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Engel und Menschen

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Wenn Engel den Himmel sowie den Bereich zwischen Erde und Himmel bevölkern, was können wir über ihr Verhältnis zu den Menschen sagen? Wer noch, außer Ficino, glaubte, dass dieser Raum für Menschen zugänglich sei? Der religiöse Dichter Thomas Traherne (1637–74) fühlte eine Verbindung zwischen seinen frühesten Kindheitserinnerungen und der Welt der Engel.65 Er erinnert uns daran, dass wir in unserer Kindheit diesem Licht näher stehen und die Dinge beinahe durch die Augen der Engel sehen.

Zuerst schien alles neu und merkwürdig, unausdrücklich selten und herrlich und schön. Ich war ein kleiner Fremder, der bei seiner Ankunft in der Welt mit unzähligen Freuden umgeben und begrüßt wurde. Mein Wissen war göttlich. Intuitiv wusste ich bereits all die Dinge, die ich nun nach meinem Abfall vom Glauben durch die höchsten Vernunfteinsichten wieder aufgenommen habe. Meine Ignoranz war für mich vorteilhaft. Es schien, als wäre ich in den Zustand der Unschuld zurückversetzt. Alles war unbefleckt, herrlich und rein: ja, und unendlich meines, und voll Freude und kostbar […]

Das Korn war unsterblicher Weizen, der niemals geerntet werden darf, noch je gesät ward. Ich dachte, es stehe von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Staub und die Pflastersteine der Straße waren wertvoll wie Gold: Die Tore schienen zuerst das Ende der Welt zu sein. Doch als ich durch eines der Tore die grünen Bäume sah, rührten und entzückten sie mich, ihre ungewöhnliche Schönheit ließ mein Herz springen und beinahe verrückt werden vor Ekstase, so schön und wundervoll waren sie. Und die Menschen! O, was für ehrwürdige und ehrbare Wesen waren die Alten! Unsterbliche Cherubim! Und junge, glitzernde Menschen und funkelnde Engel, und die Mägde waren wie seraphische Stücke des Lebens und der Schönheit. Die auf den Straßen sich taumelnden und spielenden Jungen und Mädchen waren bewegliche Juwelen.

(Thomas Traherne, Third Century of Meditations, 2–3)

Für Traherne liegt unser höchstes Bestreben darin, zu diesem Zustand zurückzukehren. Er fordert uns auf, aufrichtig für diese reine Auffassung und das göttliche Licht zu beten, „denn sie werden Euch engelgleich und gänzlich himmlisch machen“ und uns in einem Zustand konstanter Ewigkeit verweilen lassen. Ein Gedicht beginnt mit einer Erinnerung daran: „Als wie ein Engel ich herniederkam!“. Darin führt er uns in drei Strophen zurück in eine Zeit der Reinheit, in der seine Sinne wach waren, sein Geist auf die Gegenwart des Schöpfers gerichtet, und er selbst auf Erden wandelte, ohne seine Verbindung zum Himmel verloren zu haben.66 Der zur Strömung des Transzendentalismus gehörende US-amerikanische Schriftsteller Bronson Alcott (1799–1888) zeichnete Gespräche mit Kindern auf, in denen sie zu den Evangelien und zu Engeln befragt wurden, und verwendete Traherses Vers als Titel für seine Aufzeichnungen.67

Eine Implikation der neuplatonischen emanationistischen Sicht über Engel ist, dass in ihr Engel immer über den Menschen stehen. Wie eine späte talmudische Quelle es ausdrückt:

Alles in der Welt steht in einer Hierarchie: Der Himmel ist über der Erde, die Sterne über dem Himmel, der Mensch steht über dem Tier, da er Wissen hat; die Dienstengel stehen über den Menschen.

(Avot de-Rabbi Natan, B, 43,7)

Eine weitere damit zusammenhängende Implikation ist die Annahme, dass Licht und Liebe fortschreitend abnehmen, bis nur noch ein sehr vermindertes Licht den rein materiellen Bereich der Pflanzen und Steine erreicht. Deshalb wird die Reflexion des Göttlichen in der materiellen Welt so gering geschätzt. Gegen diese Tendenz haben sich Ficino und Traherne ausgesprochen, wie wir gesehen haben, doch auch der englische Dichter William Blake (1757–1827), der uns auffordert, „die Welt zu sehn im Korn aus Sand, / Das Firmament im Blumenbunde“ (Weissagung der Unschuld).

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Frage, in welchem Verhältnis Menschen und Engel in der Bibel zueinander stehen, die Theologie beschäftigt. Traditionell heißt es, dass der Mensch unter den Engeln stehe, weil er essen, trinken, sich vermehren, schlafen und sterben muss. Engel müssten all dies nicht (siehe das spättalmudische Avot de-Rabbi Nathan). Die christliche Lehre stimmt damit überein, sie sieht Engel als geistige Wesen ohne körperliche Bedürfnisse. Und doch haben die jüngsten Veröffentlichungen sich auf das Überlappen von Mensch und Engel in altertümlichen Texten fokussiert und spekuliert, ob Christus die Gestalt eines Engels gehabt habe.68 Nach Psalm 8 ist der Mensch nur wenig geringer als die Engel, doch trotzdem hat er Gottes Aufmerksamkeit und ist „mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“. Einige jüdische Kommentatoren weisen darauf hin, dass dies „kaum geringer“ als die Engel bedeute und die Krönung impliziere, dass der Mensch – zumindest potenziell – über den Engeln stehen könne.69 Der Babylonische Talmud stellt unmissverständlich fest, dass die Rechtschaffenen höher stünden als die dienstbaren Engel.70 In Lukas 20,36 heißt es, dass bei der Wiederauferstehung die Rechtschaffenen „den Engeln gleich“ würden, da sie ihren Leib, ihr Geschlecht und den Tod hinter sich ließen. Der namhafte Kommentator und ehemalige Oberrabbiner der Vereinten hebräischen Kongregationen, Rabbi Dr. J. H. Hertz, sagte vor gar nicht so langer Zeit, dass die jüdischen Mystiker „Engel in geistlicher Hinsicht für geringer erachteten als den Menschen, weil der Mensch kein bloßer ‚Bote‘ ist, sondern mit freiem Willen ausgestattet.“71

Ein Autor behauptet sogar, dass Menschen Engel erschaffen können. In Die dreizehnblättrige Rose bezeichnet Adin Steinsaltz Engel als Bewohner der Welt von „Formation“ anstelle von „Aktion“ und fügt hinzu, dass die einzelnen Engel jeweils Verkörperungen einzelner Emotionen oder Impulse seien. Menschliche Wesen unterschieden sich von Engeln nicht durch den Besitz eines Leibes (denn für ihn wird das menschliche Wesen durch den Besitz einer Seele definiert), sondern durch seine Komplexität, d. h. sein Zusammengesetztsein, das im Gegensatz zur Einfachheit der Engel stehe. Unter dieser Existenzbedingung agiert der Mensch in der Welt von Raum, Zeit und Selbst. Wenn jedoch ein Mensch mit reinen Absichten handle, übersteige die Handlung ihren physischen Ort, ihren Zeitpunkt sowie ihre Bindung an das Individuum und steige zur Welt der Engel auf: Ein Engel entsteht.72

Eine frühe Bemerkung über die besondere Rolle der Menschen bei der Verbindung der himmlischen und irdischen Welt wird dem jüdischen Weisen Shimon ben Chalafta aus dem 2. Jahrhundert zugeschrieben. Sein Ausspruch ist in einer Sammlung von Sprichwörtern aufgezeichnet, dem Midrasch Levitikus Rabba aus dem 5. Jahrhundert. Obwohl diese Passage ausdrücklich keine Engel erwähnt, wägt sie menschliche und himmlische Kräfte in einer für den frühen Rabbinismus typischen Argumentationsweise gegeneinander ab:

Groß ist der Friede, denn als der Heilige, er sei gesegnet, sein Universum schuf, schuf er Frieden zwischen dem Oberen und dem Unteren [Teil der Schöpfung]. Am ersten Tag schuf er einen Teil der höheren Regionen und die niederen, denn es heißt, „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Genesis 1,1). Am zweiten Tag schuf er einige höhere Bereiche des Universums, denn es steht geschrieben, „Und Gott sprach: Es entstehe das Firmament“ (1,6). Am dritten Tag schuf er einige der niederen Lebewesen, „Das Wasser unter dem Himmel sammle sich […] Das Land lasse frisches Grün wachsen“ (1,9 ff.). Am vierten Tag schuf er einige der niederen Wesen, denn es heißt, „Und Gott sprach: Lasset die Wasser von Schwärmen lebender Wesen wimmeln“ (1,20). Am sechsten Tag, als er den Menschen schaffen wollte, sagte er: „Wenn ich den Menschen als eines der höheren Elemente des Universums Schaffe, werden die höheren Elemente ein Wesen mehr sein als die niederen, und wenn ich ihn als eines der niederen Wesen erschaffe, werden die niederen Elemente die höheren um ein Wesen überragen.“ Was tat er also? Er schuf den Menschen als sowohl zu den höheren als auch zu den niederen Wesen gehörend.

(Midrasch Levitikus Rabba, 9,9)

Die frühen Kirchenväter teilten diese besondere mittlere Position des Menschen, obwohl sie grundsätzlich die unteren und höheren Welten trennten. Ausgenommen hiervon waren Besuche von Engeln, die bestimmte Aufgaben erfüllten sowie Schutzengel, die uns regelmäßig vor Entscheidungen stellen, in denen wir gut oder schlecht wählen können. Die Engel hatten seit der Vertreibung aus dem Garten Eden (die „durch ihre eigene Eifersucht verursacht“ wurde) darauf gewartet, die Menschen wieder in ihren Rängen willkommen heißen zu dürfen. Dies würde das zerbrochene Band wieder herstellen und die Engel von der Bürde ihrer Aufgaben befreien. Doch bis dahin war die Rückkehr der Menschen unter die Engel nur durch Tod und Wiederauferstehung möglich.73 Gelegentliche Erscheinungen von Engeln in unserer Welt fanden in Zeiten von besonderer Bedeutung statt, seien sie heimlich oder in der Öffentlichkeit – so z. B. am Ostersonntag 970 in Pavia, was dem damaligen Kaiser Otto I. erlaubte, ein Urteil zu widerrufen, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren.74 Doch grundsätzlich wurde angezweifelt, dass Engel über die Fähigkeit verfügten, in unserer Welt sichtbare Gestalt anzunehmen.

Ein gewichtiges Unterscheidungsmerkmal der Engel war ihr Mangel eines freien Willens. Es war erst durch die Ausübung seines freien Willens, dass Satan rebellierte und seinen Status als Engel verlor. Seit diesem Ereignis haben viele christliche Schriftsteller angenommen, dass Engel keinen freien Willen besäßen, sondern daran gebunden seien, göttliche Befehle auszuführen. Nur gefallene Engel und Menschen besitzen demnach einen freien Willen. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass viele moderne Schriftsteller die Figur des Satans und die gefallenen Engel so viel attraktiver finden als die gehorsamen Engelscharen. Obwohl Menschen durch die Gefangenschaft in ihrem Körper „zurückgehalten“ werden, verfügen sie über die angeborene Fähigkeit, sowohl Gutes und Böses zu wollen. Deshalb finden wir so viel Gefallen an unserer Grundsituation, die entscheidend spannender ist als diejenige der Engel. Wir müssen uns Herausforderungen stellen, wir können Hindernisse innerer wie äußerer Natur überwinden, wir haben die Möglichkeit, uns zu entwickeln und zu verändern, die Engel nicht besitzen. Dies ist in Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin auf ergreifende Weise dargestellt. Dort tauscht ein Engel freiwillig sein ungetrübtes Leben, in dem er sich ganz dem Mitgefühl mit den Menschen widmen kann, gegen das wechselhafte menschliche Leben zwischen Freude und Leid. Sogar in Dantes Paradies, wo die Engel sich tummeln und ihre göttliche Ordnung in Herrlichkeit feiern, geht es hauptsächlich um das menschliche Streben danach, Gott zu erkennen.75 Auch in Miltons großem Engeldrama Paradise Lost liegt der Fokus auf dem Menschen.

Doch wenn Engel nicht menschlich werden können, können Menschen Engel werden? Es ist faszinierend, festzustellen, dass das in der Bibel für menschliche Arbeit oder Beschäftigung verwendete Wort (mal’akha) dieselbe Wortwurzel wie das Wort für Engel (mal’akh) hat.76 Swedenborg war überzeugt, ihnen begegnet zu sein und „die wundersamsten Dinge aus dem anderen Leben“ gesehen und gehört zu haben, als die Engel ihn vor einem Schwarm bösartiger Geister beschützten.77 Doch seine Erfahrungen in der Geisterwelt sind nicht dasselbe, wie ein Engel zu werden. Wir müssen nachhaken: Gibt es eine Leiter, um aufzusteigen, und führt sie zur Verwandlung des Menschen in einen Engel? Lassen unsere Geliebten, die wir verloren haben, sich unter den Sternen nieder und wandeln als Engel unter uns? Ein junges Kind, dem ein Elternteil fehlt, mag in diesem Gedanken großen Trost finden. Doch in unseren erwachsenen Gehirnen sind wir uns nicht so sicher. Und doch ward Henoch in den Himmel aufgenommen und wurde zum Engel Metatron, Elija wurde zum Engel Sandalphon und auch Moses ist in den Himmel aufgefahren. Doch ist dies auf diese drei beschränkt? Ficino scheint fließende Übergänge anzudeuten, und eine Inschrift am Orakel des Apollon in Klaros erklärt feierlich, dass wir, die Menschen, „ein Teil Gottes seien: seine Engel“.78 Um Fragen wie diese beantworten zu können, müssen wir uns darüber klar werden, was wir unter Engel verstehen, und einige der vielen Schriftsteller zurate ziehen, die diesen Fragen tiefer nachgegangen sind.

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