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Kapitel 5

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Das Café Coco war ein kleines Café mitten in der Stadt in der Fußgängerzone. Etwa sechs kleine runde Tische standen darin, eng beieinander, sodass man nur genau so eng um sie herumsitzen konnte, wie die Kuchenteller auf dem Tisch stehen mussten; maximal drei Personen konnten an ihnen sitzen, die vierte musste schon zusehen, wo sie ihre Kaffeetasse abstellte. Der Inhaber war ein schwuler Mittvierziger von wohlgestaltetem Wuchs und angenehmer Erscheinung, der sich nicht entscheiden konnte, ob er lieber ein Café oder eine Confiserie betreiben wollte. Auf der rechten Seite befand sich ein riesiges Regal mit einem reichhaltigen Sortiment an Schokolade, bittere Herrenschokolade aus der Schweiz, Schokolade mit Chili oder Pfeffer aus Frankreich, ja sogar Schokolade mit Rhabarber und Aloe Vera, mal dezent, mal in schreienden Farben verpackt, allesamt einen edlen Eindruck verbreitend. Und sie waren natürlich entsprechend teuer. Daneben standen ausgefallene Leckereien in unterschiedlichen Verpackungen, unter ihnen etliche versiegelte Steingutstreuer mit der Aufschrift Sucre roux à la canelle flankiert von einem Karton voller Golddublonen auf der einen und von in durchsichtiger Folie verpackten Cranberrries in Schokolade und Rohrzuckersplitter mit Zimt auf der anderen Seite.

Gegenüber fand sich eine pittoreske Ansammlung von Marzipanfigürchen allerlei Art; da gab es ein Rokkokopärchen, das sich innigst umarmte, die Zigeunerin, die feurig den sie umschwärmenden Gitarristen umtanzte, das Hündchen, das folgsam an seinem Herrchen emporsprang, das ihm einen Hundekuchen verabreichen wollte. Es gab den Adler, der im Begriff war, sich aus seinem Nest in die Lüfte zu schwingen. Überhaupt gab es eigentlich alles, was an Kitsch denkbar war, ja eigentlich hätte über diesem Regal ein großes Schild mit der Aufschrift Kitsch at its best hängen können und das wäre die angemessene Beschreibung gewesen. Der Besitzer, der von allen nur Chanel genannt wurde, hatte die Figuren ausnahmslos selbst angefertigt, fein ziseliert, detailreich, selbst die Saiten der Gitarre waren auszumachen, und er war ungemein stolz auf sein – wie er es nannte »süßes Machwerk – süßes Naschwerk«. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sie nicht gekauft wurden, aber das täuschte – sobald auch nur eine Figur über den Tresen gereicht wurde, ging Chanel nach hinten, um den leeren Platz im Regal mit einer neuen Kreation aufzufüllen. Das Café wurde in der Regel von Rentnern besucht, Laufkundschaft verirrte sich selten hier hinein. Da das Coco aber eben wegen seiner Marzipanfiguren weit über die Stadt hinaus bekannt war, kamen viele Kunden auch aus dem Umland, um seine Kunstwerke zu bewundern. Kurz, das Café war in der Regel bis auf den letzten Platz besetzt.

Sandra hatte Glück gehabt und noch einen freien Tisch erwischt. Karin war noch nicht da, kam mal wieder zu spät, das kannte man schon. Das versetzte Sandra aber in die unangenehme Lage, dass sie ständig irgendwelche platzsuchenden Rentner abweisen musste und sich dabei schuldig vorkam, besonders dann, wenn jemand mühsam mit seinem Stock nach hinten ins Café gefunden hatte.

Endlich tauchte Karin auf, schob sich an den ganzen Tischen vorbei und ließ sich neben Sandra auf den Stuhl fallen.

»Wo bleibst du denn schon wieder, dauernd muss man auf dich warten!«

»Nu reg‘ dich ab, es hat so lange gedauert, weil ich einen Parkplatz suchen musste und als ich endlich einen hatte, hat ihn mir so ein fettes Machoarschloch einfach weggenommen. Ich kann dir sagen, das war vielleicht ein unangenehmer Typ, fett und picklig, ist einfach vor mir in die Parklücke gefahren, der unverschämte Kerl, obwohl er gesehen hatte, dass ich schon das Steuer eingeschlagen und den Blinker gesetzt hatte und als ich mich dann beschweren wollte, hob er seinen Stinkefi…..«

»Bist du jetzt fertig?« unterbrach Sandra Karin, sonst wäre sie die nächsten zehn Minuten mit Auslassungen über den fetten, unsympathischen Parkplatzräuber überschüttet worden, und das war nun wahrlich nicht der Anlass ihrer Verabredung.

»Hach, jetzt hab‘ dich doch nicht gleich so, ich wollte dir ja nur erzählen, was für schräge Typen es auf dieser Welt gi…«, dieses Mal reichte der Blick von Sandra, »ach Gottchen, bist du heute wieder empfindlich!«

»Oh Mann, du nervst, dabei will ich mich doch gar nicht mit dir streiten.«

»Ja, ja, ich weiß schon, du willst dich wieder bei mir über deinen Michael beschweren. Hast du denn kein anderes Thema drauf?«

»Ehrlich gesagt, nein, und weil du meine beste Freundin bist, musst du dir jetzt wohl oder übel das Neueste anhören.«

Die Redewendung meine beste Freundin fiel bei jedem ihrer Treffen mindestens einmal, darauf hätte man wetten können; sie war sowohl das Signal dafür, dass es jetzt Schluss zu sein hatte mit ihren Zänkereien und dass jetzt der ernste Teil der Unterhaltung beginnen sollte. Gleichzeitig rief sie beide insofern zur Räson, als sie sich in der langweiligen Gleichförmigkeit ihrer Themen in nichts nachstanden: Seit fünf Jahren berichtete Sandra immer wieder von Michaels Unfall und dessen Folgen für ihn selbst und für ihre Ehe. Und Karin tobte sich immer wieder über ihre neueste Errungenschaft in der Männerwelt aus, die sich garantiert nach wenigen Tagen als absoluter und vorhersehbarer Fehlgriff herausstellte, schließlich gab es ja kaum gescheite Männer. Ihr Michael sei da eine große Ausnahme, beteuerte sie dann jedes Mal stereotyp.

»Also, schieß‘ los!«

»Tja, du weißt ja, dass ich Michael geradezu gedrängelt habe, zur Therapie zu gehen. Na und nach dem Erstgespräch war er auch ganz guter Dinge. Nur gestern Abend war alles wieder anders. Er kam nach Hause, kam wortlos in die Wohnung, war abweisend wie selten zuvor, einfach zum Kotzen, antwortete dann völlig ausweichend, wollte sich auf nichts festlegen und schmiss mich aus seinem Zimmer. Wahrscheinlich hat er dann wieder vor dem Computer rumgewichst. Entschuldige, dass ich so hart klinge, aber ich kann einfach nicht mehr. Das geht jetzt schon fünf Jahre so und ich bin am Ende.«

»Ich sag‘ dir doch immer wieder und jetzt noch einmal, so lieb dieser Kerl auch sein mag, du musst dich von ihm trennen. Sei froh, dass ich nicht beleidigt bin, dass du nicht auf mich hören willst. Aber bei dir ist das ja wie einem Ochsen ins Horn zu petzen, du willst einfach nicht hören, seit Jahren rede ich mir den Mund fusselig bei dir, aber ich habe das Gefühl, das geht bei dir zum einen Ohr rein und zum andern raus…«

»Karin« rief Sandra mit emporgestreckten Händen so laut aus, dass alle Rentnerköpfe sich umdrehten und sie missbilligend anschauten, »Karin, das Thema hatten wir doch schon durch, deine gut gemeinten Ratschläge helfen mir nicht allzu viel, ich habe zwei Kinder, ich kann und will auch nicht einfach weggehen. Nein, komm, jetzt lass‘ uns nicht schon wieder streiten. Ganz ernsthaft, ich komme an ihn nicht mehr ran. Egal, was ich versuche, es hilft nicht. Dabei hatte ich so große Hoffnungen in diese Therapie gesetzt und jetzt scheint das auch nicht die Lösung zu sein, ich kann einfach nicht mehr.«

»Ja, das sieht man dir an; sieht Michael das denn gar nicht?«

»Ich weiß gar nicht mehr, wann er mich das letzte Mal richtig angeschaut hat. Er ist so mit sich selbst beschäftigt, so in sich eingesponnen, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob er überhaupt wahrnimmt, was um ihn herum vorgeht. Auch die Zwillinge beklagen sich zunehmend bei mir. Aber das weißt du ja alles schon.«

»Stimmt! Also ich habe mir schon vor unserem Treffen Folgendes überlegt. Mein Freund Joachim, nein, falls du mich fragen willst, ich hatte nichts mit ihm, also, mein Freund Joachim ist vor zwei Wochen mit seiner Frau für zwei Jahre nach Afrika gegangen und hat mir den Schlüssel für seine Wohnung da gelassen. Wenn du willst, kann ich ihm eine Mail schicken und ihn fragen, ob du mit den Kiddies für eine Weile dort wohnen kannst. Jetzt schau‘ nicht so entsetzt, ich meine doch nur vorübergehend, keine endgültige Trennung, nur vorübergehend. Vielleicht ist das mal ein Schuss vor den Bug und er kommt wirklich endlich zur Besinnung. So kann das nicht weitergehen, du gehst dabei doch vor die Hunde. Und das lasse ich nicht zu bei meiner besten Freundin.«

Sandra schüttelte den Kopf, »nein, nein, dann wäre ich ja schon wieder diejenige, die etwas tut, damit er endlich in Gang kommt.«

»Nun überleg‘ dir’s doch noch einmal, und: Es ist ja nun nicht so, dass Michael gar nichts versucht hätte. Es war nur bisher noch nicht das Richtige. Es kann doch auch für ihn nicht so weitergehen, er leidet doch auch an den Folgen seines Unfalls.«

Wie sehr er darunter litt, hatte Sandra durch ihre gestrige Indiskretion mittlerweile erfahren. Sie hatte die vergangene Nacht kaum schlafen können, sowohl des Inhaltes als auch ihrer Eigenmächtigkeit wegen. Ständig ließ sie sich von dem Gedanken quälen, was sie denn nun mit ihrem heimlich erworbenen Wissen anfangen solle. Schließlich hatte sie sich entschieden, Michael gegenüber zunächst Stillschweigen zu bewahren und eine Verabredung mit Karin ins Auge gefasst. Früh am Morgen schlief sie dann endlich ein und wachte unausgeschlafen und unbefriedigt auf. Michael war schon unterwegs zu einer Baustelle. Doch Karin gegenüber wagte sie nicht, von ihrem spätabendlichen Tun zu berichten. Diese konnte zwar geradezu als Paradigma der Neugierde gelten, hatte jedoch hohe moralische Wertvorstellungen. Sie wäre sicherlich mit Sandra ins Gericht gegangen, sie hätte ihr unverzeihlichen Frevel und ähnlich herbe Anschuldigungen vorgehalten.

So sagte Sandra lediglich: »Ja, du hast ja recht, lass‘ mich noch eine Nacht drüber schlafen, dann sage ich dir Bescheid, ob du Joachim eine Mail schicken sollst. Aber ehrlich gesagt, so richtig überzeugt bin ich nicht von deinem Vorschlag.«

»Na, dann lass hören, wenn du eine bessere Idee hast. Aber ich verstehe nicht ganz, warum du heute Morgen die Verabredung mit mir so dringlich gemacht hast. Wir hatten uns doch erst gestern gesehen. Und jetzt habe ich nur das übliche Lamento von dir gehört« und setzte, als sie Sandras sich nach unten verziehenden Mundwinkel und ihre feucht werdenden Augen sah, hinzu: »Entschuldige, ich wollte nicht so hart sein. Aber du weißt, wie ich es meine.«

»Manchmal ist es schon hart mit dir«, entgegnete Sandra, »und ich muss all meine guten Gefühle für dich zusammen nehmen, um zu verstehen, wie du es meinst.«

Doch die Bedrängnis, in der sie sich durch Karins Anwurf fühlte, verstärkte die Seite in ihr, die den Anlass für diese Verabredung nicht offen legen wollte – so sagte sie bloß: »Ich habe ja eben keine bessere Idee, also noch mal: Ich überleg’s mir und danke für deine Geduld.«

Die Schuld

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