Читать книгу Torres del Paine - Stephan Hamacher - Страница 16

Moskwa

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Der Mann zittert vor Kälte. Er steht mitten im Schneetreiben und zückt eine Kamera, als ihn zwei zwielichtige Gestalten mitten auf dem riesigen Platz ansprechen. Er kann keinen der drei Männer hören, dafür steht er zu weit weg. Aber er weiß auch so, was los ist. Dumme Touristen. Die eine der zwielichtigen Gestalten würde den Fremden jetzt ansprechen, vermutlich in gebrochenem Englisch, und ihn in ein kurzes zwangloses Gespräch verwickeln. Er würde dem Mann mit der Kamera anbieten, günstig Rubel gegen US-Dollar oder Euro zu tauschen, zu einem wesentlich besseren Kurs als ihn die Banken und Wechselstuben versprechen. Und natürlich würden die Rubel gefälscht sein. Ging der Fremde darauf ein, wären die Männer so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren. Normalerweise suchten sich die beiden Männer für ihr Geschäft eine der Ecken des Platzes aus, vorzugsweise nahe bei der Basilika oder an einer den beiden Ecken am Historischen Museum. Dann würden sie in der Menschenmenge verschwinden, in einer der Seitenstraßen. Doch jetzt, am Neujahrstag, gibt es keine Menschenmassen, nur vereinzelt umherirrende Opfer, erkennbar an der Kleidung, an ihrem Frieren und an den Kameras. Dabei ist es alles andere als kalt für einen Winter. Warte nur, fremder Mann, bis der richtige Winter kommt. Jetzt, am Neujahrstag, gibt es Schneetreiben und einen arglosen Fremden mitten auf dem Platz, das ist das Zweitbeste. Würde der Mann nicht auf das Tauschgeschäft eingehen, bliebe immer noch genügend Zeit für die Taschenspielertricks des Kompagnons. Es würde keine zwei Sekunden dauern, und die Brieftasche des Fremden hätte den Besitzer gewechselt.

Sergej kommt selten hierher. Seit er keine eigene ständige Bleibe mehr hat, verbringt er seine Zeit in der kleinen Hinterhofwohnung seines Bruders und seiner Schwägerin auf der Bolotny Insel, einige Blocks entfernt vom Baltschug. Wenn er dann einmal in der Stadt ist, und das ist er selten. Seit er seine Arbeit in den Minen des Donbass verloren hat, musste er improvisieren. Seit er seine Arbeit verloren hat, versuchte er sich als Hausmeister, Busfahrer, Gärtner. Sein jetziger Job beginnt oft am Jaroslavler Bahnhof, manchmal aber auch erst in Irkutsk. Zusammen mit zwei weiteren Kumpels, die nach den Grubenunglücken und der schon lange anhaltenden Flaute im Donezbecken ebenfalls mittellos wurden, reist Sergej mit der Transsib bis zur Endstation Waldiwostok, neuntausendzweihundertachtund-achtzig Kilometer oder, von der Angara aus, viertausendsechshundertsiebenundneunzig Kilometer. Im Fernen Osten kaufen Sergej und seine Kumpel dann gebrauchte japanische Autos, die sich trotz der Rechtslenkung ganz gut im Westen verkaufen lassen, in Omsk, Perm, Ufa, Kasan, Jekaterinburg oder im Moskauer Umland. Die Überführung der Limousinen dauert dann bis zu vierzehn Tage. Der Keine einfache und noch dazu eine gefährliche Aufgabe: Nicht nur das Wetter und die mitunter desolaten Straßenzustände machen das Geschäft schwierig, auch die Überfälle, die sich in jüngster Zeit gehäuft haben. Darum fahren die drei nur im Konvoi durch das schlafende Land, das immer dann wach ist, wenn man es am wenigsten erwartet. Und, Fremder, wenn du wirklich wissen willst, was Winter ist, dann komm im Januar oder Februar nach Sibirien.

Heute ist Neujahr, und wie an jedem anderen Tag im Jahr gilt entlang der Tranbssib auf jedem einzelnen der neuntausendzweihundertachtundachtzig Schienenkilometer Moskauer Zeit. Neujahr ist also überall in der Eisenbahn, sofern man nicht das Abteil und die Bahnhöfe verlässt. Dabei durchpflügt die Transsib sieben der neun Zeitzonen Russlands. Das neue Jahr hatte am Japanischen Meer schon reichlich Patina angesetzt, als in der Hauptstadt die Sektkorken knallten. Sergej kennt die Stationen auswendig, vor allem die auf den zweiund-siebzig Stunden zwischen Baikalsee, Amur und Primorje - Ulan Ude, Chilok, Mosgon, Tschita, Mogotscha, Amasar, Magdagatschi, Oblutschje und Chaborowsk. Die Tour von Moskau dauert eine ganze Woche. Um sich im Zug zu orientieren benötigt Sergej keine Augen. Er verlässt sich auf seine Nase. Die Gerüche verraten ihm bei Exkursen durch den Zug die Reihenfolge der Wagenschlange, Tür auf, Tür zu, Omul, Zigarettenasche, Wodka, Seife. Wer braucht schon eine teure Wohnung, wenn man die meiste Zeit des Lebens im Zugabteil verbringt oder in billigen Pensionen entlang des Heimwegs schläft, manchmal, in den heißen Sommern, auch im Auto made in Japan?

Fisch, Brot, Bier und Wodka, Wodka, Bier, Brot und Fisch. Die langen und die kurzen Stopps. Die Mütterchen, die mit dem Verkauf von Obst und Gemüse, weißem Fladenbrot und hochprozentig Selbstgebranntem, mit zuckerstarker Marmelade, mit Eingelegtem, Frittiertem, Gebratenem und Gebackenem ein paar Kopeken in die Schürze plumpsen lassen. Die strengen Zugbegleiterinnen, Kelle in der Hand, Trillerpfeife im Mund, die Wohlgesonnenen über Nacht alles besorgen können, auch ein Frühstücksei und Erdbeerkonfitüre, nur kein Lächeln. Die Bahnmänner mit ihren gegerbten sorgenfaltigen Gesichtern, die vom Samowar bis zur Kupplung alles reparieren können. Ein Leben in vierzehn Zeitzonen, sieben hin und sieben zurück. Ein Leben von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, alles komprimiert in einer einzigen Zeitzone, denn Moskau ist überall.

Da steht er jetzt, der Fremde, und er friert. Das neue Jahr hat für ihn mit Eis auf Knochen begonnen. Dagegen gibt es den Wodka, mein Freund. Alkohol hilft. Schau nach links, dort liegt der erste letzte tote rote Zar, Wladimir Iljitsch Uljanow, konserviert in Alkohol. Schau nach rechts zum teuersten Kaufhaus der Stadt. Dort bekommst du den besten Sprit in rauen Mengen, und jede Flasche kostet vielleicht mehr, als deine Börse hergeben mag, sofern sie dir nicht gerade gestohlen wurde. Vergiss die falschen wertlosen Rubel, die man die gerade andrehen wollte. Hier gilt nur richtiges Geld.

Vielleicht ist heute dein Glückstag, Fremder, auch wenn du das jetzt anders sieht. Gut, diese Legoland-Basilika in deinem Rücken ist eingerüstet und gibt kein gutes Fotomotiv her. Und ja, man wollte dich übers Ohr hauen. Und es schneit, und dir ist kalt. Und du bist allein. Niemand sollte an einem Tag wie diesem allein sein. Aber du stehst hier, fremder Mann, eine schöne Kamera in deiner Hand, du scheinst gesund zu sein, und der Winter geht vorbei. Das verspreche ich dir. Du hast noch Geld, und so, wie du aussiehst, hast du noch eine gut bezahlte Arbeit, sonst wärst du wohl nicht hier. Wo kommst du her? Amerika, Deutschland, Frankreich, Italien, England, Australien? Egal, du sprichst unsere Sprache nicht, und selbst wenn du sie sprechen würdest, du könntest uns nicht verstehen. Aber du hast Glück, es ist Neujahr, und alles ist möglich. Und wenn du nett bist, lade ich dich vielleicht sogar zu einem Kaffee ein. Zu einem richtigen Kaffee, so einen dunklen starken süßen. Mit ein, zwei Gläschen Wodka und den besten Wünschen.

Torres del Paine

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