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Ficinos Engel

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Ficino spielte eine große Rolle bei der Zusammenführung von griechischer Philosophie und religiösen Inhalten zu einem christlichen Neuplatonismus. Über ihn wissen wir viel mehr als über die anderen bisher behandelten Autoren. Obwohl er eher für seine Übersetzungen und Kommentare bekannt ist, hat er ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen, in dem er seine eigenen Gedanken dargelegt hat. Seine frühe Ausbildung in aristotelischer Philosophie und Medizin, seine Liebe für Musik und Dichtung, sein Interesse an Wissenschaften und Astronomie, seine scharfsinnige Beobachtung des Alltagslebens sowie seine aufrichtige Nächstenliebe verleihen seiner Wiedergabe der antiken Texten eine besondere Ausdruckskraft. 1474 wurde er Priester und später Kanonikus der Kathedrale. Doch der Nachwelt ist er für seine Bemühungen bekannt, die platonischen Lehren für den Alltag fruchtbar zu machen, und für seine neuartigen Lehren über sowohl die menschliche als auch die göttliche Liebe.48

Die Schriften Dionsysius‘ hatten einen großen Einfluss auf Ficino ausgeübt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass er, wie übrigens alle damals, ihn für den persönlichen Schüler Paulus‘ hielt, von dem es hieß, dass er „in den dritten Himmel gebracht“ wurde und der deshalb als besonders berufen galt, das Wesen der Engel zu begreifen. Ficinos letztes Werk, ein Kommentar zu den Paulusbriefen, spiegelt ein lebenslanges Interesse an den himmlischen Gefilden wider und an dem Verhältnis der Menschen zu ihnen. Das Reich der Engel ist seiner Ansicht nach für uns Menschen nicht unerreichbar:

Wir sollten uns von den körperlichen Sinnen und Empfindungen frei machen und, gleichwie die Erde, die aktive Vernunft wie einen ersten Himmel vernachlässigen, auch der natürlichen Vernunft als einem zweiten Himmel keine Bedeutung schenken; stattdessen aber, unter der Führung Paulus‘, all unsere Kräfte dafür aufwenden, uns zu dem Geist aufzuschwingen, der das Göttliche anschaut, der uns wie ein dritter Himmel ist und von engelhafter Größe.49

Wenn wir uns diesem geistlichen Unterfangen verschrieben, könnten wir uns auf die drei paulinischen Gnadengaben verlassen, nämlich Glaube, Liebe und Hoffnung:

vor allem jedoch [auf] Liebe, die alles Wissen überragt und uns mit der Ordnung der Seraphe vereint. Hier schließlich wird ein dritter Himmel uns begegnen. Denn in der seraphischen Liebe wird uns die unermüdliche Wärme der Seraphe entfacht. In dieser Leben spendenden Wärme werden das Licht und die Weisheit des göttlichen Wortes zugleich scheinen.50

Wo keine Wolken sind, um das Licht zu hindern, hält das göttliche Licht die Engel in einem dauerhaften Zustand, in dem sie in Liebe um ihn kreisen. Ihre Augen ruhten beständig auf ihm, und das Licht erleuchte sie nicht nur, sondern ziehe zugleich ihre Blicke auf sich. Für uns sei die Wirkung dieses Lichtes eingeschränkt – teilweise durch Wolken (innere wie äußere), größtenteils jedoch, weil unser Geist geschaffen sei, um in beide Richtungen zu sehen: Mit einem Teil unseres Wesens schauen wir nach dem Himmel, und mit dem anderen nach irdischen Dingen. Zwei Dinge hinderten uns daran, uns vollends in Engel zu verwandeln: unsere Liebe für die sinnlichen Dinge und dass wir uns unbeständig mal auf das Licht zubewegen und mal davon fort.51 Menschliche Seelen unterschieden sich von den Seelen der Engel nur dadurch, dass die Engel ununterbrochen von Gott erleuchtet seien, während menschliche Seelen zwar dasselbe Licht empfingen, jedoch nur unbeständig.

Wie auch Avicenna spricht Ficino manchmal von Engel im Singular als einer metaphysischen Ebene des Seins. Wenn er dies tut, meint er damit die universelle Intelligenz. In der Platonischen Theologie (1482) erklärt er, wie die Schöpfung, die uns umgibt, durch verschiedene Emanationsebenen entstanden sei. Diese Emanation nehme in Gott (oder dem Einen) ihren Ausgang, gehe durch Engel oder den „engelhaften Verstand“ hindurch, dann durch Seele (einschließlich der menschlichen Seelen) und schließlich durch Qualitäten und Leib. Die menschliche Seele sei das Mittelstück in dieser Entwicklung, und deshalb schaue sie gewissermaßen in beide Richtungen. Sie stehe an einem Horizont. Sie sei vernünftig und reflektiere das göttliche Licht; sie habe viel vom Engelhaften an sich. Doch dann gebe es auch andere Aspekte der Seele, die körperliche Begierden und starke Emotionen erregen. Diese nennt Ficino die irrationale Seele, und er stellt sie mit dem gleich, was er „Qualitäten“ nennt. Schließlich gibt es den Leib, der seine eigenen Bedürfnisse hat und nur eine blasse Reflexion des göttlichen Lichtes ist: ein Schatten eines Schattens.52

„Engel“ in diesem singulären Sinne ist unbeweglich. (Er würde folglich keiner Flügel bedürfen!) Doch aus Unbeweglichkeit kann Bewegung hervorgehen. Die kontinuierlichen, vielfältigen und geordneten Bewegungen der himmlischen Körper werden durch den form- und körperlosen „Verstand“ verursacht. Er verbindet Avicennas Argumente mit Aristoteles‘ elftem Buch der Metaphysik: Danach sind es die Engel (nun im Plural), die als Agenten des unbewegten Bewegers die himmlischen Sphären in Bewegung versetzen.53 Ficino greift auch Gedanken aus Über die göttlichen Namen, einer weiteren Schrift Dionysius‘, auf und führt sie wieder in die Tradition ein. Demnach verfüge ein Engel über drei Arten von Bewegung: kreisförmig, gerade und spiralförmig. Im Kreis bewegten sie sich, wenn sie auf die leuchtende Kraft fokussiert seien, die aus ihrer Quelle entspringe; sie bewegten sich in einer geraden Linie, wenn sie anderen Wesen Weisung brächten; ihre spiralförmige Bewegung entstehe durch die Gleichzeitigkeit der ersten beiden.54

Ficino spricht auch in einem konventionelleren Sinn von Engeln, etwa wie Engel im Sanctus oder die Schutzengel in den Psalmen beschrieben werden. Am Anfang einiger Predigten ruft er Engel an (vermutlich in den Predigten, die er in der Kamaldulenserkirche von Santa Maria degli Angeli in Florenz hielt).55 In einem anderen Werk namens Über die christliche Religion (1476) beschreibt er, Dionysius und Dante folgend, die Hierarchie der Engel. Von der Erde aus gesehen, die materiell ist, gebe es sieben planetare Himmel sowie einen achten, der sich durch seine Helligkeit und sein strahlendes Licht von den anderen unterscheide. Dieser achte Himmel führe zu dem neunten, dem Kristallhimmel, und dahinter liege das still stehende und mit Licht überfließende Empyreum.56 Seine Unbeweglichkeit mache es zum geeigneten Hort für die Standfestigkeit und das Licht der Trinität. Das einfache Wesen Gottes werde erst in die Dreifaltigkeit oder Trinität „herabgezogen“. Die Trinität werde dann wiederum in die drei Hierarchen zu jeweils drei Ordnungen herabgezogen, wovon jede Hierarchie in einem besonderen Verhältnis zu einem Aspekt der Trinität stehe. Die neun astronomischen Himmelssphären gäben die Orte an, an denen die neun Ordnungen von Engeln verkehrten. Doch eine große Mannigfaltigkeit stelle sich ein:

Jede Ordnung, wie einige Theologen behaupten, enthält viele Legionen. Jede Legion, sagen sie, besteht aus sechstausendundsechshundertsechundsechzig einzelnen Geistern, und es gibt in jeder einzelnen Ordnung so viele Legionen, wie es einzelne Geister in einer Legion gibt.

(Über die christliche Religion, 14)

Eine schnelle Gegenrechnung zeigt, dass dies 44 435 556 Geistwesen pro Ordnung ergäbe – d. h. insgesamt 399 920 004 Daimonen oder Engel. Doch Ficino vermeidet es, eine bestimmte Zahl zu nennen und stimmt mit Dionysius darin überein, dass die Anzahl der Engel die Fähigkeiten des menschlichen Geistes übersteige. An anderer Stelle sagt er, dass es so viele Sterne im Himmel gibt wie Legionen von Daimonen, und jede dieser Legionen enthält so viele Daimonen, wie es Sterne im Himmel gibt.57

Bei Dionysius zeigen die Hierarchien eine fortschreitende Abnahme, bei der jede Stufe das göttliche Licht für die nächste Stufe auslegt und vermittelt. Dabei gibt jede Stufe ein bisschen weniger weiter als die vorherige. Ficinos hat diese drei Hierarchien enger mit den drei Personen der Trinität verknüpft. In diesem Fall wäre die Abnahme von Stufe zu Stufe nicht mehr zu begründen:

In der ersten Hierarchie kontemplieren die Seraphim den Vater an sich; die Cherubim kontemplieren den Vater als den Sohn erzeugend, und Throne kontemplieren den Vater, wie er mit dem Sohn den Heiligen Geist hervorbringt.

In der zweiten Hierarchie kontemplieren die Herrschaften den Sohn an sich, die Mächte aber den vom Vater ausströmenden Sohn, und die Gewalten kontemplieren Sohn und Vater beim hervorbringen des Heiligen Geistes.

In der dritten Hierarchie kontemplieren die Fürsten den Geist an sich, die Erzengel aber den von Vater und Sohn kommenden Geist, und die Engel den vom Sohn und vom Vater abhängigen Heiligen Geist.

(Ficino, Über die christliche Religion, 14)58

Alle neun Ränge sehen die ganze Trinität, jedoch auf ihre eigene Weise, unabhängig von der eigenen „Ranghöhe“. Doch sobald es um Aktivität geht, werden die Rangfolgen wiederhergestellt: Die Seraphim, Cherubim und Throne beschauen die göttliche Vorsehung und Güte, während die anderen sechs Ordnungen „zu ihren eigenen Werken herabsteigen“:

Die Herrschaften weisen, wie Architekten, die anderen darüber an, was sie tun sollen. Die Mächte führen ihre Befehle aus; sie bewegen die Himmel und eilen, in ihrer Rolle als Instrumente Gottes, um seine Wunder zu vollbringen. Die Gewalten wehren alles ab, was den Anschein erweckt, dass es die Ordnung der göttlichen Herrschaft stören könnte.

Die Übrigen steigen zu den menschlichen Angelegenheiten herab. Die Fürsten kümmern sich um Staatsangelegenheiten, Nationen, Herrscher und Amtsträger. Die Erzengel führen den Gottesdienst für alle an und sind bei heiligen Ereignissen zugegen. Die Engel ordnen geringere Angelegenheiten, ein jeder von ihnen ein Wächter, einer für jeden Menschen.

(Ficino, Über die christliche Religion, 14)

Überraschenderweise erklärt Ficino, dass auch menschliche Seelen in neun Ordnungen unterteilt und in der Lage sind, in die höheren aufzusteigen – oder auch zu den niedrigeren abzusteigen, je nachdem, wie sie ihr Leben gelebt haben.

Es wird deutlich, dass für Ficino Himmel und Erde, Engel und Menschheit ein einziges Kontinuum bilden, und sowohl Engel als auch Menschen darin immer den Status eines „Mittels“ haben. Sie gehörten zwar jeweils verschiedenen Stadien an, könnten jedoch an beiden teilhaben.59 Weil die menschliche Seele von Natur aus vernunftbegabt ist, könnten wir Menschen auf derselben Höhe wie die Engel leben – oder auch auf der Stufe der Tiere, abhängig von unserem Willen und Handeln. Doch es gebe noch mehr Möglichkeiten, denn die Seele könne „danach streben, alle Dinge zu werden“, ganz im Sinne der fließenden Übergänge von Stufe zu Stufe:

Sie lebt das Leben einer Pflanze, sofern sie den Körper verhätschelt und fett werden lässt; das Leben eines Tieres, sofern es den Sinnen schmeichelt; das Leben eines Mannes, sofern sie an die Vernunft appelliert, um menschliche Angelegenheiten zu handhaben; das Leben der Helden, sofern sie die Gegenstände der Natur hinterfragt; das Leben der Dämonen, sofern sie die Mathematik kontempliert; das Leben der Engel, sofern sie göttliche Mysterien erforscht; und das Leben Gottes, sofern sie alles um Gottes willen tut.

(Ficino, Platonische Theologie, 14,3,2)

Die Verbindung von Dämonen und Mathematik mag auf den ersten Blick seltsam anmuten, doch Ficino scheint mit „Mathematik“ die Prinzipien wissenschaftlichen Denkens zu meinen. Seine Dämonen sind also keineswegs banal. Die Engel stehen in Zusammenhang mit einer höheren Art von Verständnis, die Ficino „Mysterien“ nennt. An anderer Stelle stehen sie für Liebe. Für Ficino sind Liebe und Verstehen im Grunde untrennbar, beide sind Aspekte des göttlichen Lichts, das nicht nur erhellt, sondern auch wärmt. Ja, Ficino sieht die gesamte Kreatur als Ausdruck des Auswärtsfließens und der darauffolgenden Rückkehr von göttlichem Licht und Liebe. Engel und Menschen unterscheiden sich nur in ihrem unterschiedlichen Vermögen, dieses Licht weiterzugeben oder widerzuspiegeln.

Bereits dreimal haben wir angemerkt, wie wenig Menschen sich von Engeln unterscheiden. Ficino fragt, warum Engel und die menschliche Seele nicht von gleicher Qualität seien, da beide jeweils ohne Vermittlung von Gott abhingen (Platonische Theologie, 5,13,11). Ficinos Antwort lautet, dass sie vor dem Hintergrund verschiedener „Ideen“ geschaffen wurden. Die Idee des Engels sei „höher“ als diejenige der menschlichen Seele. Ein weiterer Unterschied liege im Zeitpunkt ihrer Schöpfung. Obwohl die menschliche Seele zum Teil unsterblich ist, „haben [sie] nicht durch alle Zeiten existiert wie die Engel, die in der natürlichen Ordnung ganz im Anfang entstanden, noch bevor die Himmel zu kreisen begannen“, d. h. vor Die Entstehung der Zeit (Platonische Theologie, 18,2,3). Menschliche Seelen werden täglich innerhalb der Zeit erschaffen und unterliegen der Veränderung. Engel seien vor der Zeit erschaffen worden und frei von Materie. Ficino betont dies in einem Aufsatz, der aus seiner Auseinandersetzung mit Dionysius entstand: Das engelhafte Licht werde am ersten Schöpfungstag erschaffen, während das Sonnenlicht erst am vierten Tag auftauche.60 Er empfiehlt uns, einfach die Augen zum klaren Nachthimmel emporzuheben, um die engelhaften Gottheiten zu begreifen:

Wenn Ihr Gewissheit darüber haben wollt, dass es eine Vielzahl von Engeln gibt im Himmel, die wie Lichter in ihrer Ordnung aufeinander folgen und alle im Verhältnis zu dem einen Gott stehen, dem Vater des Lichtes – welchen Nutzen bringt Euch da weitschweifiges Nachforschen? Ich beschwöre Euch, richtet Eure Augen gen Himmel […] diesen von Gott in der vollkommensten und offenbarsten Weise geschaffenen Himmel, der dem einzigen Zweck dient, all dies offenbar zu machen.

(Ficino, Über die Sonne, Kapitel 2)

Die Sonne ist das Symbol für Gott, doch die Sterne machen die Gegenwart der unsichtbaren Engel sichtbar.

Die Daimonen, die im neuplatonischen Denken den Bereich zwischen Himmel und Erde bevölkern, kommen in Ficinos Schriften immer wieder vor. Er bezeichnet sie oft als Schutzengel oder angeborene leitende Geister. Entgegen der geläufigen Ansicht, dass für jede menschliche Seele ein Schutzengel existiere,61 sagt Ficino, dass mehrere gute Daimonen über einen Menschen wachen und ihn durch „sanfte und verborgene Überredung“ beeinflussen können.62 An anderer Stelle erklärt er, dass zwei Menschen einen leitenden Engel miteinander teilen können. Dafür spricht, dass man von zwei oder mehr Menschen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, oft sagt, dass sie „unter einem gemeinsamen Stern geboren“ seien – denn Sterne seien gleichsam die Statthalter der Daimonen. In solchen Passagen verwendet Ficino jedoch niemals das Wort „Engel“ (angelus), sondern nur „Daimon“ oder „Genius“.

Wenn man Ficinos Werk neuplatonisch betrachtet, verwandeln die neun Ordnungen der Engel sich immer wieder in neun himmlische Musen, da sie „in den neun Sphären des Universums verstreute Gottheiten […], unseren Blicken verborgen und den einzelnen Sternen verschrieben“ sind. In Anerkennung der neuplatonischen Philosophie sagt er, dass die Musen das seien, was Proklos Engel bzw. was Iamblichos Erzengel und Fürsten nennt.63

Ficinos Denken über Engel, sowohl über die persönlichen Engel als auch über die ontologischen, metaphysischen Engel, stützt sich sowohl auf christliche als auf nichtchristliche Quellen. Doch alle Fäden laufen bei ihm in eine einzige Richtung: Für Ficino ist das Reich zwischen Erde und Himmel das Reich der Engel, eine Region des universellen höheren Geistes, zu dem die einzelnen Seelen Zugang in verschiedenem Maße haben. Es ist ein Reich, in dem Weisheit verborgen liegt, Weisheit, die sich jenseits unserer sinnlichen Welt befindet. Es ist auch gefüllt mit Licht und Liebe. Finicos Engelswelt kann kaum als ein „kollektives Unbewusstes“ im Jung’schen Sinne bezeichnet werden, da es voll von Bewusstsein und Licht ist.64 Genauso können wir es nicht einfach nur als psychologische Projektion unserer Neuronen abtun. Gleichwohl stellt es eine frühe Form von Psychologie im ursprünglichen Wortsinn dar, da ihr Gegenstand die psyche, der Geist oder die Seele ist.

Von Gabriel bis Luzifer

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