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Gnostische Engel

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Zumindest dem Namen nach bekannter als die Qumranschriften sind die gnostischen Texte aus ungefähr derselben Zeit. Viele dieser Texte waren ebenfalls Zufallsfunde in der Wüste, da die Schriftrollen in dem trockenen Klima ideale Erhaltungsbedingungen vorfanden. Entscheidende Funde wurden ab 1896 in Oxyrhynchos und 1945 in Nag Hammadi in Oberägypten gemacht. Die gnostischen Autoren vermischen biblische Stoffe mit antiker Mythologie, was die offiziellen Kirchen weitgehend abgelehnt haben. Ihre Darstellungen von Engeln weisen einige neuartige Facetten auf.

In einem Text namens Vom Ursprung der Welt14 finden wir eine zankende Brut himmlischer Wesen, die versuchen, einander in ihren Schöpfungsakten zu übertreffen. Zebaoth, Sohn des höchsten Schöpfers Jaldabaoth, lehnte sich gegen seinen Vater und seine Mutter auf, die als „Dunkelheit“ und „Abgrund“ bezeichnet werden, und wandte sich auch gegen seine Schwester, die „über dem Wasser hin- und herging“ (vgl. der Geist Gottes in Genesis 1,2). Er verehrte Pistis (Glaube), die Mutter der Weisheit. Pistis war die Besitzerin der Erzengel. Sie entsandte ihrer sieben, um Zebaoth aus dem sechsten Himmel, seiner Wohnstätte, in den siebten zu entführen, und sie wurden seine Diener. Drei weitere wurden entsandt, um für ihn sein Königreich zu errichten, damit er über das Chaos herrsche. Danach sandte Pistis ihre Tochter Zoë („Leben“, aber auch Sophia, „Weisheit“ genannt), um ihn über den achten Himmel zu belehren, während er sich einen Thron und Palast im siebten errichtete. Der Thron ist ein Thronwagen, auf dem außerdem – in minutiöser Wiedergabe der biblischen Quellen – 64 Cherubim Platz finden. Aus diesen 64 Cherubim zuzüglich der sieben Erzengel und seiner selbst wurden die 72 Götter der Nationen geboren. Zebaoth schuf auch „andere drachenartige Engel namens Seraphim“, die ihn unentwegt rühmten.

Sodann fuhr er fort, eine Versammlung von „Tausenden, Myriaden ohne Zahl“ von Engeln zu erschaffen, die der ursprünglichen Versammlung im achten Himmel gleichen sollte, wo die Sterne wohnen. Mit Leiern, Harfen und Trompeten lobten und rühmten ihn sieben Jungfrauen. Ein Erstgeborener namens Israel sowie Jesus Christus waren bei ihm, während Sophia ihm unentwegt alle Geheimnisse des achten Himmels ins Ohr flüsterte. Es scheint jedoch, dass er sich in seiner Selbstverherrlichung überschätzte. Denn Jaldabaoth schlug zurück und erschuf den Tod, entsandte ihn in den sechsten Himmel und ließ ihn geschlechtlose Kinder gebären. Die sieben Kinder hießen Neid, Zorn, Weinen, Seufzen, Trauer, Jammer und Ächzen in ihrem männlichen Aspekt, und Zorn, Trauer, Wollust, Seufzen, Fluchen, Bitterkeit und Streitsucht in ihrem weiblichen Aspekt. Dann paarten sie sich untereinander und vermehrten sich. Nun folgte eine große Anzahl seltsamer Ereignisse – einige davon düster, andere widersprüchlich, die meisten jedoch erinnern über weite Strecken an biblische Erzählungen. Ein sonderbares Detail ist das Auftreten des Phönix. Hierbei handelt es sich nicht um den einen Phönix der klassischen Mythologie, sondern um drei Phönixe: Der erste ist geistig und unsterblich; der zweite wird ein Jahrtausend alt und gehört dem Reich der Seele und des Geistes an; über den dritten vernehmen wir, dass „in der heiligen Schrift geschrieben steht, dass er verbrannt wird“. Welche „heilige Schrift“ hier gemeint ist, ist nicht bekannt. In der Bibel, wie wir sie kennen, kommt kein Phönix vor. Das Wort „verzehrt“ entspricht völlig der Tradition: Im Abstand von vielen Jahrhunderten brennt Phönix, der mythische Vogel mit seinen flammenden Schwingen, sich selbst zu Asche, um aus derselben wieder aufzuerstehen.15 Noch wichtiger für uns ist hier, dass Phönix als „Zeuge der Engel“ bezeichnet wird. In einer eher ungewöhnlichen Variante der Vertreibung aus dem Paradies wacht Phönix über die bestraften niederen Götter, die aus Eifersucht Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben hatten.

Im Apokryphon des Johannes, einem weiteren gnostischen Text (1. oder 2. Jahrhundert n. Chr.), unterstützen Engel Jaldabaoth bei der Erschaffung Adams.16 Dabei übernehmen sie jeweils verschiedene Aufgaben, die namentlich aufgezählt werden. Die ersten Sieben, „Mächte“ genannt (Güte, Voraussicht, Göttlichkeit, Herrschaft, Königreich, Eifersucht und Verständnis), erschaffen den „geistigen Körper“ des Menschen. Das Miteinander von Gliedern, Organen, Fleisch, Knochen, Zähnen, Venen und Arterien werden von 74 namentlich aufgeführten Engeln erschaffen, die jeweils für einen Teil zuständig sind. Sieben weitere Engel oder Götter beaufsichtigen diese Arbeit – unter ihnen Zebaoth, Kain und Abel –, bevor dreißig weitere Engel die Glieder aktivieren. Dies wird von sieben Aufsehern überwacht, die von Michael und Uriel angeführt werden (und bei denen es sich deshalb vermutlich allesamt um Erzengel handelt). Fünf weitere Engel stehen den Sinnen, der Wahrnehmung, der Vorstellung, der Zusammenstellung (des Individuums) und dem Antrieb zum Handeln vor. Auffällig ist, dass wenige Engelnamen in diesem Text auf dem bekannten Suffix „-el“ enden, das auf eine Verbindung zu Gott hinweist. Die anderen Engelnamen in diesem Text stammen sehr wahrscheinlich aus einer anderen Tradition. Doch nicht nur Engel, sondern auch Dämonen sind dem Körper zugeteilt: Hitze, Kälte, Nässe und Trockenheit. Materie ist die Mutter dieser Dämonen, und noch weitere Dämonen beaufsichtigen die Zusammenstellung des menschlichen Leibes sowie von Lust, Verlangen, Trauer und Furcht. Aus Letzteren folgt ein Heer von weiteren Dämonen, bis ihre Anzahl schließlich 365 beträgt – und sie alle wirken daran mit, Leib und Seele des Menschen zu erschaffen.17 Über die weiteren Leidenschaften walten weitere Engel, die jedoch leider nicht genannt werden – der Text verweist den Leser auf „das Buch des Zoroaster“, das leider bislang unauffindbar ist.

Wie auch im vorhergehenden Text (Vom Ursprung der Welt) ist Jaldabaoth hier ein Wesen der Dunkelheit. An einer Stelle wird er sogar mit Samael identifiziert, dem Teufel.18 Und doch ist er in der Lage, strahlendes Licht zu schaffen. Er paart sich mit der Unbekümmertheit und widmet sich der Erschaffung von Engeln, um die sieben Himmel und die fünf Tiefen des Abgrunds zu bevölkern. Er erschafft den Menschen (Adam), „auf dass dieses menschliche Abbild uns Licht spende“. Die Menschen müssen sich nun gegen die Engel des Bösen und die Dämonen des Chaos zur Wehr setzen, um nicht dort zu enden, wo „die Engel des Bösen hingehen, wo es keine Vergebung gibt“. Doch die Seele, die deren Einfluss meidet, wird ewigen Frieden finden. Die Erschaffung Evas, ihre Verführung durch Jaldabaoth sowie die Ankunft der Engel, um sich mit den Töchtern der Menschen zu paaren, all diese Dinge sind in dieser Geschichte miteinander verwoben.

Der Großteil dieser gnostischen Texte ist sehr verwirrend und manchmal sogar verstörend. Mit großer Erleichterung begegnen wir im Zeugnis der Wahrheit einer einfachen Liste von Fragen:

Wer aber ist das Licht? Und wer ist die Finsternis? Wer aber ist es, der die Erde geschaffen hat? Wer ist Gott? Wer aber sind die Engel? Was ist Seele und wer ist Geist? Und woher ist die Stimme? Wer aber ist es, der redet, und wer, der hört? […] Warum sind einige Krüppel, einige aber blind […], einige reich, einige aber arm?19

Kaum weniger merkwürdig sind gnostische Werke, die uns in edierter oder zensierter Gestalt vorliegen, wie etwa das dem Gnostiker Justin zugeschriebene Buch Baruch, das uns in den Philosophumena (auch bekannt unter dem Namen Refutatio omnium haeresium, dt. „Ablehnung aller Häresien“) des christlichen Theologen Hippolyt von Rom (170–235 n. Chr.)20 erhalten ist. Darin finden wir eine kuriose Anzahl von „Primärengeln“, die aus der Vereinigung von Gott und Erde geboren wurden, hier Elohim und Edem genannt. Edem wird hier als böse dargestellt oder zumindest als halbwegs böse, da sie unser Mitgefühl erregt, als sie von ihrem geliebten, aber törichten Elohim verlassen wird. Obwohl es sich bei ihm um den Schöpfergott handeln soll, ist er nur zweitrangig, da das Gute, was das Höchste ist, ihn gesandt hat. Im Laufe der Handlung offenbart sich, dass der Autor versucht, jüdische, christliche und griechische Mythologie miteinander zu kombinieren. Er führt Moses, Jesus und Herakles als Figuren ein und setzt das plotinische pleroma, die Fülle des Guten, mit Priapus gleich, den griechisch-römischen Gott der Fruchtbarkeit.

Aus der Vereinigung von Elohim und Edem, die ein einmaliges Ereignis gewesen zu sein scheint, werden in zwei Würfen jeweils zwölf Engel geboren. Die ersten zwölf folgen ihrem Vater. Unter ihnen sind Michael und Gabriel, aber auch Baruch, Amen und Esaddaeus. Die anderen Namen sind verschollen. Die mütterlichen Engel sind Babel, Achamoth, Naas, Bel, Belias, Satan, Sael, Adonaios, Kauithan, Pharaoth, Karkamenos und Lathen. Die jeweils dritten Engel in jeder Gruppe haben eine besondere Bedeutung. Sie stehen allegorisch für die zwei großen Bäume des Garten Eden. Baruch, dessen Name „Gesegnet“ bedeutet, ist der Baum des Lebens, während Naas, dessen Name naḥash (Schlange) entspricht, der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist. Diese beiden Engel führen jeweils ihre Gruppe an. Die mütterlichen Engel beherrschen den Kosmos. Sie bewegen sich in kreisförmiger Wiederholung in festen Intervallen. Die väterlichen Engel scheinen sich vom Reich der Materie eher fern zu halten.

Indes erschafft Elohim die Menschheit, in der sein Geist gefangen ist. Doch er erklimmt die höheren Ränder des Himmels und sieht ein Licht, das stärker ist als jedes, das er selbst je erschaffen hat. Er erkennt, dass er nicht „der Herr“ ist, wie er dachte. Er erhält Erlaubnis, das Tor zu passieren und bei dem Guten zu verweilen, wo er „sah, was das Auge noch nicht gesehen, noch das Ohr je vernommen und was noch nicht in das menschliche Herz eingedrungen ist“. Er wird eingeladen, zur Rechten des Guten Platz zu nehmen. Beschämt will er den Kosmos zerstören, den er erschaffen hat, weil er den Geist gefangen hält. Doch das Gute bittet ihn, zu bleiben und die Schöpfung Edem zu überlassen. Der Kosmos könne nicht schlecht sein, wenn er letztlich vom Guten stammt. Elohim hat das Tor zum Guten ohne seine Engel durchschritten. Edem dagegen hat ihre Engel noch, die ihr helfen, sie zu schmücken, um Elohim anzulocken, damit er zurückkehre. Aus Rache dafür, verlassen worden zu sein, sendet sie Naas, um Elohims Geist zu plagen, der in den menschlichen Wesen steckt. Elohim seinerseits schickt Baruch, um den Menschen Linderung zu bringen, währen Naas sie weiterhin plagt.

Diese mythologischen Erzählungen bieten ungewöhnliche Variationen der uns bekannten Bibelstoffe. Sie drehen sich um Fragen über Gut und Böse, Strafe und Tod. Der britische Historiker Edward Gibbon hat in einem bekannten Ausspruch die Lehren der Gnostiker als „müßige Wissenschaft … erhaben, doch dunkel“ beschrieben. Doch trotz vieler Kritik und ihrem Status als häretische Schriften haben sie sich in der Vergangenheit zahlreicher Wiederbelebungen erfreut. Ihre Beliebtheit ist teilweise auf die Einblicke in die frühen Zeiten des Christentums zurückzuführen. Andererseits übt der Gedanke, dass transzendente Wahrheiten über mystische Texte, bildhafte Mythologie oder spirituelle Praktiken vermittelt werden können, eine große Faszination auf viele Menschen aus. In der Rezeption der Gnosis können wir frei zwischen Himmel und Erde wandeln, sei es mit Engeln oder als Engel.

Auch für Philon von Alexandria (20 v. Chr.–50 n. Chr.), einem etwas vernunftorientierteren Denker der damaligen Zeit, war der Raum zwischen Himmel und Erde mit Geistern gefüllt. Philon überwindet die Kluft zwischen Judentum und Christentum, da er aus dem Herzen des Judentums schrieb, jedoch später hauptsächlich von christlichen Lesern rezipiert wurde. Er erklärt, dass, was die Griechen Dämonen nennen (daimones), die Juden Engel nennen,

d. h. Seelen, die durch die Luft fliegen und in ihr schweben. Und es soll niemand annehmen, dass, was hier gesagt wird, eine Mythe sei. Denn das Universum muss notwendig durch und durch mit Leben angefüllt sein, und jeder seiner primären und elementaren Bereiche enthält die Lebensformen, die ihm entsprechen und für ihn geeignet sind. Die Erde hat die Kreaturen des Landes, das Meer und die Flüsse diejenigen, die in Wasser leben, das Feuer die im Feuer geborenen, von denen es heißt, dass man sie vor allem in Makedonien findet, und der Himmel hat die Sterne. Denn die Sterne sind göttliche Seelen und gänzlich ohne Makel, und deshalb ist jeder Einzelne von ihnen Geist in seiner reinsten Form, sie bewegen sich fort wie der Geist – kreisförmig. Und so muss das andere Element, die Luft, notwendig auch mit Lebewesen gefüllt sein, obwohl sie für uns unsichtbar sind, da selbst die Luft für unsere Sinne nicht sichtbar ist.

(Philon, Über die Giganten, 6–8)

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