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Die himmlische Hierarchie

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Wir wollen uns nun den byzantinischen Christen zuwenden. Ein Werk von unermesslicher Bedeutung für alle späteren Diskussionen über Engel stammt von Dionysius, einem christlichen Neuplatoniker, der zwischen 485 und 528 in Syrien lebte. Dionysius hat in der Ich-Welt einen besonderen Status genossen, da er durch in seinen Schriften gemachten Angaben für den von Paulus auf dem Areopag bekehrten Richter gehalten wurde (Apostelgeschichte 17,34). Seine wahre Identität ist seit mehr als tausend Jahren unbekannt.42

Dionysius zeigt zuerst die mystische und symbolische Natur der himmlischen Intelligenzen auf, die er als die verbergenden Schleier des göttlichen Lichts bezeichnet. Ihm zufolge haben Engel nicht die vielen Füße und Gesichter, von denen die biblischen Propheten sprechen; sie haben keine Adlerschnäbel oder gefiederte Flügel, noch dürfen wir uns erlauben, uns brennende Räder in den Himmeln, Throne und dergleichen mehr vorzustellen. Die göttlichen Intelligenzen sind gestaltlos. Sie sind so einfach, dass wir sie weder erkennen noch vorstellen können. All die Beschreibungen, die wir in den Schriften finden, sollen uns nur durch Vergleiche helfen, uns eine Vorstellung von ihnen machen zu können.

Wenn Engel also nicht in goldenem Licht strahlende Männer mit glänzenden Rüstungen sind, was sind sie dann? Dionysius versucht, diese Frage durch den Verweis auf die Hierarchie zu beantworten, worunter er eine perfekte Anordnung versteht. Die verschiedenen Ordnungen der Engel stehen für unterschiedliche Stufen des Verstehens, der Reinigung und der Erleuchtung, durch die das Werk Gottes ausgeführt wird. Gott ist die Quelle dauernder und vollkommener Erleuchtung. Diejenigen, die am besten dazu geeignet sind, das göttliche Licht in seiner Fülle zu empfangen, seien jene, die vollständig in Kontemplation vertieft sind. Sie gäben dann ihr überflutendes Licht dem nächsten weiter, der zu seiner Empfängnis befähigt ist. Alle himmlischen Wesen werden allgemein als „Engel“ bezeichnet, und sie besorgen die Umsetzung des göttlichen Willens auf verschiedene Weise. Doch es gebe auch unterschiedliche Ränge engelhafter Wesen, die entsprechend ihrer Fähigkeit, dem Göttlichen zu entsprechen und in Gottes Licht aufgehen zu können, geordnet sind. In diesem Sinne sind die einfach nur als „Engel“ bezeichneten Wesen diejenigen vom niedrigsten Rang.

Dionysius entwickelt sein System, von dem er behauptet, es von einem gewissen Hierotheos übernommen zu haben, der sein Lehrer gewesen sein soll. Dessen Identität oder gar Existenz bislang allerdings nicht belegt werden konnte. Die himmlischen Wesen sind laut Dionysius in drei Gruppen von je drei Ordnungen unterteilt. Ihre Namen stammen aus verschiedenen Teilen der heiligen Schriften.43 Die erste Gruppe besteht aus Seraphim, Cherubim und Thronen. Sie sind unmittelbar um Gott herum geschart und empfangen die „primären Vollkommenheiten“. Der Name „Seraph“ bezeichnet ein beständiges Kreisen um das Göttliche, eine beständige durchdringende Wärme und eine überfließende Hitze, die aus der Bewegung entsteht. Dabei drücken sie anderen ihr Abbild auf und erheben sie damit zugleich. Die Seraphim können das Licht, das sie empfangen, unvermindert und ungetrübt aufnehmen und jeden verdunkelnden Schatten von sich stoßen. Die Cherubim verfügen über die Gabe, die göttliche Herrlichkeit zu erkennen und anzuschauen, und sie können die Früchte dieser Gabe in Form eines Ausfließens von Weisheit mit anderen teilen. Die Throne sind vollkommen darauf bedacht, in der Gegenwart des Allerhöchsten zu bleiben und stets bereit, Gott zu grüßen. Diese drei Ordnungen befinden sich in unvergänglicher und unverminderter Selbstbewegung. Sie sind angefüllt mit Liebe und einer dreifach strahlenden Anschauung der Quelle aller Schönheit. Sie besitzen die ausgezeichnete Gabe, Gott so ähnlich zu sein, wie es nur möglich ist. Unter ihnen sind diejenigen, die unentwegt verkünden „Gepriesen sei die Herrlichkeit Gottes an seinem Ort“ (Ezechiel 3,12), während andere „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere. Von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt“ donnern (Jesaja 6,3; Offenbarung 4,8).

Die mittlere Stufe besteht aus Herrschaften, Gewalten und Autoritäten. Die Herrschaften sind frei von irdischen Neigungen oder tyrannischer Strenge; die Gewalten sind mit der Quelle aller Macht verbunden und von unerschütterlichem Mut; die Autoritäten weisen auf die Ordnung der Natur durch himmlische Autorität hin. Diese drei Wesenheiten der mittleren Ordnung erhalten ihre Erleuchtung durch die Wesen der ersten Ordnung. Die dritte Stufe besteht aus Fürsten, Erzengeln und Engeln.

Jede Ordnung ist auf die Kräfte der nächsthöheren Stufe eingestimmt und handelt als Übermittler, damit sie in der Lage ist, die nächstniedrige Stufe in Richtung derjenigen Kraft emporzuheben, die sie selbst empfangen haben. Sie erreichen dies durch die drei Tätigkeiten Reinigung, Erleuchtung und Vervollkommnung. Dies ist im Wesentlichen die in Dionysius‘ Die himmlische Hierarchie dargelegte Anordnung.

In den nachfolgenden Jahrhunderten wurde Dionysius‘ Einteilung fast universell übernommen, von einen wenigen Abweichungen hinsichtlich der Namensgebung und Reihenfolgen abgesehen.44 Gregor der Große legte Fürsten in die zweite Ordnung und Tugenden in die dritte. Thomas von Aquin besprach die Unterschiede detailliert in seiner Summa theologica (I, q. 108), schlussfolgert jedoch, dass sie von geringer Bedeutung sind und nur kleine Abweichungen hinsichtlich der Gewichtung darstellen. Dante Alighieri (1265–1321) bevorzugt Dionysius‘ Anordnung, nennt die zweite Ordnung jedoch Herrschaften, Gewalten und Mächte. In einem der letzten Gesänge der Göttlichen Komödie sieht er ein flammendes Licht und neun leuchtende Kreise aus Liebe, die sich um das Licht drehen und im Chor singen. Diese umfassen die gesamte Bruderschaft der Engel, und Beatrice legt sie ihm aus (Paradies, 28. Gesang).45 Die Anordnung der Engel scheint selbst in den höchsten poetischen Gefilden der Erwähnung wert zu sein.

Man kann sich die neun Ordnungen und ihre Funktionen so vorstellen, dass sich in der niedrigsten Stufe die persönlichen Schutzengel befinden, Boten göttlicher Nachrichten an Menschen und menschlicher Nachrichten zurück zur Gottheit. In diesem System sind Erzengel die Beschützer von Nationen und überbringen Botschaften von besonderer Wichtigkeit. Fürsten sind die Regler der menschlichen Herrschaft, ihre Zuständigkeit sind Regierungen und dergleichen. Die Gewalten verkörpern die göttliche Macht und Herrlichkeit und bekämpfen Dunkelheit und Krankheit; während die Mächte ein Bildnis göttlicher Kraft und Tapferkeit sind, die uns Zeichen und Anweisungen geben und uns zum Andauern ermutigen. Herrschaften sind das Bildnis göttlicher Herrschaft. Die Throne stehen für Standhaftigkeit und die Vollstreckung von Urteilen. Die Cherubim sind das Bildnis göttlicher Weisheit und die Seraphim das Bildnis göttlicher Liebe.46

Diese Vorstellungen Dionysius‘, die Dante später aufgegriffen hat, sind im Wesentlichen griechischen und neuplatonischen Ursprungs, doch sie haben sich im mittelalterlichen Westen großer Beliebtheit erfreut. Viele große Theologen des 9. und 10. Jahrhunderts schrieben Kommentare zu Dionysius, darunter Johannes Scottus Eriugena, Hugo von St. Viktor, Roberto Grosseteste, Albertus Magnus, Bonaventura und Thomas von Aquin. Viele andere neuplatonische Werke hatten weniger Glück. Unsere Kenntnis von ihnen stammt aus Zusammenfassungen z. B. von Cicero, der ein großer Bewunderer Platons war, oder von den alten Kirchenvätern wie Augustinus und Eusebius, aber auch von einer arabischen Schrift namens Die Theologie des Aristoteles, der in Wahrheit nicht die Philosophie Aristoteles‘, sondern die Lehren aus Plotins Enneaden IV–VI zugrunde liegen.47 Der bereits genannte Hermes Trismegistos ist teilweise erhalten (der Asklepius und einige Fragmente), und Proklos verdankt seinen Fortbestand der lateinischen Übersetzung Wilhelm von Moerbekes (ca. 1215–86) und dem arabischen Liber de causis (Buch der Ursachen), das fälschlicherweise Aristoteles zugeschrieben wurde.

Obwohl das Mittelalter zum Großteil von der klassischen Antike abgetrennt war, erreichten die darin entwickelten Vorstellungen von Engeln damals eine neuartige Stufe der Komplexität. Wir können das Mittelalter völlig zu Recht das Zeitalter der Engellehre (oder der Angelologie) nennen, und wir werden uns in Kapitel 3 ausführlicher damit beschäftigen. Doch während wir über den Raum zwischen Erde und Himmel sprechen, können wir Dantes Reisen durch die Gefilde der Göttlichen Komödie nicht einfach übergehen. Dante ergänzt die Theologien von Dionysius und Thomas von Aquin um eine Reihe von Verbindungen zwischen der Hierarchie der Engel, den planetaren Himmeln und den menschlichen Tugenden. Dantes Schema der Himmel folgt dem klassischen ptolemäischen Weltbild, in dem die verschiedenen Sphären von ihrer jeweils nächstgrößeren Sphäre umfasst werden und das Gepräge des Göttlichen miteinander teilen. Der Erde am nächsten ist der Mond, das Reich der gewöhnlichen Engel. Als Nächstes kommt Merkur, der mit den Erzengeln in Verbindung steht; die Venus ist mit den Fürsten verbunden, die Sonne mit den Mächten, Mars mit den Tugenden, Jupiter mit den Herrschaften und Saturn mit den Thronen. Dies waren die damals bekannten Planeten. Liebhaber der Astrologie mögen sich für die Bedeutungen und dazugehörigen Eigenschaften interessieren, doch die Deutung ist damit nicht zu Ende. Über den planetaren Himmeln stehen die Cherubim, die den Tierkreiszeichen und den Fixsternen zugewiesen sind (denn die Sterne galten als „Wanderer“); und die Seraphim befinden sich bei Dante im Kristallhimmel, in dem auch das Primum mobile, der erste Beweger und kreative Aspekt Gottes, der alle Dinge in Bewegung setzt, sich aufhält. Über und jenseits all dieser Himmel ist das Empyreum, das sich auch jenseits aller Bewegung sowie der Bewegungsursache befindet. Dies ist der höchste Himmel, in dem Dante die schneeweiße Himmelsrose verortet, das Licht allen Lichtes, das Gott verkörpert.

In einer anderen Reihe von Querverweisen – und sein großartiges Gedicht ist übervoll mit versteckten Verbindungen und Bezügen – verbindet Dante die Hierarchie der Engel mit den vier sogenannten Kardinaltugenden, die aus der platonischen Philosophie und anderer antiker Literatur herstammen. Er verknüpft Engel und Tugenden mit Tapferkeit, Erzengel und Herrschaften mit Gerechtigkeit, Fürsten und Throne mit Mäßigkeit, und Mächte mit Besonnenheit. Die drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung sind für den achten Himmel bestimmt, der Heimat der Cherubim und der Fixsterne.

Nach der Zeit Dantes hat die Wiederentdeckung altgriechischer Quellen rasch an Fahrt aufgenommen, und ihre Übersetzung ins Lateinische im Laufe des 15. Jahrhunderts ist von enormer Bedeutung. Die Schriften Dionysius‘ waren unter den ersten, die sich eines Wiederauflebens freuen konnten. 1430 fertigte Ambrogio Traversari, Oberhaupt des Florentiner Kamaldulenserklosters, eine neue Übersetzung an. Das Manuskript dieser Übersetzung erregte großes Aufsehen, sodass sie 1498 erstmals gedruckt wurde. Eine zweite Druckfassung folgte 1502–03 in drei großen Foliobänden. Sie enthielt verschiedene lateinische Fassungen und eine Reihe von Kommentaren. Unter diesen befanden sich auch Marsilio Ficinos Übersetzungen der Mystischen Theologie sowie der Schrift Über die göttlichen Namen aus den Jahren 1491 bzw. 1492, die 1496 erstmals in Venedig veröffentlicht wurden.

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