Читать книгу Torres del Paine - Stephan Hamacher - Страница 8

Sirtaki

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Sich treiben lassen. Einfach nur mit dem Strom schwimmen. Es hat gekracht die letzten Tage, geblitzt und gedonnert, tropische Sommergewitter, aber heute lächelt der Stern vom makellos blauen Himmel, als sei nichts gewesen. Antío - Seit ich mit Jannis Schluss gemacht habe, gehören mir die Tage wieder ganz allein. Jannis und sein verdammtes ägäisches Gehabe. Ginge es nach Jannis, so wäre die ganze Welt eine einzige große griechische Kolonie. Die Hellenen haben dies geschaffen, haben das erfunden, die Liebe und den Hass und den Erdkreis dazu. Ginge es nach Jannis, so wäre die ganze Welt griechisch, mitsamt allem, was die Welt für ist, was sie für ihn auszeichnet: griechische Musik, griechisches Essen, griechischer Beischlaf, griechische Tragödien. Die Griechen haben die Welt gemacht, sagt Jannis. Und die Griechen sind vielleicht das einzige Volk auf der Erde, das gleich zwei Nationalfeiertage hat, nämlich den 25. März und den 28. Oktober. Griechen feiern doppelt so viel wie andere. Und doppelt so lange, doppelt so heftig und doppelt so laut. Und dann hat er getanzt, Jannis, im Frühjahr, an einem freien sonnigen Nationalfeiertag vor der nationalen Oper. Sirtaki. Australischer Sirtaki. Als ob das ein alter griechischer Brauch wäre. Dabei ist der Sirtaki kaum älter als Jannis. Er wurde erstmals 1964 getanzt, als die olympischen Spiele in der griechischen Kolonie Tokio stattfanden, erfunden für den Film Alexis Sorbas mit Anthony Quinn in der Hauptrolle, einem Mexikaner, der einen Griechen spielt. Jannis sagt, dass Quinn in Wahrheit tief in seiner Seele immer schon Grieche gewesen sei, so wie alles und jeder letztlich von Griechenland und den Griechen abstamme. Mikis Theodorakis‘ langsame, sich steigernde, immer schneller werdende plätschernde pulsierende Perlentropfen auf dem heißen kretischen Stein. Jannis versuchte ihn zu imitieren, wenn er Liebe machte. Jannis versuchte ihn zu imitieren, wenn er lauthals in die Bucht hinaus sang. Jannis versuchte vieles zu imitieren, aber er scheiterte immer wieder an seinem Großmaul. Und mit Bier und Ouzo wurde sein Großemaulgesang zum Großmaulgegröhle. Jannis war dann nicht mehr Jannis, Jannis war dann Zeus, ein Filou, ein Trickser, der sich für Gott hielt. Antío - und jetzt hat er den Bauernsalat und den Blues an der Botany Bay.

Es geht auch ohne ihn. Ein bisschen Luna Park, diese bunte riesige Grimasse am Eingang. Die Zähne des Großmauls, die den Eingang zur bunten Meile bilden. Und wieder muss ich an Jannis denken. Nicht wirklich an Jannis, aber an sein lautes überdimensioniertes Mundwerk. Und dann, wenn ich Jannis satt habe, nehme ich die Fähre rüber zum Circular Quay, wo ein gefiederter Aborigine auf dem Asphalt sitzend mit seinem Didgeridoo für die Silbermünzen der Touristen spielt. Es ist der letzte Tag des Jahres, und es sind die letzten Münzen, die der Holzbläser auf seiner Decke sammelt.

Danach ein Spaziergang durch den botanischen Garten. Die Skyline durch das Glashaus betrachten. Der Sydney Tower hinter Gittern, das üppige Grün vor der Tapete aus Beton und Glas. Chatwins Songlines auf der Bank in der Tropenvitrine: Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich in der Mitte der hellblauen Zeltplane, und die Sonne stand am Himmel. Die alten Männer wollten zum Frühstück wieder Fleisch. Und wieder musste ich an Jannis denken. Pan himself, der gute Hirte. Berge von Souvlaki, Gyros in der Knoblauchwolke, Hack in Béchamel. Jannis konnte Berge von Fleisch verdrücken, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Und danach konnte er Seen von Bier und Ouzo trinken ohne auch nur daran zu denken hinzufallen. Nur seine ohnehin schon laute Stimme hob dann ab und erreichte nimmersatte Dezibel.

Die Sonne brennt durch das Glasdach. Brennglas. Bevor ich mich entzünde oder entzündet werde und in der Tropenhitze brennend einschlafe lege ich den Chatwin beiseite, lasse die Songlines verstummen und mache mich müde auf zum Macquarie Point, der angesagten Adresse für das Feuerwerk. Und wieder sehe ich Jannis, tanzend vor der Oper, umringt von griechischen Nikes in griechischen Röcken, Arm in Arm mit der griechischen Musik, im Rausch eines fröhlichen griechischen Größenwahns. Theodorakis Meisterwerk vor Jørn Utzons Meisterwerk. Und Jannis genau dazwischen.

Du weißt schon, dass diese Kulisse das Werk eines Dänen ist?, hatte ich Jannis gefragt. Na und, Dänen seien letztlich auch nur entfernte Kinder der Griechen, hatte er geantwortet. Die Wikinger haben die Seefahrt von uns gelernt, Jahrhunderte nachdem wir ihnen den aufrechten Gang beigebracht haben.

Ein Reisebus hält, und eine Gruppe Japaner steigt aus. Männer in Anzügen, Frauen in Röcken, alle mit Lächeln. Der Fahrer und ein Assistent bauen in Windeseile eine kleine Tribüne aus Holzbänken und Eisenträgern auf. Dann stellt sich die Gesellschaft auf die Bretter und lässt sich vor der Kulisse der Hafenbrücke ablichten. Kleine Kameras machen die Runde. Nach nicht einmal fünf Minuten ist alles vorbei. Die Bänke werden abgebaut, verstaut, die Japaner steigen zurück in den Bus und lassen sich davonfahren.

Mrs. Macquarie’s Chair, der Sessel der aus Schottland stammenden Gouverneursfrau aus dem frühen 19. Jahrhundert. Elizabeth Henrietta Macquarie kam nach Sydney, Silvester 1809. Die Überfahrt war eine Strapaze, das Land, das sie erwartete, war Brachland, eine Ruine ohne Ruinen. Eine Kolonie der Ausgestoßenen, Verdammten und Verbannten. Ein karger Küstenstreifen für die Unliebsamen und Ungeliebten. Landeinwärts brannte eine gnadenlose Sonne, flirrten die Luftspiegelungen über den blauen ätherischen Eukalyptus. Kein Feuerwerk, keine Böllerschüsse zum Empfang. Eine Fremde in einem fernen feindlichen Land, einem unbarmherzigen Land, eine hochgeschlossene blasse Fremde, gleichermaßen barmherzig gegenüber Strafgefangenen und Ureinwohnern. Dafür wurde sie geachtet, dafür wurde sie mit diesem einmaligen Blick belohnt, diesem kleinen Erker in der ausgefransten Bucht, die sich kilometerweit ins Land gefressen hatte. Macquaries Ausblick wurde zum Rückblick als sie mit ihrem Mann zurück nach England segelte und dort im feuchten Grün als Witwe starb. Macquaries Ausblick gehört jetzt mir allein.

Seit langem war Macquaries Point der begehrteste Ort, um das vielleicht begehrteste Feuerwerk der Welt zu betrachten. Es gab Regeln: kein Glass, kein Alkohol, keine unversiegelten Getränke, nicht einmal Wasser, keine Haustiere, keine Messer, keine Fahrräder, keine Plastikplanen, keine Zelte, keine Matratzen oder andere aufblasbare Gegenstände, kein Grillgerät, keine Bälle, keine Frisbee-Scheiben. Und keine Griechen, nicht heute, schon gar kein Jannis, das ist jetzt meine Regel. Schon früh kommen die Menschen herbei, um sich die besten Plätze zu sichern. Beamte mustern misstrauisch die Gesichter nach Wohlgefallen, filtern Gleichmut und Unbehagen, bevor sie die Körper von Brust bis Knöchel abtasten. Die üblichen weißen Yachten, Segler und Motorboote kreuzen durch die Botany Bay, Port Jackson und die Farm Cove. Die Reichen und die Schönen mit dem Logenblick. Macquaries Ausblick gehört jetzt mir allein.

Es wird dunkel, der letzte Tag des Jahres geht. Die Samoaner werden die ersten sein. 2011 hatten sie die Seiten gewechselt, vom gestern ins heute. Bis dahin lebten sie jenseits der Datumsgrenze. Den 30. Dezember 2011 hatten die fernen Insulaner einfach ausfallen lassen. Ein gestrichener, vergessener Tag, ein verlorener Tag, und das ganz ohne Flugreise, ganz ohne Fortbewegung. Ein geraubter, ein abgeschaffter, ein niemals existenter Tag. Samoa hatte einfach Tag und Datum gewechselt, so wie die Schweden von einem Tag zum nächsten die Fahrbahn gewechselt hatten, auf der ihre Karossen verkehrten, über Nacht von links nach rechts. Das ganze polynesische Malo Sa?oloto Tuto?atasi o S?moa hatte die Uhren einfach um vierundzwanzig Stunden vorgestellt, damit die Menschen das neue Jahr nicht mehr als letzte begrüßen mussten, sondern als erste feiern konnten. Und natürlich war es für die Samoaner hilfreich, in der selben Datumszone wie ihre neuseeländischen und australischen Handelspartner zu leben. Gott hat die Zeit erschaffen, der Grieche Kronos hat sie geraubt, der Grieche Jannis hat sie vergessen, die Samoaner haben sie manipuliert und feingestimmt. Macquaries Ausblick gehört jetzt mir allein.

Eine Stunde nach Jahresauftakt auf Samoa explodierte der Himmel über dem dreihundertachtundzwanzig Meter hohen Sky Tower in Auckland, jetzt, weiter westwärts, folgt Sydney mit einem Chor aus anderthalb Millionen Kehlen rund um den Hafen. Anderthalb Millionen, die die Sekunden bis Mitternacht einstimmig herunter zählen. Ich mittendrin, den Blick gen Himmel, ohne Gedanken, mit leerem Kopf, mit nichts als einer glitzernden Leinwand vor Augen. Der Funkenregen prasselt auf den Kleiderbügel hinab, auf den gewaltigen eleganten Rundbogen der Harbour Bridge, auf den Luna Park am Nordufer, auf die pittoresk sanierten Altstadthäuser der Rocks diesseits des Wassers, auf die engen Gassen abseits der Glastürme, auf die weißen erleuchteten Segel der Oper mit ihren mehr als einer Million Keramikkacheln, auf die flatternden Segel der schlanken mäandrierenden Yachten, auf die ausufernden Freudentänze der Ufersänger, die in Schatten beisammen kauern, schauern, aufgereiht wie die Vögel auf den Drahtseilen der Telegrafenmasten, dicht gedrängt und fest umklammert. Sieben Tonnen Feuerwerkskörper rasen in die Luft, eine Choreografie aus Blitz und Donner, und mehr als eine Milliarde Menschen sehen in aller Welt zu, mit dem kalt gestellten Sekt auf den Tischen vor den Fernsehbildschirmen. Millionen stehen hier beieinander beiderseits der Bucht, schauen ungläubig ins fragile Sekundenspektakel. Grelle, schnelle, hüpfende, tanzende, springende Fackeln, gigantische Glühwürmchen, die Palette aller Farben und Formen, Herzen am Himmel, Sterne und Fahnen, Kometen und Kronen, das ganze Universum. Und mit jedem Knall, mit jedem Lichtreflex harren die Menschenmassen für Sekundenbruchteile im Schein der Raketen. Der gesprengte Horizont, das zerrissene Dach über den Hochhäusern, das zuckende Echo der Leuchtfäden. Der Rhythmus des Donners, der Widerhall von den kühlen Wänden, das alte opulente Barock in der neuen Nüchternwelt, der Reigen der sterbenden Lichtkaskaden, die liebestollen rasenden Furien am südlichen Himmel, an dem jetzt mehr kein Platz mehr ist für das bleiche Kreuz des Südens. Eine letzte laute Salve, ein Krachen und Bersten, es folgt eine atemberaubende Stille, die Dunkelheit, die schwärzeste aller Finsternisse, ein Raunen, ein Rufen, eine Freude. Dann ist alles vorbei, und Schwefel wabert über das schwarze Hafenwasser. Macquaries Ausblick gehört jetzt mir allein.

Dieses Jahr wird ein gutes Jahr. Ich, Catherine, achtzehn Jahre alt und angehende Studentin der Wirtschaftswissenschaften, blond und blauäugig und zwischen Baum und Borke, ich werde ein Jahr lang um die Welt reisen und das kosten, was mir später vielleicht für immer verwehrt bleiben wird, weil man schwer von einem abgelegenen Kontinent loskommt, der einem Lohn und Brot und Bier und eine Schlafstätte bietet und der einmal eine ferne Strafkolonie war. Eine gewaltige Insel, groß genug für eine ganze Welt. Ich werde im Sommer fortgehen, im Sommer, der hier ein Winter ist, nach London. Von dort nach Paris, Madrid, Rom. Und nach Athen, ohne Jannis, nachsehen, ob die Griechen wirklich Gott und die Welt geschaffen haben. Und vielleicht werde ich nach Kopenhagen reisen, zur kleinen Meerjungfrau, dort am Kai sitzen und auf die Oper schauen, die nicht vom Dänen Jørn Utzon geschaffen wurde. Um herauszufinden, ob es stimmt, dass die Wikinger die Seefahrt von den Hellenen gelernt haben, Jahrhunderte nachdem die Griechen den Skandinaviern den aufrechten Gang beigebracht haben. Ich werde mir mein eigenes Bild von der Welt malen.

Torres del Paine

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