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|61|5.2. Kabbalistische Gesellschaftskritik: Das Konzept des Jakob Josef

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Kabbalistische GesellschaftskritikDer ungewöhnliche Ansatz Jakob Josefs zeigt sich jedoch auf jenen Druckseiten allenthalben. Anders als bei vielen seiner kabbalistisch inspirierten Zeitgenossen spielten kosmologische Spekulationen oder die detaillierte Beschreibung innergöttlicher Prozesse bei ihm allenfalls eine Nebenrolle. Ausgangspunkt und Zentrum seines Denkens bildete vielmehr die tatsächliche Lebenssituation des jüdischen Volkes in Osteuropa ausgangs des 18. Jahrhunderts. Letztlich entwarf er eine Art kabbalistische Gesellschaftskritik – ein höchst erstaunliches, wenn nicht gar einzigartiges Unterfangen.

Die Sphäre des AlltagsDie besondere Aufmerksamkeit, die Jakob Josef auf soziale Belange richtete, war im Grunde mit der Konzeption der Avoda be-Gaschmi’ut (dem Gottesdienst in Körperlichkeit) bereits durch den Ba’al Schem Tov angelegt. Wenn es dem Menschen aufgetragen ist, den Ewigen mit allen Worten und Handlungen, mit seiner gesamten Physis zu realisieren, dann erfordert dies eine sorgfältige Auseinandersetzung mit der Sphäre des Materiellen, Alltäglichen und Physischen (Schatz, Hasidism, S. 52–53). Wie sein verehrter Lehrer, so betonte auch der Maggid von Połonne die Bedeutung der Buchstaben des hebräischen Alefbets für den Bestand der Welt, allerdings mit charakteristischen Eigenheiten:

Wenn aber [die Welt] mit einem [Schöpfungs-]Wort geschaffen worden wäre, dann hätte sich die Einheit entfaltet. [Darin liegt] eine gewaltige Lektion: Wenn nämlich die Frevler ursächlich daran beteiligt sind, Spaltung in der Welt zu wirken, so wird ihre Strafe gewaltig sein. […] Es wird aber guten Lohn für die Gerechten geben, bei denen es Einheit gibt und welche die Einheit in der Welt verursachen und die Welt mittels der Einheit erhalten. […] Das ist, was geschrieben steht: ‚Sie alle hast du mit Weisheit gemacht‘. [Ps 104,24] Soll heißen: das Umschließende [כלל] der 22 Buchstaben, durch welche die Welt geschaffen wurde, ist der Buchstabe Jud [d.i. die Śefira Chokhma, Weisheit; Zahlwert 10], denn er ist in der Weisheit umschlossen. Und von diesem wird die Form aller 22 Buchstaben ausgespannt, denn er [Jud] ist die Materie und die Form aller Buchstaben. Dies aber ist: ‚Sie alle hast du in Weisheit gemacht‘ – im Gedanken ist alles umschlossen. Und durch das Gesprochene werden die zehn Śefirot verursacht, wie ich von meinem Lehrer hörte: Dies bezieht sich auf das Wort Gottes [?] – und wie es diese Sache in der Welt gibt, so auch in der Zeit [wörtlich: im Jahr] und ebenso auch in der Seele des Menschen. Denn die vollkommen Glaubenstreuen Israels, welche in der Gestalt des Weisen bereitet sind: jenes ist die tiefe Bedeutung der Weisheit und des Gedankens. Wie unsere [rabbinischen] Weisen, ihr Andenken sei zum Segen, sagten: ‚Israel stieg in Gedanken auf.‘ Und wenn es eine Verbindung der Volksmassen mit den Weisen gibt, die das Denken sind, dann ist das All umschlossen in der |62|Weisheit und der Einheit Gottes – und somit schuf Gott das, was existiert. (Jakob Josef, Ben Porat, 13a–b)

Einheit und SpaltungIm Konzept des Ba’al Schem Tov diente die ‚Schöpfung durch das Alphabet‘ dazu, die Verbergung göttlicher Essenz in allen Teilen der Welt zu begründen: „Kein Ort ist leer von IHM.“ Für seinen Schüler ist das schlechthin alles Entscheidende die Einheit, auf die hin Gott Seine Schöpfung ausgerichtet hat. Sie wird in dem einen Buchstaben (Jud) angelegt, der Form und Materie alles (künftig) Existierenden in sich birgt und abbildet. Im Zahlwert des Buchstaben Jud (zehn) bilden sich die zehn Worte der Schöpfung ebenso ab wie die Zehn Gebote – und dies in der Einheit eines Buchstaben. Damit sind die entscheidenden Stichworte des theosophischen Entwurfs Jakob Josefs genannt: Alles, was existiert, wurde in einer dialektischen Dualität aus Form und Materie geschaffen, aber auf Einheit hin angelegt. Die Dualität von Form und Materie charakterisiert jedoch nicht nur die binäre Struktur des Geschaffenen, sondern ist zugleich eine anthropologische und soziale Gegebenheit. So, wie sich die Form der Dinge der Materie aufprägt, so gibt es auch Menschen und Völker „der Form“ und „der Materie“, die sich aufeinander zu ordnen sollen.

Form und MaterieDer Mensch wurde nämlich aus Materie [חומר] und Form [צורה] geschaffen. Diese aber sind zwei Gegensätze, denn die Materie folgt der Widerspenstigkeit physischer Materie, denn sie ist „Schale“ (K’lippot). Die Form aber strebt und sehnt sich nach geistigen Dingen, und das Ziel der Schöpfung des Menschen [besteht darin], dass er aus Materie Form macht. Und es wird eine Einheit sein, und es wird keine getrennten Dinge geben. Und so, wie es das Ziel des einzelnen Menschen ist, so auch in der Gesamtheit des israelitischen Volkes: [Diejenigen, die] ‚Leute der Masse‘ oder Ungebildete [עמי הארץ] genannt werden, beschäftigen sich entsprechend ihrer Bestimmung mit erdgebundenen Dingen der Materie – daher sind sie ‚Materie‘. Was aber die Zaddikim betrifft, so beschäftigen sie sich mit der Tora und dem Gottesdienst. Sie sind Form. Und die Bestimmung ihres Ziels ist, dass sie aus Materie Form machen, wie gesagt ist: [Mal 2,7] ‚Die Lippen eines Priesters usw. und viele ließ er umkehren von Schuld‘ usw. Und so, wie es im Einzelnen beim Volk Israel ist, so auch im Allgemeinen der Welt, denn es gibt 70 Völker, die die Zweige des heiligen Baums ergreifen; und Israel, welches die Wurzel des Baumes ergreift. Und es ist nötig, dass Israel die Fülle [Gottes] für alle 70 Völker sich fortsetzen lässt […] und dadurch empfangen die 70 Fürsten ihre Fülle durch Israel und werden unter die Hand der Heiligkeit gezwungen – so wird die Materie der Form unterworfen und alle Zweige leuchten. Dann nämlich sind sie Volk Israel und schmiegen sich an Seinen großen Namen, welcher […] der Baum des Lebens ist, von dem aus sich die Fülle für alle fortsetzt. […] Und Israel und die Völker sind in die eine Gestalt des vollständigen Menschen umschlossen, dieser nämlich [als] Materie, [als] Fleisch-Mensch, und jener [als] innerer Mensch, [als] Form hinsichtlich der Materie. Dies ist der besondere Mensch [wörtlich: |63|vereinigter Mensch; אדם המיוחד], d.i. dass Materie und Form vereint sind, damit die Materie der Form unterworfen werden kann – denn dies ist das Ziel der Schöpfung der Welt. (Tol’dot Jakob Josef, Vorwort, fol. 5c)

Milde und StrengeDer Riss, der sich durch den ganzen Kosmos zieht, findet sich im Grunde bereits in Gott selbst angelegt, der ebenfalls gegensätzliche Aspekte in sich vereinigt. Für Jakob Josef besonders wichtig sind dabei die Aspekte von Milde (חסד/Chessed) und Recht (דין/Din). Es sind dies die zwei grundsätzlichen Perspektiven, nach denen der Ewige das Treiben seiner Geschöpfe beurteilt. Diese Anschauung geht auf die rabbinische Überzeugung zurück, Gott würde sich bei seiner Betrachtung der Welt entweder auf den Thron der Milde (Chessed) oder den des strengen Gerichts (Din) begeben. In der Kabbala wurde das Konzept der zwei Perspektiven (מדות/Middot) in das System der Śefirot integriert. Es vermittelt die Überzeugung, dass weder schiere Strenge noch ständige Nachsicht für die Welt heilsam sein kann. In Bezug auf den Aspekt des Din leuchtet dies unmittelbar ein: Immerhin ereignen sich hienieden ziemlich viele Dinge, die in den Augen Gottes völlig unakzeptabel sind. Würde sich der Ewige nun ausschließlich in der Perspektive strengen Gerichts mit diesen Vorkommnissen auseinandersetzen, dann müsste die Welt verurteilt werden, dann hätte die Schöpfung keinen Bestand. Würde jedoch der Ewige seine Geschöpfe nur unter dem Blickwinkel der Milde (Chessed) betrachten, dann funktionierte die Welt genauso wenig: Das elementare Streben nach Recht und Gerechtigkeit würde konterkariert. Und: etwas Strenge braucht es bekanntlich schon, um aus jungen Wilden nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu formen.

Es musste also ein Ausgleich, eine Harmonie zwischen Strenge und Milde hergestellt werden. Die von Jakob Josef konstatierte Spaltung in Gott könnte sonst die Welt ins Nichts stürzen. Der theologisch beschriebene Gegensatz findet jedoch auch im Weltenbau sein Echo. In kosmologischer Hinsicht kann man ihn, wie erwähnt, als Gegensatz zwischen Form und Materie fassen. Etwas Ähnliches findet man übrigens in der Ontologie des Aristoteles. Vieles, was existiert, besteht, um etwas daraus zu formen. Man prägt also einer Materie (zum Beispiel einem Stück Holz) eine bestimmte Form (zum Beispiel einen Stuhl) auf. Dies setzt allerdings voraus, dass Form und Materie zueinander finden, sonst ist nichts. Auch hier wird Einheit und Harmonie zum Ziel, Trennung gilt als unheilvoller Zustand.

Körper und SeeleDiesen Grundansatz überträgt Jakob Josef auch auf die Gesellschaft. Ihm zufolge gibt es innerhalb der menschlichen Gemeinschaft „Formmenschen“, welche eine Gruppe prägen und anleiten, |64|sowie „Materiemenschen“, welche ihrerseits Anleitung benötigen. Darüber hinaus trägt auch jeder einzelne Mensch diesen Gegensatz in sich; der konstatierte Riss hat auch eine anthropologische Dimension. Jakob Josef beschreibt ihn als die Grundspannung zwischen Körper und Geist bzw. Seele. Dabei fungiert der Körper als Materie, die von der Seele bzw. vom Geist geformt werden sollte. Es ist unmittelbar evident, dass es auch im Menschen selbst zu einer inneren Harmonie und Einheit zwischen den beiden Antagonisten kommen muss.

Exil und HeimkehrEin selbiges gilt auch für die Geschichte, für die Geschichte Israels ebenso wie für diejenige der Menschheit. Das angestrebte Ideal der Einheit wäre in diesem Fall die Heimkehr der Juden ins Gelobte Land. Die beklagenswerte Wirklichkeit ist die Trennung von ihm, das Exil. Für die Weltvölker bestünde das erstrebenswerte Ziel in der Gemeinsamkeit mit Israel, das als ‚Form‘ dem Rest der Menschheit einen Anteil an der göttlichen Fülle vermittelt. Das Ziel der Geschichte, die Erlösung, besteht – wie sich nunmehr denken lässt – darin, dass die Spaltung auf allen Ebenen (theologisch, kosmologisch, sozial, anthropologisch, historisch) in Einheit und Harmonie überführt wird. Dies ist das Grundkonzept des Jakob Josef, welches er in den Tol’dot Ja’aqov Josef vorstellt.

Einheit in GottDie Aufgabe, jene Einheit herbeizuführen, ist allein Israel auferlegt. Das jüdische Volk muss versuchen, die Einheit Gottes und der Welt wiederherzustellen. Erst dann würde der in der Schöpfung angelegte Weltenplan realisiert. Dies Konzept findet seinen Ausdruck im Alenu-Gebet, das mit einem Wort des Propheten Sacharja schließt, da es heißt:

An jenem Tage wird der Ewige EINS sein und sein Name EINS. (Sach 14,9)

GOTT (theologische Perspektive): Chessed/Milde (Śefira IV) GOTT (theologische Perspektive): Din/Strenge (Śefira V)
STRUKTUR (ontologisch): Form (Zura) STRUKTUR (ontologisch): Materie (Chomer)
WELT (kosmologisch): Himmel/Sonne (Śefira VI) WELT (kosmologisch): Erde/Mond (Śefira X)
MENSCH (anthropologisch): Seele/Geist MENSCH (anthropologisch): Körper
SEELE (psychologisch): Größe, Begeisterung, Gottnähe SEELE (psychologisch): Kleinheit, Depression, Gottferne
|65|GESELLSCHAFT (soziologisch): Menschen der Form, Elite GESELLSCHAFT (soziologisch): Menschen der Materie, Masse
GESCHICHTE (historisch): Israel; Heimkehr GESCHICHTE (historisch): Siebzig Weltvölker; Exil
TELEOLOGISCH (soteriologisch) Einheit TELEOLOGISCH (soteriologisch): Spaltung

Die Doppelstruktur der Welt bei Jakob Josef von Połonne

Die bittere Wahrheit ist, mindestens Jakob Josef zufolge, dass in seiner Welt, in der jüdischen Gemeinschaft ausgangs des 18. Jahrhunderts, von Einheit und Harmonie rein gar nichts zu erkennen ist. Die Gelehrten, die „Menschen der Form“, verschanzten sich hinter ihren Büchern und die ungebildeten „Materiemenschen“ waren vollauf damit befasst, sich ihren Lebensunterhalt zu erkämpfen. Der einstige Rabbiner von Szarogród befürchtete gar den Untergang seiner jüdischen Welt, sollte sich an der tiefen Spaltung des Volkes nicht bald etwas ändern.

Kritik an den gelehrten ElitenDie Dekadenz oder die Defizite der eigenen Zeit zu beklagen, erscheint auf den ersten Blick nicht wirklich aufregend oder skandalträchtig. Viele Menschen tun dies. Was jedoch Jakob Josef die Aufmerksamkeit und die heftige Abneigung vieler seiner gelehrten Kollegen einbrachte, war der Umstand, dass er den Eliten die Hauptverantwortung für die unbefriedigende Situation seiner Gegenwart zumaß. Seine Kritik richtete sich eben nicht (wie sonst üblich) an die Ungebildeten, welche in ihrer Herzenseinfalt ein allenfalls ansatzweise frommes Leben führten, sondern an diejenigen, die sie hätten formen sollen. Er warf den Eliten vor, die jüdische Tradition nur als eine Art intellektueller Gymnastik zu betreiben. Anstatt aus dem Talmud immer kompliziertere Problemfälle heraus zu destillieren, täten sie besser daran, Verantwortung und Respektam Schabbat in der Synagoge den einfachen Menschen zu Herzen zu reden. Ähnlich der westeuropäischen Erweckungsbewegung versuchte Jakob Josef, die gegenseitige Abschottung und Respektlosigkeit zwischen Eliten und Volk dadurch aufzubrechen, dass er die Gelehrten an ihre Verantwortung für die einfachen Menschen erinnerte. Schließlich stellt sich aber doch die spannende Frage, wie denn die angestrebte Einheit der Welt zu bewerkstelligen sei, besonders wenn man berücksichtigt, dass der Hauptakteur bei der Harmonisierungsmission selbst zutiefst in sich gespalten ist! Wer sollte also zunächst einmal Israel einen?

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