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Kapitel 2

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In der Bahn ließ er die Sitzung Revue passieren: Die Therapeutin verhielt sich so, wie er es erwartet hatte, souverän und nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Teilnehmer waren alle sympathisch, Daniela trotz ihres Einwurfes sogar besonders. Gute Ausgangsbedingungen also, sagte er sich, wenn auch nicht besonders überzeugt von seinem vorläufigen Resümee.

»Na, wie war’s?«, fragte Sandra ihn, als er die Wohnung betreten hatte. Sie hatte ihn kommen hören und stand im Flur vor ihm, trug den hellen Pullover mit den aufgenähten braunen Lederflecken an beiden Ellenbogen und ihre Lieblingsjeans. Sie hatte schulterlanges, glattes blondes Haar, das trotz ihres Alters schon mit grauen Strähnen durchsetzt war. Sie weigerte sich, die eindringlichen Ratschläge aller ihrer Freundinnen anzunehmen, sich die Haare zu färben. Wenn sie in den Spiegel schaute, dann sah sie – und dieser Eindruck verstärkte sich noch durch ihre braune Hornbrille – eine 34-jährige Frau, die weise aussah, eben weil sie sich die Haare nicht färben ließ. Im Großen und Ganzen gefiel sie sich, auch wenn sie fand, dass ihr Becken durch die Geburt der Zwillinge etwas zu sehr in die Breite gegangen sei.

Er brummelte ein ok und ging sofort in sein Arbeitszimmer. Er wollte alleine sein und war froh darüber, dass die Zwillinge offensichtlich schon im Bett lagen, denn sonst hätten sie ihn wie gewohnt an der Tür abgefangen. Doch sie kam hinter ihm her, stellte sich in die Tür: »Ein paar Takte mehr könntest du ja schon sagen, sei doch nicht so mundfaul, ich möchte doch schließlich wissen, ob dir die Gruppe helfen könnte.«

In diesem Augenblick ging sie ihm auf die Nerven, aber eigentlich, so musste er sich eingesehen, ging sie ihm schon lange auf die Nerven, schon sehr lange. Ihre Drohung, sie könne die Beziehung aufkündigen, hatte nicht wirklich Eindruck auf ihn gemacht, hatte er doch immer wieder selbst darüber nachgedacht. Bisher war er mit solchen Überlegungen jedoch immer wieder an der gleichen Stelle gelandet: Er wollte den Kindern die Sicherheit einer Familie geben und das verunmöglichte aus seiner Sicht eine Trennung.

»Das kann ich doch jetzt noch gar nicht sagen, das ist doch viel zu früh. Könnte sein, könnte aber auch nicht, ich weiß es schlichtweg nicht. Die Therapeutin ist nett und die anderen auch, das kann ich sagen. Und jetzt wäre ich dir dankbar, wenn du die Tür hinter dir schließen könntest. Ich muss noch arbeiten.«

Dies war zu einem formelhaften und stereotyp wiederholten Argument geworden, beide wussten, dass er damit zum Ausdruck brachte, ungestört sein zu wollen. Manchmal musste er tatsächlich noch arbeiten, er war freiberuflicher Architekt, in der Regel saß er jedoch seit langer Zeit einfach an seinem Schreibtisch, die Beine hochgelegt, brütete vor sich hin und starrte Löcher in die Luft. Das Leben kam ihm seit dem Unfall sinnlos und entleert vor.

Sandra schloss wütend die Tür. Er legte seine Beine auf den Tisch, schloss die Augen und wollte anfangen nachzudenken. Kaum jedoch hatten sich seine Lider gesenkt, als wiederum deutlich, wie auf einer Kinoleinwand, das Bild der toten Frau vor ihm auftauchte. Er stöhnte auf, ärgerte sich, dass ihm noch nicht einmal mehr möglich schien, sich wie jeder andere Mensch entspannt zurückzulehnen und seinen Gedanken nachzuhängen. Nein, fast jedes Mal tauchte das Bild der Frau auf, wie sie mit verdrehtem Körper, mit zerrissenem Kleid und blutverschmiert vor ihm lag. Er konnte nie vorhersagen, wann das geschehen würde, er konnte jedoch darauf wetten, dass es passieren würde. Manchmal wurde er eine Woche lang von dem Bild verschont, immer wieder gab er sich wider besseres Wissen der Hoffnung hin, er sei nun frei von diesem Tag-Albtraum. Doch so, als wollte das Schicksal ihm Hohn sprechen und ihm seine Schuld immer wieder vor Augen führen (wobei es in diesem Falle angemessener wäre, von geschlossen Augen zu reden), baute sich das Bild der toten Frau in das orange flimmernde Dunkel hinein auf, das entsteht, wenn man ins Licht blickend die Augen schließt.

Er musste sich ablenken, das hatte zumindest bisher immer geholfen. Er schaltete den Computer ein, wartete, bis er hochgefahren war und gab in seinem Browser die Adresse einer kostenlosen Pornoseite ein, die ihm ein Bekannter vor geraumer Zeit ohne Aufforderung seinerseits gegeben hatte. Er hatte sie lediglich beiläufig zur Kenntnis genommen, so getan als sei er nur mäßig interessiert und wenn überhaupt nur aus Neugierde, was es so in der digitalen Welt alles an Vielfalt gäbe, wollte er doch auf keinen Fall als jemand gelten, der Besucher eben solcher Seiten war. Gleichwohl war die Seite zur - wenn auch nur oberflächlichen - Rettung seines Seelenfriedens geworden. Er wartete, bis sie vollständig geladen war und das heutige Datum auf dem Bildschirm erschien. Darunter befand sich eine Auswahl von rund zwölf sich verändernden Bildchen, die wie eine Vorschau wirken sollten und die durch einen Klick auf sie die durch einen Link verbundenen kleinformatigen Filme freigaben. Sowohl die Bilder als auch die Filme waren von äußerst schlechter Qualität, sowohl was die technische Umsetzung der privaten Videos anlangte als auch deren Inhalt. Die Filme flimmerten, waren pixelig und zeigten die, für das zur Reduktion der Datenmenge angewandte Verfahren, typischen flächigen Strukturen anstelle von Details. Es waren allesamt private pornografische Filme, die von x-beliebigen Menschen ins Internet gestellt wurden, die offensichtlich Befriedigung in der Vorstellung fanden, dass Millionen von anderen Menschen ihnen beim Sexualakt in allen Variationen zuschauen konnten.

Michael hatte herausgefunden, dass die Filme ihn in gewisser Weise beruhigten, obwohl er sie sich immer mit ambivalenten Gefühlen ansah. Er schämte sich, fühlte sich oft wie ein kleiner Junge, der erwartete, dass er von seiner Mutter für sein heimliches und unerlaubtes Tun bestraft würde. Er schämte sich, dass er das Gefühl hatte, das nötig zu haben, ohne spezifizieren zu können, worin dieses das eigentlich bestand und er schämte sich vor Sandra, hatten sie doch seit dem Unfall kaum noch miteinander geschlafen, er hatte sich von ihr zurückgezogen, nicht nur sexuell.

Heute Abend jedoch verschafften ihm die Filme nicht die erhoffte Zerstreuung, er fand sie einfach schal, er blätterte ein paar Seiten vor und zurück, aber auch hier fand er nichts, das sein Interesse im doppelten Wortsinne hätte erregen können. Er sah nur noch in allerlei zum Teil groteske Posen ineinander verschlungene Leiber und das erhoffte angenehm sexuell getönte Gefühl blieb aus. Er war irritiert, bislang hatte das doch immer geklappt. Er sah sich ein paar Filme an, onanierte in der Regel, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Sandra schon zu Bett gegangen war, ihn also nicht überraschen konnte. Doch heute Abend kam ihm das alles schal und abgestanden vor. Verärgert und enttäuscht setzte er die Maus auf die obere rechte Ecke des Browserfensters und schloss es. Zu seiner Überraschung öffnet sich nach kurzer Zeit das Fenster seines Textverarbeitungsprogramms, er musste unbeabsichtigt auf den Button zum Starten gekommen sein. Er starrte auf den weißen Bildschirm, gedanken- und ziellos, minutenlang. Eine seltsame Ruhe hatte ihn überkommen, er fühlte nicht den Drang irgendetwas tun zu müssen, das Bedürfnis sich abzulenken schien verschwunden zu sein. Er saß einfach nur da und starrte weiterhin den Bildschirm an.

Er fing an zu schreiben, zunächst drückte er ein paar Tasten, wollte eine tagebuchähnliche Notiz schreiben, auf dem Schirm erschien eine sinnlose Abfolge von Buchstaben. Er löschte sie wieder und landete dann ohne bewusste Steuerung oder gewolltes Vorhaben dabei, eine vierspaltige Liste zu erstellen und begann sie auszufüllen, die Frauen links und die Männer rechts.

NameProblemNameProblem
DanielaHaareErichHerzneurose
JudithBruderinzestUweDepression
SigridMännerauswahlRobertGeschlechtsidentität
WaltraudSelbstmordgefährdungGustavKinderwunsch
BrigitteMissbrauchichAlbträume

Er fühlte sich wohl dabei, diese Art zu denken und zu schreiben war ihm vertraut, sie bestimmte große Teile seines beruflichen Alltags, Kategorisierung, Bewertung, Einordnung - er bewegte sich auf sicherem Terrain. Wieder und wieder las er die Liste durch, weil er etwas daran störend fand. Er las die Namen laut, sagte noch zu dem einen oder anderen so etwas wie nett oder weniger nett, aber dennoch wollte ihm nicht auffallen, was es war. Er ging die Liste noch mehrere Male durch und war von seiner schlagartigen Erkenntnis überrascht: Diese Menschen hatten alle ein Problem, ein lösbares, sein Problem war nicht lösbar.

Er beschloss, nicht mehr zu den Gruppensitzungen zu gehen.

Die Schuld

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