Читать книгу Bulle - Valentin Gendrot - Страница 12

Kapitel 8

Оглавление

Mein Leidensweg beginnt eines Freitagmorgens während des Unterrichts bei Chef Goupil. Ich bin jetzt einen Monat an der Polizeischule, und auf einmal lässt mich ein Satz im Strom der Worte meines Lehrers erstarren.

»Ich weiß nicht, ob Sie Dienstagabend Cash Investigation gesehen haben …«

Ich erröte bis an die Ohren. Er meint die Dokumentation, die ich vor einigen Monaten für France 2 gedreht habe. Meine erste und bisher einzige Arbeit fürs Fernsehen, eine Undercoverreportage bei Lidl mit versteckter Kamera im Knopfloch. Am Ende der Reportage habe ich mich leider dazu hinreißen lassen, mich in einer Pariser Kneipe offen filmen zu lassen. Ich trete unter meinem dritten Vornamen Raphaël auf, aber mein Gesicht ist zu sehen. Wie sollte ich auch ahnen, dass ich beim Sendetermin schon wieder undercover arbeite?

Als Goupil jetzt davon anfängt, gebe ich einem lächerlichen Reflex nach: Ich tauche unter den Tisch ab und gebe vor, ich wolle einen zu Boden gefallenen Stift aufheben … Ich stecke den Kopf in den Sand wie der Vogel Strauß und warte, dass der Augenblick vorübergeht. Ich würde am liebsten im Erdboden versinken.

Seit 2014 habe ich mich in meiner journalistischen Arbeit ein bisschen auf Undercoverreportagen spezialisiert. Angefangen habe ich als Fließbandarbeiter in einer Schokoladenfabrik in Villeneuve-d’Ascq. Dann habe ich in einem Callcenter angeheuert, bin als Vertreter für Gas- und Stromlieferverträge von Tür zu Tür gegangen, war Inkassoagent bei der großen Kreditbank Cofidis, schließlich wieder Fließbandarbeiter, diesmal bei Toyota. Diese fünf Undercoverreportagen habe ich in einem ersten Sammelband unter dem Titel Les Enchaînés herausgebracht.

Die Idee zu Cash Investigation kam von der Produzentin der Sendung, mit der ich befreundet bin. Die Regisseurin suchte jemanden, der die Arbeitsbedingungen bei der deutschen Discounterkette verdeckt dokumentieren konnte. Für meine sechste Undercoverreportage habe ich mich zu einem höllischen Arbeitstempo antreiben lassen, erlebt, wie die Kollegen schon mit Ende 20 einen kaputten Rücken hatten, und mir von einem Computerprogramm Arbeitsanweisungen direkt aufs Ohr geben lassen. Die Schwierigkeit bei diesem Einsatz bestand nicht darin, nicht aufzufliegen, sondern sich von dieser menschenunwürdigen Behandlung zwei Monate lang nicht unterkriegen zu lassen.

In den ganzen vier Jahren bin ich noch nie enttarnt worden. Jetzt erst, während ich unter dem Tisch so tue, als suchte ich meinen Stift, wird mir klar, wie unvorsichtig mich das gemacht hat. Warum habe ich unbedingt mein Gesicht in die Kamera halten müssen? Damit gefährde ich jetzt nachträglich womöglich meine Tarnung bei der bisher gewagtesten Undercoverreportage.

Chef Goupil meint allerdings einen anderen Beitrag, der in der Sendung gelaufen ist – nicht meinen, sondern einen Fall von Mobbing, der in den letzten Tagen ziemlich bekannt geworden ist, seit ein kurzer Ausschnitt im Internet kursiert. Vielleicht hat er nur diesen Teaser gesehen.

»Es kann Ihnen durchaus passieren, dass Sie es auch mit solchen Fällen zu tun bekommen«, schließt er und geht zu einem anderen Thema über.

»Papy, suchst du was?«, fragt mich Mickaël-das-Muskelpaket amüsiert.

Ich tauche aus meinem Loch wieder auf.

»Meinen Stift«, erwidere ich ausdruckslos.

»Auf dem Tisch …«

»Scheiße, was bin ich für ein Idiot.«

Den Vormittag verbringe ich mit ungeduldigem Warten auf das Ende der Dienstwoche. Freitagmittag heißt, dass ich zu meinen Eltern zurückfahren kann. Als ich sicher im Auto sitze, atme ich erleichtert auf und versuche nur noch an das schöne Wochenende zu denken, das vor mir liegt: Ich werde meinen Vater im Rollstuhl herumfahren, ein paar Runden kicken und anschließend mit den Fußballkumpels einen trinken gehen, und vor allem werde ich diese Anstalt und ihre Insassen hinter mir lassen. Schlaf nachholen will ich auch. Danach wird alles gleich ganz anders aussehen.

Als ich am Sonntagabend wieder in die Polizeischule fahre, bin ich mir nicht mehr so sicher. Mit dem Koffer in der Hand drücke ich die Tür zu unserer Stube auf.

»Salut, ihr Möchtegernpolizisten!«, grüße ich gespielt lässig. »Schönes Wochenende gehabt?«

Ich schüttele allen die Hand: Alexis, Romain, Julien, Micka, Clément. Zum Schluss ist Basile dran, der am Fenster steht und seine neuen kabellosen Kopfhörer ausprobiert.

»Salut, Papy!«

Seine Stimme kippt in den betonten Silben manchmal um, als hätte er den Stimmbruch noch nicht ganz hinter sich. Ich räume meine Klamotten in den Schrank, der immer unordentlicher wird. Das Gehäuse meines DVD-Players ist mit Zahnpasta verschmiert. Basil unterbricht mich:

»Übrigens, Papy, ich habe mir die Sendung angeschaut, von der Chef Goupil am Freitag erzählt hat. Komisch, aber da kommt jemand vor, der dir total ähnlichsieht.«

Innerlich krümme ich mich zusammen, äußerlich versuche ich, unbeteiligt zu wirken, und räume weiter meine Sachen ein.

»Was meinst du?«

»Hier, das bist doch du.« Er hält mir das Display seines Smartphones hin.

Er lächelt mit einem Mundwinkel, als habe er den Überraschungseffekt gut vorbereitet.

»Du bist in Wirklichkeit Reporter. Und jetzt machst du eine Undercoverstory über die Polizei.«

Alle Erholung, die mir das Wochenende gebracht hat, verfliegt mit einem Schlag, zusammen mit meinem gesamten Selbstvertrauen. Meine Stimme zittert, meine Knie werden weich. Ich kratze das bisschen Haltung zusammen, das ich noch aufbringe.

»Schon, der Typ sieht mir wirklich verdammt ähnlich. Aber das bin ich nicht.«

»Klar bist du das.«

Ich leugne das Offensichtliche, aber was soll ich sonst tun?

Basile postet einen Bildschirmschnappschuss mit meinem Gesicht aus der Cash-Investigation-Sendung in der Facebook-Gruppe der Abteilung. Damit wissen alle 28 anderen ADS-Polizeischüler der Abteilung 1, dass jemand, der mir erstaunlich ähnlichsieht, im Fernsehen aufgetreten ist und dass dieser Jemand Journalist ist.

Mein schlimmster Albtraum ist wahr geworden. Ich sterbe vor Angst.

Bulle

Подняться наверх