gehen. Sie hatten sich vor einem Jahr einen Computer angeschafft. Sowohl Elvira als auch er waren von ihren Arbeitgebern dazu ermuntert worden, und die Kinder hatten auch schon eine zeitlang gedrängelt, insbesondere Jazmin. Über die Schule und der öffentlichen Bibliothek in ihrer Nähe hatten sie zwar regelmäßig Zugang zu Computern, aber zuhause war es natürlich weitaus bequemer. Kutschinski würde unter seinem neuen Namen bestimmt im Netz zu finden sein. Er würde dort nach einem Lebenslauf und vor allem nach Fotos suchen.

Mit diesem Entschluß ging er ins Schlafzimmer, schloss die Jalousien, zog die Fenstervorhänge zu und legte er sich wieder hin. Es dauerte noch eine Weile, bis er schließlich in einen etwas unruhigen Schlaf verfiel.

*

Es war gar nicht so einfach gewesen. Der Pförtner in der Pine Street hatte sich nicht sehr zugänglich gezeigt. Die Männer und Frauen, die am Empfang in den Lobbies der großen Bürogebäude arbeiteten, waren alle Angestellte von Sicherheitsfirmen. Und das nicht erst seit September Eleven. Und die hatten natürlich ihre strengen Vorschriften.

“Ich darf keine Namen weitergeben.”

“Aber wie kann ich den Herren denn das Schlüsselbund wiedergeben, das sie in meinem Taxi verloren haben ?”

“Sie können es hier deponieren und darauf hoffen, dass jemand nachfragt, ob wir ein Schlüsselbund gefunden haben.”

Saidi gab nicht so schnell auf: “Warum sollten die sich ausgerechnet hier melden. Die Herren waren vermutlich gestern an verschiedenen Orten und haben mehr als einmal ein Taxi benutzt.”

Ein zweiter Pförtner, der die ganze Zeit neben seinem Kollegen gestanden und das Gespräch mit angehört hatte, schaltete sich jetzt ein.

“Wann war das gestern ?” Saidi schöpfte Hoffnung.

“Ich erinnere mich genau. Es war kurz nach 18 Uhr.”

Der Pförtner , der gefragt hatte, gehörte, wie Saidi, zu den Minorities, wie man hier die Gruppe der Afroamerikaner, der Asiaten, der Latinos, und anderer Dunkelhäutiger bezeichnete. Er schien Saidi helfen zu wollen und hatte augenscheinlich Sympatien mit dem Taxifahrer, der ohne die gewünschte Information vermutlich um ein stattliches Trinkgeld kommen würde. Er ging an seinen Computer und bewegte die Maus.

“Um die Zeit kommen nicht mehr viele. Die meisten verlassen dann das Gebäude. Die zwei, die ich hier habe,” er schaute dabei auf seinen Bildschirm, “sind hier an der Wall Street ziemlich bekannt, besonders der Eine.”

“Gut, dann verraten Sie ja kein großes Geheimnis, wenn Sie mir deren Namen geben,” sagte Saidi und lächelte den Pförtner kumpelhaft an.

“Wissen Sie was ? Ich gebe Ihnen den Firmennamen. Das ist alles.”

“Okay.”

“Engelhard Capital Group.”

“Besten Dank !”

Wieder auf der Straße überlegte er und schaute auf seine Uhr. Elvira würde nach ihrer Frühschicht die Kinder gegen 15 Uhr von der Schule abholen. Bis zum Beginn seiner Schicht hatte Saidi noch viel Zeit. Im Moment wollte er Elvira nicht einweihen. Jetzt noch nicht. Sie würde sich Sorgen machen und versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er würde daher seine Nachforschung nicht an ihrem Computer zuhause anstellen, sondern zu seinem Kumpel gehen, einem Brasilianer, der in Astoria einen Copy-Laden betrieb. Er kannte Lucas schon lange. Immer wenn er Fotokopien brauchte, ging er zu ihm. Sie unterhielten sich dann auf Portugiesisch. Lucas hatte neben den zwei Kopiergeräten auch drei Computer aufgestellt, die seine Kunden gegen Gebühr benutzen konnten. In der Gegend gab es viele Menschen aus allen Teilen der Welt, die keinen eigenen Computer besaßen und zunehmend darauf angewiesen waren, online zu gehen, sei es, einen Job zu finden, sei es, irgend etwas billig zu erwerben. Daher florierte das Geschäft des Brasilianers recht gut.

‘Engelhard Capital Group’ hatte der Pförtner gesagt. Und, wenn die Männer bekannt waren, musste es sich um Personen aus dem Topmanagement handeln. Saidi brauchte dann nur noch nach einem Lars zu suchen. So wurde sein Fahrgast von dem anderen genannt.

Tatsächlich, Saidi konnte mit drei Klicks die Webseite von Engelhard Capital aufrufen. Lars Bergstraesser stand da unter CEO. Er war also der Boss der Firma. Mit Bild. Das Bild hätte er gerne vergrößert. Er wusste aber nicht mehr genau, wie das ging. Und Lucas wollte er nicht fragen. Es ging Niemanden etwas an, wonach er suchte. Das Wenige, das er auf dem Computer machen konnte, hatte er von Jazmin gelernt. Er hatte ihr auch schon einmal über die Schulter geschaut, als sie Fotos ihrer Eltern und ihres Bruders vergrößert und Bilder ihrer Idole aus der Popszene gezoomt hatte. Saidi probierte es. Nach diversen Klicks und erratischem Geschiebe mit der Maus gelang es ihm schließlich, das Bild des CEO von Engelhard Capital Group auf drittel Bildschirmgröße zu bringen. Selbst die ein-Quarter-große Narbe unterhalb seines linken Ohres war jetzt deutlich zu erkennen. Es gab keinen Zweifel. Lars Bergstraesser war Gerd Kutschinski, der Mann aus Maputo, den er hasste.

519 Park Avenue

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