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IRRTUM 3: Tacitus war ein Augenzeuge

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Es war im Herbst des Jahres 1943. Benito Moussolini war im Juli abgesetzt worden. Italien hatte das Bündnis mit Hitler verlassen, Wehrmacht und SS daraufhin das Land besetzt. Parallel begannen alliierte Truppen im September über Sizilien mit der Invasion des damaligen Königreiches. Vor der Villa des Grafen Aurelio Balleani, 15 Kilometer von Ancona an der Adria und unmittelbar südlich des Klosters Jesi, halten Fahrzeuge der SS. Die schwarz gekleideten Männer durchsuchen das Haus und verwüsten das Anwesen. Doch das, was der „Reichsführer-SS“, Heinrich Himmler hier zu finden erhoffte, war nicht da: Der Codex Aesenias, die älteste erhaltene Abschrift eines nur 30 Seiten umfassenden Büchleins, verfasst um das Jahr 98 n. Chr. von einem Senator und Schriftsteller in Rom mit dem Namen Publius Cornelius Tacitus: Die Germania.

Der italienische Historiker Arnaldo Momigliano zählte die Germania nach dem Ende des NS-Regimes zu den „hundert gefährlichsten Büchern, die je geschrieben wurden.“ Zuletzt hat der Philologe Christopher B. Krebs in seinem Buch „Ein gefährliches Buch. Die ‚Germania‘ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen“ lesenswert nachvollzogen, wie die kleine Schrift des römischen Schriftstellers und Politikers dazu werden konnte.

Himmler war nicht ohne Grund so hinter dem Codex Aesenias her. Nachdem um 1450 nach Jahrhunderten des Vergessens aus der verstaubten Bibliothek des Klosters Hersfeld eine Abschrift der Germania nach Rom gelangte, machten zuerst italienische Humanisten und bald darauf auch die deutschen Reformatoren im Umfeld Martin Luthers aus den Germanen die ersten Deutschen. Die Germania wurde zum Ausgangspunkt deutscher Geschichte. In zahlreichen Büchern zeichneten die deutschen Humanisten ein Germanen-Idyll, dessen Grundlage die kleine Schrift des Tacitus war – wobei sie ihr vor allem die positiven Eigenschaften entnahmen: Dass die Germanen ein Volk von Zechern und Raufbolden waren, verschwiegen sie lieber. Der Philologe Jacob Grimm meinte im 19. Jahrhundert: „Durch eines Römers unsterbliche Schrift war Morgenroth in die Geschichte Deutschlands gestellt worden, um das uns andere Völker zu beneiden haben.“

Die Germania fand nach ihrer Entdeckung auch international Anklang. Der Franzose Charles de Montesquieu etwa schrieb 1748, die englische Verfassung sei germanischen Ursprungs, denn: „Wenn man das bewundernswerte Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen liest, dann wird man sehen, dass die Engländer die Idee ihres politischen Regiments von ihnen übernommen haben.“

Nach den Befreiungskriegen ab 1813 trieb die Behauptung des Tacitus, die Germanen hätten sich nicht mit anderen Völkern vermischt, einen verhängnisvollen Germanenmythos an. Die Philosophen und Schriftsteller beschworen die alten Tugenden und die reine Abstammung der Deutschen. Die Germanen avancierten in den sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Konstrukten der Rassentheorien zur edelsten Rasse unter den Ariern (s. Irrtum 15) – seinen Ausgang hatte auch das mit der Germania des Tacitus genommen.

Zwar haben auch andere Römer und Griechen außer Caesar und Tacitus die Germanen beschrieben. Strabon etwa hatte unzählige Nachrichten über sie in seiner großen „Geographie“ zusammengetragen. Livius hatte den Germanen in seinem Geschichtswerk einen Exkurs gewidmet. Plinius der Ältere hatte zwanzig Bände „Germanienkriege“ verfasst. Die meisten dieser Aufzeichnungen sind verschollen. Doch Tacitus hatte die Jahrhunderte vollständig überdauert. Seine kleine Schrift war von Sklaven von Papyrus auf Pergament und Jahrhunderte später von mittelalterlichen Mönchen im Schein von Kerzenlicht in Codices kopiert worden. Doch bald nachdem die Germania aus „den Kerkern der Barbaren“ befreit worden war, um die Worte des Bücherjägers Poggio Bracciolini zu gebrauchen, war die Abschrift wieder verschollen.

1902 kam der Codex Aesenias ans Licht. Der Name stammt vom zeitweiligen Aufbewahrungsort Jesi am Fluss Aesis (Esino). Die darin enthaltene Germania sind Abschriften des Kanzlers von Perugia Stefano Guarnieri aus dem 15. Jahrhundert, die wiederrum auf karolingerzeitliche Abschriften zurückgehen. Der Codex fand sich in der Privatbibliothek des Grafen Balleani. Seine Existenz machte Cesare Annibaldi, ein Altphilologe aus Jesi, publik. Damit gab es einen Ersatz für die verlorene Abschrift aus dem Kloster Hersfeld.

Hitler hatte auf Drängen Himmlers schon 1936 Mussolini um Überstellung des Codex gebeten, doch stattdessen 1943 lediglich schwarzweiß-Fotos erhalten, die zudem, wenn auch geringfügig, verkleinert waren. Der Codex verblieb im Eigentum der gräflichen Familie in Italien, wo er im Jahr 1966 durch ein Hochwasser des Arno Schaden erlitt.

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