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Kapitel 1

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Er war zu früh gekommen, viel zu früh, ganze fünfzehn Minuten. Er hatte sich verrechnet, hatte eine U-Bahn zu früh genommen, den Weg von der Station bis zu ihrem Haus länger kalkuliert. Jetzt stand er auf der Straße, war nervös, das Warten regte ihn auf. Ruhelos schaute er um sich. Es war ein schönes Haus, in das er gleich zum zweiten Mal hineingehen wollte. Ein Haus mit einem ausladenden Vordach, von einem sachkundig gepflegten Garten eingerahmt. Zwei Stockwerke war es hoch, dem Baustil nach musste es aus der Zeit um 1910 stammen; es war gut erhalten. Man sah ihm an, dass der Besitzer offensichtlich ein Gespür für das Kleinod besaß, das er bewohnte. Die über 100 Jahre alten Fensterläden waren frisch lackiert, hier und da konnte man sehen, dass das wahrscheinlich durch den Zahn der Zeit gerissene Holz gegen frisches ausgetauscht worden war. Sorgfältig war das Haus verputzt, an keiner Stelle war der Putz rissig, an keiner Stelle sah man die hässlichen Streifen an der Wand, die der Regen im Laufe der Zeit unweigerlich hinterließ. Das Dach wölbte sich schützend über die Vorderfront, vom Ganzen ging etwas Solides, Vertrauenswürdiges aus. Wenigstens das, dachte er in seiner Ungeduld.

Er sah sich weiter um und bemerkte, dass sich weitere Personen in der kleinen Nebenstraße aufhielten, die nervös hin- und hergingen, scheinbar ohne ein erkennbares Ziel. Was machen die denn hier, fragte er sich und musterte jeden misstrauisch, zwei Männer und zwei Frauen, alle rauchten hastig und mit kurzen Zügen Zigaretten. Sie schienen sich gegenseitig nicht zu kennen. Jedes Mal, wenn sie sich hätten in die Augen sehen können, huschten ihre Blicke sofort zur Seite, als wollten sie nicht erkannt werden. Immerhin hatte er einen Vorteil, er stand etwas verdeckt hinter einer Staude und war so vor den Blicken der anderen in gewisser Weise geschützt. Irgendwie war ihm klar, dass das die anderen Teilnehmer der Gruppe sein mussten.

Er war bereits in dem Haus gewesen, zum Erstgespräch. Nach einem Telefonanruf hatte ihm die Therapeutin einen Termin angeboten, den er dann auch sofort wahrnehmen konnte. Sie war eine etwa 55-jährige Frau gewesen, eine stattliche, imposante Erscheinung, auf den ersten Blick hoch sympathisch. Das Alter spielte für ihn eine Rolle, sie musste älter sein als er. Das gab seiner Fantasie Nahrung, dass sie sich im Laufe der Zeit eine große berufliche Kompetenz hatte aneignen können, und dass sie über eine beachtliche Lebenserfahrung verfügte. Er wollte schließlich nicht zu irgendjemandem gehen, sein Problem setzte ein starkes und souveränes Gegenüber voraus. Ein weitläufiger Freund hatte ihm die Adresse gegeben, nachdem er diesen nach mehreren Anläufen nach dem Namen eines guten Therapeuten gefragt hatte, wer gibt schon gerne zu, dass er einen Therapeuten braucht. Der Freund hatte in höchsten Tönen von ihr geschwärmt, sie habe bereits einige hervorragende Artikel und Bücher veröffentlicht, die in der psychoanalytischen Gemeinschaft allgemeine Anerkennung gefunden hätten. Er hatte sich daraufhin eines ihrer Bücher besorgt und es mit großer Neugierde geradezu verschlungen. »Marlen Folkert - Psychotraumatologie und Realitätsverzerrung – Zur Genese autoaggressiver Traumaverarbeitung« lautete der Titel, nicht alles hatte er verstanden, doch legte er es ausgelesen mit einem guten Gefühl beiseite. Mit großer Zufriedenheit sah er die Empfehlung des Freundes bestätigt. Und obgleich er die ganze Zeit über, seit seinem Entschluss sich einer Therapie zu unterziehen, zwischen einer Einzel- und einer Gruppenbehandlung schwankte, war nunmehr seine Entscheidung gefallen, er wollte zu dieser Therapeutin, und wenn er nur zu ihr gehen konnte im Rahmen einer Gruppentherapie, nun sei’s drum, dachte er sich, dann eben Gruppe. Für einen Einzeltherapieplatz hätte er bei Frau Folkert noch über ein Jahr warten müssen und er hatte sowieso schon zu lange gewartet, die Beschäftigung mit seinem Problem und eine mögliche Lösung duldeten keinen Aufschub mehr.

Bei der Begrüßung vor einem Monat irritierte ihn, dass sie ihm nicht nur wie üblich die Hand gab, sondern auch eine leichte Verbeugung vornahm, die ihn im ersten Moment befremdete, haftete ihr doch etwas Serviles an. Schließlich war er ja der Klient und sie die Therapeutin. Doch dieser Eindruck verflog im Laufe des Gespräches, das ihm in äußerst angenehmer Erinnerung blieb. Er saß mit ihr in dem großen Raum, in dem auch später die Gruppentherapie stattfinden sollte. In der Mitte stand ein großer runder Tisch aus rötlichem Holz und einer feinen Maserung, rund um ihn elf Stühle, deren Holz eine ähnliche Struktur aufwies. An einer Seite des Raumes befand sich ein Erker mit drei großen Fenstern, die den Blick auf den Garten freigaben: eine gelungene Mischung aus Wildnis und Kultur, die zum verweilenden Schauen einlud. Einen kurzen Moment lang war er sich nicht sicher, ob der Blick auf das Grün nicht zu sehr vom Geschehen ablenken oder benutzt werden könnte, um sich aus dem Geschehen innerhalb des Raumes auszuklinken. Doch verwarf er diesen Gedanken schnell wieder, weil die Gruppensitzungen ja abends stattfinden würden und er jetzt am Nachmittag in dem einladenden Raum saß. Er fühlte sich mit der Therapeutin sofort wohl, hatte den Eindruck, dass sie die richtigen Fragen an der richtigen Stelle stellte und fühlte sich verstanden. Seine Entscheidung war rasch und eindeutig, dies war seine künftige Therapeutin. Auch sie konnte sich eine gute Zusammenarbeit mit ihm vorstellen, klärte noch kurz Fragen des Settings, des Vorgehens und der Honorierung mit ihm und verabschiedete sich wiederum mit Händedruck und einer Verbeugung von ihm. Er verließ das Haus, in der Manteltasche ein Terminkärtchen mit dem Datum der ersten Sitzung. Er steckte die Hand in die Tasche, umfasste das Kärtchen – es fühlte sich gut an. Weniger gut fühlte sich an, dass er der Therapeutin nur einen Teil seines Problems offengelegt hatte und er nicht genau wusste, warum er so vorgegangen war. Hatte sie doch den Eindruck erweckt, er könne ihr alles anvertrauen. Und es war ja auch in ihrem Buch gestanden, dass einer der Techniken der Therapie darin bestand, dass man ungefiltert alles sagen dürfe, ja sogar solle, was einem in den Sinn komme. Er tröstete sich damit, dass es wahrscheinlich nicht nur ihm so gehe, dass ein Erstgespräch von 50-minütiger Dauer sowieso zu kurz sei, um alles zur Sprache zu bringen und mit allerlei weiteren Erklärungen, deren Glaubwürdigkeit ihm jedoch schon im Entstehen schal vorkam. Nun gut, er nahm sich vor, wenigstens während der Gruppensitzungen offen zu sein.

Er nahm seine Zigarettenschachtel aus der Tasche, mit dem Feuerzeug hatte er sowieso die ganze Zeit über herumgespielt, wollte noch eine rauchen, um seiner Nervosität Herr zu werden, gab dieses Vorhaben jedoch nach einem kurzen Blick auf die Uhr auf, es war gleich 18 Uhr 30 und er wollte pünktlich zum Gruppenbeginn erscheinen. Eine Frau lief von hinten dicht an ihm vorbei, rempelte ihn beinahe an, er musste zur Seite ausweichen, sie überquerte die Straße und ging mit energischen Schritten auf das Haus von Frau Folkert zu. Das schien also eine weitere Klientin zu sein. Hochgewachsen mit kurzen dunklen Haaren und von durchaus angenehmen Äußeren. Er beneidete sie um die Entschlossenheit, die sie umgab, aber vielleicht war sie ja nur scheinbar, vielleicht war es das, was in dem Buch Übersprungshandlung genannt wurde – eine Handlung, die in sich keinen Sinn trug sondern nur der Abfuhr unangenehmer Gefühle diente. Für einen kurzen Moment war er geneigt, dies als Schwäche auszulegen, entsann sich jedoch, dass er selber noch ein halbe Minute zuvor eine Zigarette rauchen wollte, um seiner Nervosität Herr zu werden; er lächelte. Nach und nach gingen auch die anderen Personen, die er richtigerweise als seine zukünftigen Gruppenmitglieder identifiziert hatte, auf das Haus zu, klingelten und wurden von einer Person, die er in der Dämmerung nur ungenau als Frau Folkert ausmachen konnte, eingelassen. Er schaute erneut auf die Uhr: 18 Uhr 29, sein Puls schnellte nach oben, er atmete schwerer, jetzt musste er sich sputen, und trotzdem war ihm flau im Magen vor seiner ersten Gruppensitzung. Er wollte die Zigarettenschachtel in seine Manteltasche schieben, verfehlte diese zweimal, einmal fiel ihm sogar die Schachtel herunter, er war in Sorge, ob ein zufälliger Passant seine Ungeschicklichkeit und die darin verborgene Nervosität bemerkte, geriet unter einen selbst erzeugten Zeitdruck, wollte auf die Minute pünktlich sein, als ob das eine große Rolle spielte, konnte schließlich auch das Feuerzeug irgendwie in seine andere Manteltasche bugsieren. Er überquerte die Straße, ging ebenfalls durch den kleinen Vorgarten, stieg die drei Stufen zur Haustür hoch und klingelte. Der Klingelknopf gefiel ihm schon beim ersten Mal und jetzt erneut und seltsamerweise beruhigte sein Anblick ihn. Er erinnerte ihn an die Klingeln venezianischer Haustüren. Ein runde Messingplatte, etwa fünf Zentimeter im Durchmesser, in der Mitte stark nach innen gewölbt und in der Mitte dieser konkaven Form ein Knopf, ebenfalls aus Messing. Dies konnte nur bedeuten, dass Frau Folkert oder der Besitzer dieses Hauses ebenfalls nicht nur in Venedig gewesen sein musste, sondern auch genau diese Art von Klingeln faszinierend gefunden hatte; solche Klingeln konnte man hier nicht kaufen, sie war offenbar aus Venedig mitgebracht worden. Er drückte den Knopf, hörte das Läuten im Haus und kurz darauf öffnete Frau Folkert die Tür, gab ihm die Hand und bat ihn mit der bereits bekannten servilen Geste zur Garderobe. Er legte seinen Mantel ab und betrat mit angehaltenem Atem und niedergeschlagenem Blick den Gruppenraum, den Weg kannte er ja schon. Da er als Letzter kam, musste er einen der beiden noch frei gebliebenen Stühle nehmen und sich neben die Dunkelhaarige setzen; er war froh, dass er sich schnell hinsetzen konnte, nicht in die Runde schauen und dann entscheiden musste, neben wem er Platz nehmen wollte. Auch Frau Folkert setzte sich, instinktiv hatte er erkannt, dass der andere frei gebliebene Stuhl der ihre war.

Stille, Stille, Stille, man hörte kaum das Atmen der einzeln Personen im Raum, jeder wartete, worauf, war nicht ganz auszumachen, aber sie warteten, Stille, Stille, Stille. Als sie unerträglich zu werden schien, eröffnete die Therapeutin die Sitzung: »Guten Abend, meine Damen und Herren, ich heiße sie alle herzlich willkommen zu unserer ersten Gruppensitzung, die von nun an jeden Dienstag für die nächsten drei Jahre um 18 Uhr 30 beginnen wird. Die Regeln für die Sitzung habe ich ihnen ja schon im Erstgespräch erläutert und ich denke, wir sollten gleich beginnen. Ich vermute, dass sie alle mit sehr gemischten Gefühlen hier sitzen, ich schlage vor, dass wir mit einer kleinen Runde beginnen, jeder stellt sich kurz vor und sagt auch ein paar Worte dazu, warum er hier ist.«

Wiederum Stille, nach einer Weile eröffnete die Dunkelhaarige neben ihm die Runde. Erst unsicher und dann mit immer fester werdenden Stimme sagte sie: »Mein Name ist Daniela (Gruppenregel war, dass man sich beim Vornamen nannte), ich bin Lehrerin und mein Problem« und hier zögerte sie etwas, »mein Problem ist, dass ich mir Haare ausreiße.« Übersprung oder Mut, ging es ihm durch den Kopf. Die neun Augenpaare der anderen Gruppenteilnehmer blickten sie erstaunt an und schienen auszudrücken: Das soll ein Problem sein? Doch bei genauem Hinsehen konnte man durchaus erkennen, dass ihr Haarwuchs sehr dünn war, dass an etlichen Stellen die Kopfhaut durchschien, und dass jedes weitere ausgerissene Haar das Verhältnis zwischen Behaarung und Kopfhaut in einer Art und Weise verändert hätte, bei dem sie langfristig über die Anschaffung einer Perücke hätte nachdenken müssen. Aber was wollte sie mit einem solchem Problem hier, schoss es einigen durch den Kopf, damit geht man zum Friseur. Natürlich sagte keiner, was er dachte, immerhin hatte Daniela den Mut besessen zu beginnen und man konnte einfach davon ausgehen, dass Frau Folkert schon wusste, warum sie sie in die Gruppe aufgenommen hatte. Nachdem das Eis gebrochen war, ging es dann Schlag auf Schlag: Erich, der Werbekaufmann berichtete von seiner Herzneurose und seinem Doktorhopping, Uwe von seiner Depression und seinem Traum von einem eigenen Restaurant, Robert davon, dass er in Frauenkleidern onanierte, Judith von ihrem Bruderinzest, Gustav von seinem unerfüllten Kinderwunsch und seiner Zeugungsunfähigkeit, Sigrid davon, dass sie immer an die falschen Männer geriet, Waltraud von ihrer unermesslichen Unzufriedenheit mit sich und ihrem Leben und ihren Suizidfantasien, Brigitte von ihren Abtreibungen und dem Missbrauch durch ihren Onkel. Und dann kam die Reihe an ihn.

Er holte tief Luft: »Mein Name ist Michael, ich bin Architekt, 35 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Ich bin hier, weil ich seit einem halben Jahr schlecht schlafen kann, ich habe entsetzliche Albträume und meine Arbeit leidet sehr darunter.« Neun Augenpaare schauten ihn nun genauso erstaunt wie zuvor Daniela an, und er las in ihnen, dass das doch nun kein wirkliches Problem sei, dafür besorge man sich Schlaftabletten und dann sei die Welt wieder in Ordnung. Ihm war vollends bewusst, dass seine Unterstellung nur Ausdruck seines schlechten Gewissens war, er hatte erneut nur den unwesentlichen Teil seines Problems genannt und war somit seinem nach dem Erstgespräch gefassten Entschluss untreu geworden.

Daniela schaute ihn von der Seite an, nahm sichtlich all ihren Mut zusammen und sagte deutlich vernehmbar: »Das glaube ich dir nicht, ich glaube dir nicht, dass das dein Problem ist, ich glaube, du verschweigst uns etwas.«

Die Therapeutin hielt für einen kurzen Moment den Atem an und überlegte, wie sie jetzt vorgehen könnte. Es war die erste Sitzung, es war immer noch die Vorstellungsrunde, sie wollte jetzt noch keine Konfrontation zwischen den Teilnehmern, das schien ihr zu früh. Diese mussten ja sich erst untereinander kennenlernen, Vertrauen zueinander fassen, der Boden schien ihr für Danielas provokative Frage noch nicht bereitet, auch wenn ihr ihre Frage Respekt abnötigte, hatte sie doch den gleichen Eindruck. »Ich glaube, wir lassen das mal so stehen«, sagte sie, schaute zu Michael und Daniela hin, wie um sich zu vergewissern, ob beide ihre Intervention billigten, und bemerkte, dass beide mit einem leichten Nicken ihre Zustimmung zu erteilen schienen. Michael war in höchstem Maße erleichtert, ja geradezu dankbar für das Eingreifen von Frau Folkert, hatte sie ihn doch vor einer Bloßstellung bewahrt. Er wusste schließlich, worin die Ursache seiner Probleme bestand, von denen die Albträume und die Schlaflosigkeit nur den geringsten Teil ausmachten. Er war müde geworden, sich immer wieder damit zu konfrontieren, über fünf Jahre ging das nun schon und er sah keinen Ausweg, war sogar der festen Überzeugung, dass es gar keinen gab, solange er auch suchen mochte. Die Gruppe hatte seine Hoffnung noch einmal aufflackern lassen, zumal Sandra, seine Frau, ihn nicht nur dazu ermuntert sondern ihm auch gedroht hatte, sie würde ihn verlassen, wenn er nicht endlich etwas für sich täte. Es fiel ihm schwer, ihrer Drohung einen ernsthaften Charakter zu unterstellen, gleichwohl spürte er die ihr zugrunde Hilflosigkeit und die daraus resultierende ohnmächtige Wut.

Er hatte immer lächeln müssen über die reißerischen Klappentexte auf Büchern: Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, wird in Ihrem Leben nichts mehr so sein wie vorher! Doch genauso war es bei ihm gekommen. Fünf lange Jahre lag das Ereignis nun zurück, das sein Leben radikal und unumkehrbar verändert hatte.

»Wir sind außerdem am Ende der heutigen Sitzung angekommen, ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen und für Ihre Offenheit. Wir sehen uns dann nächsten Dienstag« schloss Frau Folkert die Sitzung.

Die Schuld

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