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4.1. Hagiographie mit Fußnoten

Hagiographie und BiographieIsrael ben Eli’eser hat, von wenigen Briefen abgesehen, keine schriftlichen Äußerungen hinterlassen. Der Großteil dessen, was über seinen Werdegang und sein Leben in Erfahrung zu bringen ist, entstammt hagiographischen Legenden und muss deshalb methodisch sorgfältig auf etwaige historische Kerne hin überprüft werden. Da der Ba’al Schem Tov seine Lehre nicht systematisch niedergelegt hat, steht die Forschung bei der Darstellung seines Denkens ebenfalls vor Problemen: In diesem Fall ist man an verstreute Nachrichten gewiesen, die seine Schüler und Anhänger in ihre eigenen Werke inkorporierten.

|40|Exkurs: Biographische Rekonstruktionen aus hagiographischen Legenden

Es ist in der Forschung höchst umstritten, ob aus (hagiographischen) Erzählungen halbwegs verlässliche biographische Angaben herausgefiltert werden können. Die Spannbreite an diesbezüglichen Meinungen reicht von großer Naivität bis hin zu völliger Skepsis (vgl. Rosman, Founder). Allerdings verfügen selbst diejenigen Autoren, die sich der Hagiographie gegenüber aufgeschlossen zeigen, über kein hinreichendes methodisches Instrumentarium. Manche (Assaf, Regal Way, S. 4) verweisen auf einen „historischen Kern“, den sie irgendwie extrahieren wollen; andere (Dynner, Men of Silk, S. 20–21) suchen nach Aussagen, die für den betroffenen Zaddik wenig schmeichelhaft und daher kaum erbaulich zu nennen sind.

Hagiographische Texte – insbesondere, wenn sie neu entstehenden religiösen Strömungen entstammen – haben eine paradoxe Aufgabe: Einerseits muss es ihnen darum gehen, die ethischen oder religiösen Neuansätze ihrer Trägergruppe zu verdeutlichen. Andererseits müssen sie jedoch beweisen, dass sie fest in ihrer Muttertradition verankert sind. Sie sollten also gleichzeitig innovativ und traditionell gestaltet sein. Eben diese dialektische Spannung erfordert es, etablierte Literaturformen gewissermaßen unter der Hand mit neuen Inhalten zu füllen.

Die Suche nach KriterienAus diesen Überlegungen ergibt sich methodisch, dass man – wie etwa in den Forschungen zur Entstehung der Jesusbewegung (die ja auch als jüdische Reformströmung begann) – ein Kriterium doppelter Plausibilität anwenden könnte, um dasjenige legendarische Material zu extrahieren, welches zu historischen Rekonstruktionen tauglich erscheint. Im konkreten Fall des werdenden osteuropäischen Chassidismus wären dies Texte, die

(1) einerseits Auffassungen und Praktiken des traditionellen osteuropäischen Judentums des 17. und 18. Jahrhunderts plausibel und kohärent beschreiben

und

(2) andererseits dazu beitragen, die chassidischen Innovationen in Brauch und Ritus, hinsichtlich ihrer sozialen Struktur oder der Besonderheiten von Autorität oder Lehre zu verstehen.

Allerdings sollte man der Tatsache eingedenk sein, dass zwischen der Aussageabsicht von Legenden (oder anderer traditioneller Literatur) und dem Anliegen einer historisch-kritischen Rekonstruktion ein tiefer Gegensatz besteht. Die Spannungen zwischen den intrinsischen Zwecken der Legende, die hauptsächlich auf die Bestätigung und Erbauung der Anhänger ausgerichtet ist, und dem kritischen Ansatz der Forschung sind in jedem Fall methodisch zu beachten.

|41|Quellen zu Leben und Werk des Ba’al Schem TovWas nun den konkreten Fall der Biographie und der Lehre des Ba’al Schem Tov angeht, so ist die Wissenschaft – sieht man von den spärlichen Archivalien einmal ab – an die wenigen schriftlichen Zeugnisse des Betroffenen selbst sowie an einen reichen Schatz legendarischen Materials gewiesen. Die verhältnismäßig dürftige Quellenlage lässt sich durch Angaben ergänzen und evaluieren, die über das historische Umfeld des Israel ben Eli’eser, über die Situation der jüdischen Gemeinschaft des 17. und 18. Jahrhunderts in Podolien und Wolhynien, d.h. in den südöstlichen Gebieten der polnischen Adelsrepublik, zu gewinnen sind (vgl. beispielhaft Rosman, Founder, S. 42–82).

Die Briefe des Ba’al Schem Tov(1) Aus den Selbstzeugnissen des Ba’al Schem Tov ragt der sogenannte Heilige Brief (אגרת הקודש/Iggeret ha-Qodesch) heraus. Er soll im Jahre 1752 verfasst und an Gerschon von Kutów, den Schwager des Besch“t, gesandt worden sein. Er ist gleichzeitig das erste Ego-Dokument des Israel ben Eli’eser, das überhaupt veröffentlicht wurde. Es findet sich im Anhang des Werkes Ben Porat Josef (בן פורת יוסף) seines Anhängers Jakob Josef von Połonne, das 1781 posthum erschien. Im 20. Jahrhundert wurden zwei weitere Varianten des Schriftstücks entdeckt, in welchem der Ba’al Schem Tov seinem 1747 ins Heilige Land emigrierten Schwager u.a. einen Himmelsaufstieg schildert.

(2) Weiterhin ist die von „Israel Besh von Tłuste“ bezeugte Anfrage an einen gewissen Me’ir von Konstantinów überliefert, in der es um das korrekte Schächten einer Kuh geht.

(3) Ein zweiter Brief des Israel ben Eli’eser erblickte das Licht der Öffentlichkeit erst im Jahre 1885. Er war an den Gelehrten Mosche von Kutów gerichtet und wurde von dessen Urururenkel Israel Halevi Kutover im Anhang seines Kommentars zum Schulchan Arukh gedruckt. In ihm geht es um Heilung und Medikationen.

(4) Die Legendensammlung Schivchè ha-Besch“t enthält indirekte Zitate aus weiteren Briefen; darüber hinaus jedoch eine komplette Kopie eines Schreibens an Jakob Josef von Połonne, das sich gegen dessen allzu intensives Fasten richtet (Grözinger, Geschichten I, S. 58–59).

Aus den genannten vier Selbstzeugnissen ergibt sich das Profil eines gut in die vorfindlichen Strukturen integrierten Ba’al Schem und Kabbalisten, der über ein beachtliches Niveau traditioneller Bildung verfügte und – ganz im Sinne der Chassidim alter Prägung – eine strikte Interpretation des Schächtens unterstützte. Offensichtlich genoss er die Anerkennung rabbinischer Gelehrter, wie etwa des Mosche von Kutów oder des Me’ir von Konstantinów (Rosman, Founder, S. 117–126).

|42|Erkenntnisse aus den ArchivenDie Funktionen des Israel ben Eli’eser als eines anerkannten Ba’al Schem und Kabbalisten lassen die Vermutung zu, dass er auch in nichtjüdischen Quellen seine Spuren hinterlassen haben könnte: Immerhin gehörte er zur Elite einer seinerzeit bedeutenden jüdischen Gemeinde und verfügte als Heiler auch über zahlreiche Kontakte zu Christen der Region. Tatsächlich finden sich in den Czartoryski-Archiven, die derzeit in der gleichnamigen Bibliothek in Kraków lagern, die Grundsteuerregister von Międzyboż der Jahre 1740 bis 1763, in denen der Besch“t selbst und einige seiner Familienangehörigen als Bewohner des der Gemeinde eigenen Hauses identifiziert werden. In ihnen wird Israel ben Eli’eser als „Balsem“ (1742) bzw. „Balsam“ (1758) oder gar als „Balszam Doktor“ (1760) geführt; im Jahre 1763 wird anstelle des Besch“t dessen Sohn Herszko (Hirsch) als Haushaltsvorstand genannt. Zu den in den Steuerlisten erwähnten Personen, die im fraglichen Haus lebten, gehörten ferner ein Schreiber des Besch“t, zwei seiner Vertrauten sowie Jechi’el Michel Aschkenasi von Złoczów (1726–1781).

Aus dem Steuerregister ergibt sich, dass der Ba’al Schem ab etwa 1740 zum Kabbalisten von Międzyboż avancierte und zu diesem Zweck weitere Personen um sich versammelte, die im besagten Haus studierten und beteten und dafür von der jüdischen Gemeinde entlohnt wurden (vgl. Rosman, Founder, S. 167).

Die Schivché ha-Besch“tDie Schivché ha-Besch“t („Preisungen des Besch“t“), die umfangreichste und gleichzeitig maßgebliche Sammlung von Legenden über den Ba’al Schem Tov, bilden die Basis der gesamten chassidischen Hagiographie (Grözinger, Geschichten I, S. XIV). Sie erschienen zunächst im Jahre 1814 in hebräischer Sprache. Ab 1815 folgten dann auch jiddische und weitere hebräische Editionen. Auch wenn die Legenden ursprünglich in jiddischer Sprache erzählt worden sind, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass den schriftlichen Versionen derselben Sprache der Vorrang vor den hebräischen zu geben ist (vgl. die Diskussion bei Grözinger, Geschichten I, S. XXXII–XXXIV). Beide Editionsformen zielen auf ein je eigenes Publikum: Die hebräischen Ausgaben verfolgen einen eher gelehrten Anspruch; die jiddischen – die von sich behaupten, Übersetzungen aus der heiligen Sprache zu sein – wenden sich an einen breiteren Adressatenkreis.

Die Schivché ha-Besch“t orientieren sich inhaltlich und formal an den Legenden über Jitzchak Luria, wie sie zum Beispiel in den Schivché ha-Ar“i vorliegen. Die „Preisungen des Besch“t“ enthalten Erzählungen von zwei Tradentenkreisen. Von den etwa 250 Texten werden zwanzig auf Alexander Schochet, zeitweilig Schreiber des Besch“t und späterer Schächter in Biała Cerkiew, zurückgeführt. Dessen Schwiegersohn Dov Ber hat sie nach eigenem Bekunden aufgeschrieben |43|(Berger, Memorabilia, S. 383). Die übergroße Mehrheit der Erzählungen, unter ihnen die gesamte Tradition zu Kindheit und Frühzeit (Grözinger, Geschichten I, S. 9–14.19–29), stammen vermutlich aus Handschriften, die dem Umfeld des Begründers der Chabad-Lubawitscher Chassidim, Schne’ur Salman von Ljady (1745–1813), zuzurechnen sind. Manche der nüchtern gehaltenen Auskünfte des Alexander Schochet, wie sie in den Schivché ha-Besch“t enthalten sind, können durchaus als authentische Berichte über das Wirken des Ba’al Schem Tov gelten (vgl. Grözinger, Geschichten 1, S. 30–31). Andere Erzählungen, wie zum Beispiel jene über Adam Ba’al Schem Tov (ibid., S. 14–19.30), sind so unverhohlen nach älteren jüdischen Traditionen gestaltet, dass so gut wie nichts zum spezifischen historischen Kontext Passendes darin zu finden ist.

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