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Kapitel 11

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An einem Donnerstagabend sehen wir uns auf der Stube einen Film an. Alexis hat die lange Fassung von Die Welle auf seinem Streamingdienst gefunden. Chef Goupil hat uns den Film vor ein paar Tagen empfohlen; er handelt von einem Lehrer, der in seiner Oberschulklasse eine unterdrückerische, hierarchische Organisation gründet, um diese Erscheinung umso schärfer bloßzustellen.

Am Tag darauf meint Mickaël vor dem Schießunterricht zu mir:

»Wir sind doch eigentlich auch so wie die im Film. Wir haben unsere Uniformen, wir sind als Gruppe erkennbar, wir haben unsere Erkennungszeichen.«

Er salutiert mit der Hand an der Mütze.

»Wenn man sich’s überlegt, sind wir eigentlich auch so ein autoritärer Haufen.«

Als zukünftige Uniformträger erhalten wir »erweiterte Befugnisse« gegenüber dem Normalbürger, nämlich ihn zu kontrollieren, ihn zu durchsuchen und ihn zum Beispiel durch eine vorläufige Festnahme zu bestrafen. Wie werden wir auf die Verantwortung vorbereitet, die diese Macht mit sich bringt? Wie vermittelt man uns eine solchen Situationen entsprechende Ethik? Die Antwort lautet le code de la déontologie – »der Verhaltenskodex«. Chef Goupil fasst uns den Geist dieser Vorschriften in etwa zehn Stunden zusammen, das ist ungefähr ein Prozent unserer sowieso schon stark gerafften Schnellausbildung.

Ich schaue mir noch einmal meine Mitschriften aus dem Theorieunterricht an. »Die Polizei ist die am stärksten kontrollierte Institution.«

Zu den wichtigen Punkten gehört »der Gehorsam« (Artikel R. 434-5). Der Polizist ist Glied einer hierarchischen Befehlskette. Erhält er auf dem Dienstweg einen Befehl, hat er ihn auszuführen. Außer wenn es ein gesetzwidriger Befehl ist. Gewaltanwendung ist auf legitime Selbstverteidigung begrenzt und genau geregelt, erlaubt »nur soweit notwendig und im angemessenen Verhältnis sowohl zum angestrebten Ziel wie zur Schwere der Bedrohung, je nach den Umständen«. Unparteilichkeit (R. 434-11) heißt, dass der Polizist neutral bleibt und für niemanden Partei ergreift. Er darf weder diskriminieren noch bevorzugen, wenn er interveniert. Schließlich wird auch Rechtschaffenheit (R. 434-9) gefordert, also die Vermeidung jeglicher Korruption und Vetternwirtschaft.

Der Öffentlichkeit gegenüber sind wir verpflichtet, dignité, intégrité, impartialité, loyauté, exemplarité et respect absolu des personnes (»Würde, Integrität, Unparteilichkeit, Treue, Vorbildlichkeit und unbedingten Respekt vor den Menschen«) zu wahren, zusammengefasst in der Abkürzung Diiler. Das soll eine Eselsbrücke als Merkhilfe sein. Wenn man es laut ausspricht, klingt es wie »Dealer«. Immerhin, es ist leicht zu merken.

In der Theorieausbildung kommt Chef Goupil eines Tages auch auf häusliche Gewalt zu sprechen. Ein hochaktuelles Thema. 121 Frauen sind in Frankreich 2018 von ihrem Mann oder Exmann getötet worden. Etwa ein Frauenmord alle drei Tage. In unserer Ausbildung nimmt diese Unterrichtseinheit ganze drei Stunden Platz ein, ein 2014 eingefügter Zusatz. Davor wurde man als ADS-Schüler überhaupt nicht zu häuslicher Gewalt unterrichtet.

Chef Goupil hat es eilig. Rasch geht er die Hilfsangebote der Polizei für solche Situationen durch, insbesondere den telefonischen Notruf speziell für bedrohte Frauen. Ich schreibe mir eine kostenlose Rufnummer auf, die 3919, bei der weibliche Gewaltopfer sich melden können. Es gibt auch noch einen allgemeineren Notruf »für Personen in besonders schwierigen Lagen«. Laut einem Artikel in Le Monde vom März 2019 hat sich die Zahl der Anrufer hier im Lauf eines Jahres verdoppelt.

»Sie werden oft mit solchen Schwachköpfen zu tun haben, die ihre Frau oder Freundin verprügeln«, warnt uns der Chef.

Und das ist alles. Wie sollen wir uns in so einer Situation nun konkret verhalten? Dazu kommen wir später noch. Wir haben zwar genug Zeit, um den richtigen Umgang mit Handschellen und Pistole zu lernen, nicht aber den richtigen Umgang mit einer Frau, die Opfer häuslicher Gewalt geworden ist.

In meinem Mitschriftenheft finde ich auch das Schema des Zyklus der Gewalt, den uns Chef Goupil erklärt hat. Ein Kreis, der sich immer wiederholt: Spannungen in der Beziehung, Streit und Gewaltausbruch, Bitte um Verzeihung, eitel Sonnenschein, dann wieder Spannungen … und immer so weiter, bis zur endgültigen Trennung oder zum Tod.

Nach einer Stunde Vortrag beschließt Goupil die Miniunterrichtseinheit mit der Vorführung des Films Mon roi der Regisseurin Maïwenn. Auf dem Bildschirm schlägt Vincent Cassel die Frau, mit der er in einer verbitterten und erschreckenden Beziehung zusammenlebt. Der Ausbilder schaut sich den Film ein paar Minuten lang an und verlässt den Saal. Alexis ist auf seinem Stuhl eingeschlafen.

Bulle

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