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Kapitel 4

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Als Sandra die Wohnungstür öffnete, kam aus Michaels Zimmer eine funkige Nummer von Lee Ritenour, leise zwar, doch vernehmbar. Sie kannte das Stück in- und auswendig und fühlte sich nur noch davon genervt, wie auch von Michaels Angewohnheit sich beim Arbeiten über lange Strecken hinweg die gleiche Jazzmusik anzuhören. Sie hatten schon des Öfteren Streit deswegen gehabt. Immer wieder hatte sie ihn gebeten, dann wenigstens und vor allem abends, wenn die Zwillinge ins Bett gegangen waren, die Flügeltür zu schließen. Doch dies hatte er jedes Mal kategorisch abgelehnt, er brauche die Weite des Raumes, damit seinen Entwürfen ebenfalls die Weite innewohne, ihr Vorschlag würde seiner Arbeitsweise und seinem Stil fundamental widersprechen. Er wolle kein kreativer Kleingeist sein und im Übrigen schlössen sich diese beiden Begriffe gegenseitig sowieso aus, ein unversöhnlicher Widerspruch. Einen Kopfhörer hatte er ebenso kategorisch abgelehnt wie die Schließung der Tür. Er erklärte sich dennoch bereit, darauf zu achten, nachdem die beiden Jungen zu Bett gegangen waren, die Lautstärke zu drosseln. Doch dies war ein Versprechen, das er oft brach.

Auch dieses Mal scholl die Musik laut aus seinem Zimmer. Sandra war von ihrem Damenabend zurückgekommen und eilte empört in das Arbeitszimmer. Doch zu ihrer Überraschung war es leer. Dies empörte sie noch mehr, konnte sie doch keinesfalls verstehen und schon gar nicht billigen, dass Michael die Wohnung verließ und die Zwillinge alleine zurückließ – das verstieß gegen ihre beiderseitige Vereinbarung. Die Jungen waren noch zu klein, als dass man sie hätte sich selbst überlassen können. Gerade in dem Moment, als sie nach einem Ziel für ihre Empörung suchte, fiel ihr jedoch ein, dass Michael immer dann, wenn ihm die Zigaretten ausgegangen waren, flugs zum Kiosk um die Ecke eilte, um sich Nachschub zu besorgen. Dessen ungeachtet ärgerte sie sich noch so sehr, dass sie mit der Faust leicht auf den Tisch schlug.

Der Computer war noch eingeschaltet; seltsamerweise war der Bildschirm schwarz, nur in der oberen linken Ecke blinkte die Schreibmarke. Sie signalisierte allerdings – ohne dass dies Sandra klar war - den Ladevorgang des Bildschirmschoners. Durch ihren Schlag bewegte sich die Maus leicht und unterbrach diesen Ablauf und gab dadurch den Blick auf die Arbeitsfläche wieder frei. Sie wusste, dass die Zeit, die verging, bevor sich der Schoner einschaltete, auf fünf Minuten festgelegt war, also konnte Michael noch nicht lange aus dem Haus gegangen sein. Er musste daher jeden Moment zurückkommen.

Sie stellte die Musik ab und wollte schon wieder aus dem Zimmer gehen, als ihr Blick auf ein geöffnetes Textverarbeitungsprogramm fiel. Ganz entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten begann sie zu lesen, vor allem, weil ihr Blick auf das Wort Sandra gefallen war. Der Text stand also in irgendeinem Zusammenhang zu ihr, und da Michael nicht mehr mit ihr über Wesentliches sprach, weder was ihre Beziehung noch was sein Innenleben betraf, er zunehmend verstummt war, Alltagsregelungen eher mürrisch mit ihr absprach, fühlte sie sich beinahe gezwungen, den Text zu lesen. Vielleicht gab er ihr ja die Auskunft, die Michael ihr verweigerte.

Zugleich war ihr die Unbotmäßigkeit ihres Handelns bewusst, die Rechtfertigung für ihr Tun aus Michaels Schweigen zu beziehen, war sogar für sie wie dünnes moralisches Eis, auf dem sie sich bewegte. Was soll denn schon dabei sein rief sie sich zur Räson, er ist ja selber dran schuld, er hätte schließlich seinen Computer ausschalten können, dann hätte er mich nicht in Versuchung geführt. Und damit wischte sie alle Gewissensbisse beiseite; letztendlich kann man sagen, dass nicht nur ihre Not, sondern sicherlich auch ihre Neugierde sie zu diesem Schritt veranlasst hatten.

Also begann sie zu lesen; der Text war eine Art Tagebucheintrag, und als sie weiter scrollte, erschien tatsächlich das Datum durch zwei Leerzeilen deutlich vom vorherigen Text abgesetzt und markierte so eine neue Notiz. Sie ging zum ersten Eintrag und realisierte, dass es sich um tagebuchähnliche Aufzeichnungen handelte.

4. April 2003

Jetzt ist es schon fast ein Jahr her und ich habe nicht das Gefühl, dass sich irgendetwas in diesem Jahr geändert hätte. Ich fühle mich immer noch wie ein Planet, der alleine um einen Stern kreist. Nein, halt, das Bild ist falsch, der Planet wird ja durch Kräfte gebunden, er kann seine Bahn nicht verlassen. Und er ist ein Teil eines Systems – nicht nur ein Teil, sondern er leistet ja auch seinen Beitrag dazu, das System braucht ihn, damit das sorgsam ausgewogene Kräftegleichgewicht erhalten bleibt. Eher komme ich mir vor, wie ein einsamer Komet, der durch die Weiten des Universums fliegt, ohne Herkunft und ohne Ziel und ohne zu wissen, was ich eigentlich hier tue. Merkwürdig ist allerdings, dass ich diese Bilder deutlich vor mir sehe, aber ich fühle nichts dabei. Ich stelle mir vor, jedes damit verbundene Gefühl muss grauenhaft sein, voll von unendlicher Einsamkeit und Trauer. Vielleicht ist es auch gut so, wie es ist. Und wenn ich mir das schon offensichtlich nicht zumuten will, dann ist es auch besser, wenn ich mit niemandem darüber spreche. Ich wüsste auch gar nicht, was ich sagen könnte. Es ist ja immer das Gleiche – und wer will das schon hören. Es sagen sowieso alle, nach einem Jahr müsste ich doch endlich über den Berg sein. Bin ich aber nicht –ich bin noch kein Stück weiter. Und ich habe keine Ahnung, was ich tun könnte, damit ich mich wieder halbwegs »normal« fühle und einfach nur ein Mensch unter anderen bin.

Eigentlich ist es kein Wunder, dass Sandra sich zunehmend mehr bei mir beschwert, sie hätte das Gefühl, ich sei meilenweit von ihr entfernt. Ha, wenn es doch nur Meilen wären und nicht Lichtjahre - ironischerweise haben wir etwas gemeinsam – auch ich bin weit, weit von mir entfernt.

Vielleicht helfen ja diese Aufzeichnungen, um mich – wie sagt man heute so schön – zu sortieren. Aber ich bin sortiert – ich bin da und doch nicht da!

Sandra hatte beim Lesen unwillkürlich die Luft angehalten, sowohl ihres dreisten Tuns als auch der schonungslosen Innenschau Michaels wegen. Sie hatte nicht geahnt – nicht ahnen können -, dass er sich selbst so fremd geworden war und das Ausmaß, das sich ihr während des Lesens eröffnet hatte, erschreckte sie. Hatte sie bislang geglaubt, dass die Zeit alle Wunden heile, sie Michael gegenüber nur geduldig genug sein, ihn immer wieder ihrer andauernden Zuneigung versichern müsse, dann würde sich alles wieder richten. Doch ihr naiver Glaube, der sich sicherlich auch auf ihre Erfahrung als Mutter gründete, - hatte sie doch oft genug die beiden Jungen trösten können, indem sie sie auf den Schoß nahm oder ihnen etwas vorsang oder bei einer Wunde den Schmerz hinweg blies, auch im Wissen darum, dass er nicht tatsächlich verflogen war, sondern dass die beiden eine Linderung durch die Zuwendung ihrer Mutter verspürten und ihr zuliebe deren scheinbare Wirkung mit einem Lächeln bestätigten – dieser Glaube fand sein jähes Ende während ihrer Lektüre.

Sie entließ ihren Atem zwischen ihren leicht geöffneten Lippen und damit einen Teil der Anspannung aus ihrem Körper.

Ob sie wollte oder nicht, sie fühlte den Zwang weiterzulesen so stark, als hätte sie die Kontrolle über ihre Entscheidung verloren. Sie musste einfach weiter fortfahren und der Drang minderte ihr schlechtes Gewissen, lag doch die Rechtfertigung für ihre Indiskretion bei ihrer inneren Stimme.

18. April 2003

Die Bilder nehmen kein Ende – und jedes scheint trostloser als das vorherige zu sein. Halt – was habe ich denn da geschrieben: Trostlos. Das heißt, es gibt keinen Trost. Aber ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich überhaupt irgendeinen Trost brauche. Und schon gar nicht, was ich überhaupt brauche.

Immerhin habe ich es geschafft, dass sie mich jetzt alle in Ruhe lassen. Mich nicht dauernd fragen, wie es mir geht und ich ihren Gesichtern deutlich die Enttäuschung ansehen kann, wenn ich meine stereotype Antwort aufsage: unvermindert schlecht. Immerhin das. Aber viel weiter bin ich noch nicht gekommen.

Heute Morgen saß ich an meinem Schreibtisch, habe eine kleine Pause eingelegt, mich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Plötzlich bin ich in der Wüste, nur Sand, soweit das Auge reicht, ein leichter Wind lässt an den Dünen Sandfahnen entstehen und vor mir wird eine Rose von Jericho an meinen Füßen vorbeigeweht. Ich will ihr noch instinktiv nachrufen ‚bleib hier‘, aber da ist sie schon zu weit weg und rollt weiter, tiefer in die Wüste hinein. Das wäre doch wenigstens etwas Lebendiges in meinem Bild gewesen.

So komme ich mir vor: ohne Wurzeln, durstig, ohne zu wissen, wann ich zum nächsten Wasserloch kommen werde. Es kann Jahre dauern! Und außer mir gibt es nichts und niemanden hier! Grenzenlose Einsamkeit, wohin man schaut, kein Baum, kein Strauch, kein Tier, kein Mensch. Nichts, einfach nur nichts. Ach – ich habe vergessen: Sand gibt es natürlich, Sand, die Hitze und mich. Es gibt keinen Schatten und es gibt keine Richtung, in die ich gehen will. Ich könnte zwar am Sonnenstand die Himmelsrichtung ablesen. Aber die Entscheidung nach Süden zu gehen oder nach Nordwesten wäre eine sinnlose. Ich weiß weder wo ich bin noch was hinter den Dünen liegt.

Sie schreckte von einem Geräusch hoch, glaubte zunächst Michael sei an der Wohnungstür und sie versuchte vergeblich an die Stelle im Text zurückzugehen, an der sie zu lesen angefangen hatte. Michael durfte auf keinen Fall merken, dass sie hinter seinem Rücken in seinem Tagebuch las. Doch es war nur Christian, der die Tür zum Kinderzimmer geöffnet hatte und barfüßig zur Toilette gehen wollte. Der Weg dorthin führte zwar am Arbeitszimmer vorbei, doch er nahm sie in seiner Schlaftrunkenheit nicht wahr und setzte seinen Weg fort. Sie drehte sich um, beugte sich zum Fenster, doch Michael war nicht zu sehen. Sie ging zur Toilette, half Christian, der auf der Toilettenbrille sitzend fast wieder eingeschlafen wäre, wischte ihn ab, zog ihm die Hose hoch und trug ihn zurück. Gottseidank schlief Christoph dieses Mal oben in dem Etagenbett – sie wechselten sich gelegentlich ab -, sodass sie sich nicht der Mühe unterziehen musste, ihn irgendwie die Leiter hinauf zu bugsieren. So entglitt er ihren Armen mehr oder weniger in das untere Bett hinein, zog die Bettdecke über sich, drehte sich auf die rechte Seite, den Arm unter den Kopf schiebend und war im Nu eingeschlafen. Sie hauchte einen Kuss auf seine Stirn und ging zurück ins Arbeitszimmer.

Seit ihrer Rückkehr war mittlerweile eine viertel Stunde verstrichen und sie begann, unruhig zu werden. Sie war früher als sonst zurückgekommen und wunderte sich über den langen Zeitraum, den Michaels Gang zum Kiosk einnahm. Sie hätte gedacht, dass er die Kinder nicht so lange alleine lassen würde. Und die kleine Szene auf der Toilette gab ihrer Haltung recht: Solange die Jungen noch nicht älter waren, müsste abends immer jemand in der Wohnung sein.

Andererseits blieb ihr damit Zeit, ihre Lektüre fortzusetzen. Sie ging zurück ins Arbeitszimmer, um den Tisch herum und wollte weiterlesen. Sie bewegte die Maus zum Rand des Fensters und öffnete dabei unabsichtlich in der Menüleiste eine Suchfunktion, in deren Eingabefeld bereits ein Suchbegriff eingegeben war: Tabletten. Sie klickte auf den Button, der mit »Ausführen« beschriftet war und im optischen und lebensgeschichtlichen Schnellgang sprang der Text an eine neue Stelle, zwei Jahre später.

9. Mai 2005

Heute jährt sich das Ganze zum dritten Mal. Jeder Versuch, den ich seit dem Aufstehen unternommen habe, dieser Tatsache zu entkommen, war zum Scheitern verurteilt. Es ist zum Kotzen – es klebt an mir und ich werde es nicht los. Es klebt wie Pech – aber jetzt musste ich gerade kichern, über die doppelte Bedeutung des Wortes.

Nichts hilft, keine Art der Ablenkung, kein Spaziergang, kein Buch, kein Film, noch nicht einmal der Sex mit Sandra. Der ist ja sowieso seit langer Zeit schon eingeschlafen – schade eigentlich. Aber ich habe einfach keine Lust.

Das kann doch nicht sein, dass das alles mein Leben bis an mein Lebensende überschattet und ich zunehmend mehr in Gefahr gerate zu vergessen, was das ist: Freude, Lust, Lachen und der ganze Kram, der doch erst das Leben lebenswert macht.

Aber so vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht daran denken muss, an dem ich nicht wieder die Bilder von der Straße vor dem Stadion vor Augen habe. In gewissem Sinne gleichen sich dadurch alle Tage – auch wenn etwas Neues passiert, ein neuer Auftrag z. B., so ändert das nichts an der Grundstimmung: grau, grau, grau!

So ein Scheißmist. Ich kann so einfach nicht weitermachen. Irgendetwas muss ich ändern, jetzt, gleich, sofort.

Aber leider habe ich keine Ahnung was und vor allen Dingen nicht wie.

Seltsamerweise habe ich in der letzten Zeit hin und wieder daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Wäre das nicht in gewissem Sinne gerecht, wäre dann nicht endlich meine Schuld beglichen, mein Leben gegen seines? Wären wir dann nicht quitt? Auch wenn sich diese Rechnung faszinierend ausmachen mag, so glaube ich doch nicht, dass es eine »mathematische« Lösung gibt. Und vor allem: was wäre dadurch gewonnen?

Aber ich glaube, ich bin zu feige dazu – und ich will auch nicht die Hoffnung aufgeben. Schließlich kann ich mir nicht sicher sein, dass nicht doch noch eine Veränderung eintritt. Aber so, wie ich das schreibe, heißt das, auf etwas zu warten, von dem ich nicht weiß, ob es überhaupt eintritt. Und dabei glaube ich doch gar nicht an Wunder. Also müsste mir schon eine Idee kommen, was ich denn tun kann. Bis dahin horte ich erst mal meine Tabletten.

Entsetzt scrollte Sandra jetzt weiter; sie wollte, nein sie musste einfach wissen, wie weit Michaels Überlegungen damals reichten, immerhin hätte er ja in Kauf genommen, sie zur Witwe zu machen und die Kinder vaterlos zurückzulassen. Sie geriet in Rage und das gerade Gelesene fegte nunmehr endgültig ihre Gewissensbisse beiseite und sie fühlte sich in ihrem Tun voll und ganz legitimiert. Sie las den nächsten Eintrag.

13. Juni 2005

Es ist schon erstaunlich, wie leicht man an Tabletten kommt; einfach zu verschiedenen Ärzten gehen und sich Medikamente gegen die Schlaflosigkeit verschreiben lassen. Es ist schon haarsträubend, wie einfach das ist, man wird nach nichts gefragt, keine Anamnese, keine Frage nach Sorgen oder Stress. Bei dem letzten, einem alten Tattergreis, bei dem ich mich fragte, ob er überhaupt noch ordinieren darf, genügte sogar nur die Angabe der Marke. Die musste ich ihm dann auch noch wiederholen, weil er schwerhörig war. Und dann reichte er mir, ohne mit der Wimper zu zucken, das unterschriebene Rezept über seinen unaufgeräumten Schreibtisch.

Jetzt habe ich rund 200 Schlaftabletten zusammen. Fast zwanghaft muss ich immer nachsehen, ob sie noch da sind. Manchmal, wenn ich viel Zeit habe und mir sicher sein kann, dass ich weder von Sandra noch von den Jungs gestört werden kann, packe ich sie aus und baue sie vor mir auf, fast zwanghaft, in Reih‘ und Glied, rund zu rund, die länglichen zu den länglichen und vor allem nach Farbe sortiert. Wenn man das dann so anschaut, könnte man denken, es seien Soldaten, die kurz vor einem Himmelfahrtskommando stehen. Allerdings kommen sie mir dann vor wie meine Lebensversicherung. Naja, das war jetzt absurd, kicher, kicher.

Na wenigstens ein Stück meines Humors ist mir geblieben. Wenigstens das, sonst wäre es ja gar nicht mehr zum Aushalten.

In diesem Moment hörte Sandra den Schlüssel in der Wohnungstür, Michael konnte in Sekunden bei ihr sein. Trotz ihres mittlerweile vor ihrem inneren Richter legitim gewordenen Leseübergriffs wollte sie noch nicht, dass Michael von ihrer Lektüre seiner Tagebucheintragungen erfuhr. Sie wollte sich Zeit gönnen, das Gelesene zu verarbeiten und zu gegebener Zeit Michael zu einer Aussprache nötigen – Material hatte sie ja genug. Die Wut klang noch in ihr nach, viel Zeit hatte sie nicht mehr, und da sie nicht mehr wusste, an welcher Stelle sie beim Lesen eingestiegen war, schaltete sie in ihrer Not einfach den Computer aus, in der Hoffnung, dass Michael seine Ausführungen bereits abgespeichert hatte.

Sie sah noch die Bereitschaftsleuchte am Gehäuse verglimmen, als Michael das Zimmer betrat. Verdutzt blieb er stehen.

»Na, du bist aber früh da: War’s dir zu langweilig mit deinen Damen?«

»Du brauchst gar nicht so spitz zu sein. Wenn es überhaupt mit jemand langweilig ist, dann mit dir. Aber das sag‘ ich dir ja nicht zum ersten Mal.«

»1:0 für dich, wollen wir jetzt weiter schießen? Und überhaupt, was machst du eigentlich in meinem Arbeitszimmer? Du weißt, ich mag es nicht, wenn du hier herumstöberst.«

»1:1. Erstens habe ich nicht herumgestöbert, du weißt, dass ich nicht so jemand bin. Und zweitens habe ich die Musik ausgemacht, die du mal wieder nicht leiser gestellt hast. Zum Glück haben die beiden einen guten Schlaf. Und drittens finde ich es nicht in Ordnung, wenn du die beiden alleine lässt, nur um Zigaretten zu holen. Kannst du das nicht tagsüber erledigen?«

»Mir waren sie ausgegangen, deswegen bin ich nochmals losgestiefelt. Und stell‘ dich bitte nicht so an. Die zehn Minuten kriegen die gar nicht mit!«

»Es waren nicht zehn sondern mindestens zwanzig Minuten!«

»Solange bist du also schon wieder da und da willst du mir erzählen, du hättest hier nicht herumgestöbert. Brauchst du denn so lange um die Anlage auszuschalten?«

Wutschnaubend wollte Sandra das Zimmer verlassen, sie hatte keine Lust, sich noch weitere Unverschämtheiten anhören zu müssen. Doch ihre Schauspielkünste reichten nicht für eine überzeugende Darbietung, zumal Michael mit seinem Vorwurf ins Schwarze getroffen hatte.

Sie sagte: »Du kannst mich mal«, drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen.

Michael war während des Gespräches langsam um den Schreibtisch herumgegangen und konnte jetzt sehen, dass sowohl der Bildschirm schwarz als auch die Kontrolllampe erloschen war. Er drehte sich um und rief Sandra hinterher:

»Hast du etwa einfach den Computer ausgeschaltet?«

»Ja, warum?«

»Sag‘ mal, du hast sie ja nicht alle. Und was wäre, wenn meine Arbeit nicht gesichert gewesen wäre, dann wäre alles weg!«

»Lieber Michael, da du ja im Konjunktiv redest, ist doch wohl alles in Ordnung. Hör‘ auf, mir auf diese miese Tour ein schlechtes Gewissen machen zu wollen«, stieß sie hervor und verließ nun endgültig das Zimmer.

»Lass‘ demnächst deine Finger von meinem Computer«, schimpfte er ihr hinterher, aber da er gerade eine Tür hatte zuschlagen hören, konnte er nicht sicher sein, dass seine Worte noch bis zur ihr gedrungen waren.

Er schaltete den Computer wieder ein, wartete, bis das Betriebssystem wieder gestartet war, und öffnete das Textverarbeitungsprogramm, mit dem er noch vor einer halben Stunde seine Eintragungen vervollständigt hatte. Es gab keinen Adressaten für sein Tagebuch, das er so keinesfalls nennen würde; es waren eher Überlegungen, philosophische Versatzstücke, Aphorismen, Versuche, sein Innenleben zu ordnen. Und obwohl er sich nicht sicher sein konnte, ob das Schreiben wirklich half, so fühlte er sich hinterher ruhiger und empfand eine Linderung der ihn bedrängenden Empfindungen.

Doch jetzt erfüllte ihn Misstrauen, es fiel ihm schwer, Sandra ihre angebliche – wie er vermutete – Harmlosigkeit zu glauben. Andererseits wollte er jetzt auch nicht Detektiv spielen, versuchen, irgendwelche Spuren in Log-Dateien zu finden, um so den sicheren Beweis sowohl für ihre Lüge als auch für die Tatsache zu finden, dass sie seine Notizen gelesen hatte.

Er speicherte die Datei erneut, doch dieses Mal mit einem Passwortschutz versehen und nahm sich vor, in Zukunft jede Gelegenheit zu vermeiden, Sandra in Versuchung zu führen.

Er lehnte sich zurück, entnahm dem mitgebrachten Päckchen eine Zigarette, zündete sie an, nahm einen tiefen Zug und sah den grauweißen Wölkchen nach, die er in die Luft blies. An diesem Punkt war er mit sich zufrieden, dieses Passwort war nicht oder doch zumindest nicht so leicht zu knacken. Es war einfach nach einem System gebildet, das er sich, angeregt durch einen Artikel in einer Computerzeitschrift über sichere Passwörter, ausgedacht hatte, eine scheinbar unsinnige Abfolge von Buchstaben und Ziffern.

Die Ungewissheit machte ihn unzufrieden, die Ungewissheit, ob und was Sandra gelesen hatte. Er befand sich in einem Dilemma, Gewissheit konnte er nur erlangen, indem er sie danach fragte – und genau damit würde er sein Geheimnis vor ihr preisgeben.

Die Schuld

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