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8. Marsch an die Westfront

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Feldstrafgefangenen-Abteilungen.

Im Gegensatz zu den Bewährungsbataillonen zogen sie in der Regel unbewaffnet in die Frontgebiete, denn für ihre speziellen Einsätze benötigten sie keine Waffen. Sie mussten Bunker und Stellungen ausbessern oder bauen, Geländeflächen mit Minen belegen oder von Minen befreien sowie Leichenbergungen auf den Schlachtfeldern vornehmen. Bei der Gelegenheit lief eine große Zahl von ihnen zu den Sowjets über.

Bis Kriegsende gab es zweiundzwanzig! Feldstrafgefangenen-Abteilungen. Darin zusammengefasst hatte die Nazi-Justiz über zwanzigtausend (!) verurteilte Soldaten, und das waren nicht nur ehemals niedere Dienstgrade.

Der Führer des Begleittrupps wandte sich wieder Hasso zu und forderte ihn auf, sich zu erheben und mit ihm zu kommen. Aber da das mit dem Erheben nicht sogleich klappte, traten zwei SS-Männer hinzu und halfen nach.

Was war geschehen?

Hasso hatte dem SS-Truppführer zwar zugehört, in seiner herzklopfenden Aufgewühltheit aber nichts begriffen. Die beiden SS-Männer, die ihn von der Pritsche auf die Füße gestellt hatten, stützten ihn während des Marsches nach irgendwohin. Erst dann, als Hasso nun wirklich begriff, nicht zur Hinrichtungsstätte geführt zu werden, kam wieder Leben in seinen Körper, in seine Beine, in seinen Kopf. Er wurde in eine andere Zelle gesperrt, eine Zelle, die nicht für zum Tode Verurteilte gedacht war. Erst hier hatte er Muße, über die letzten Minuten nachzudenken. Begnadigung! Er war sich absolut sicher, dass sein Vater (tatsächlich von einem befreundeten General unterstützt) die Begnadigung herbeigeführt hatte. Bei dem Gedanken, die ferngeschriebene Lebensrettung aus Berlin wäre nicht rechtzeitig in der Harthmuthgasse eingetroffen, wurde ihm heiß im Gesicht.

Die eventuell noch zu verbüßende Zuchthausstrafe nach dem Krieg strich er aus seinem Gedächtnis. Er dachte an Georg, was ihm anfangs die Tränen in die Augen schießen ließ. Freund Georg, einer von Allahs Kindern. Und es ging ihm auch Georgs Glaube und von einem Wiedersehen im Jenseits durch den Kopf. Der Glaube wird ihm Trost gegeben haben, sagte er sich.

1998.

Hasso schildert seinen weiteren Weg von Wien bis zum Kriegsende mit eigenen Worten:

»Wir hockten aneinander gekettet auf der geschlossenen Ladefläche von Lastkraftwagen und wurden zu einem Bahnhof gefahren, den wir in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichten. Dort wartete ein Zug auf uns, an deren Personenwagen einige Güterwaggons angekoppelt waren. Wir mussten in die beiden letzten klettern, mit angeketteten Füßen von Mann zu Mann nicht ganz einfach. Trotzdem ging alles ziemlich schnell vonstatten, weil die Ketten die entsprechende Länge aufwiesen und wir vom Wach- und Begleitpersonal angetrieben wurden. Ich weiß gar nicht, wie viele Gefangene wir waren, eingepfercht in den beiden Waggons wie Vieh; ich schätze heute, so um die hundertfünfzig. Zivilgefangene waren nicht unter uns, wir alle waren von Wehrmachtsgerichten Verurteilte. Ob außer mir noch andere zuvor zum Tode Verurteilte dabei waren, weiß ich nicht. Ich hatte ohnehin immer nur meine eigene Situation im Kopf. Wohin es ging? Nach Glatz in Schlesien, heute heißt die Festungsstadt im jetzigen Polen Kolodzko. Vom Bahnhof Glatz wurden wir, angekettet, wie wir waren, mitten durch die Stadt auf die Festung getrieben. Auf dem Marsch dorthin traf mich eine Begebenheit wie ein Keulenschlag. Mitten in der Stadt – viele Passanten standen am Straßenrand und verfolgten unseren klirrenden Haufen ‒ erkannte ich plötzlich meinen Onkel Waldemar, Großonkel mütterlicherseits. Unverkennbar war es Onkel Waldemar. Ich rief ihn an, und er erkannte mich auch sofort trotz meines erbärmlichen Aussehens: kahlgeschoren und ziemlich mager. Onkel Waldemar aber schaute wie erschreckt zur Seite und ging schnell davon. Es muss ihm sehr peinlich gewesen sein, von

einem Gefangenen vor den anderen Zuschauenden, noch dazu mit Namen, angesprochen zu werden. Ich fragte mich, was der Onkel wohl in Glatz zu suchen hatte; vielleicht war er dort auch nur zu Besuch bei Bekannten.

Die Festungsanlage Glatz, ich habe zuvor nie eine größere gesehen, war mit Gefangenen regelrecht überfüllt. Ich glaube, wir verbrachten einige Monate dort, wir hatten keine Ahnung, verfolgten die Zeit nicht, dachten immer nur an unsere vollkommen in der Dunkelheit liegende Zukunft. Dann endlich erfuhren wir, es war Ende des Sommers, dass wir einer Feldgefangenen-Abteilung zugeführt werden sollten, was dann auch geschah. Mit dieser Abteilung, die aus Hunderten von Wehrmachtshäftlingen bestand, ging es in Güterwaggons in den Westen, zuerst war das Ziel Belgien, danach Holland. Belgien und Holland – das war uns bereits vor unserer Abfahrt in Glatz gesagt worden. Wir atmeten natürlich auf, nicht wieder an die Ostfronten geschickt zu werden. Belgien oder Holland? Was konnte uns denn da passieren? Wir wussten nichts von der Situation im Westen, nichts von dem, was entlang der Kanalküste vor sich ging. Wir waren überzeugt, dass die Wehrmacht im Westen nach wie vor alles im Griff hatte, nun, wir sollten das Gegenteil erfahren. Vom direkten Kriegsgeschehen kriegten wir ja eine lange Zeit nichts mit, kein Rundfunk, keine Zeitung, nicht die geringste Information. Ich muss noch erwähnen, dass unser Transport nach Belgien oft unterbrochen worden ist, ein ums andere Mal verließen wir die Waggons und wurden dann, manchmal für etliche Tage, in irgendwelchen Gefängnissen und Lagern untergebracht. Es war auch ein Grund, die auf dem Transport Gestorbenen und Todkranken zu entsorgen, die man dann mit neuen Gefangenen ersetzte. Von denen standen immer genügend zur Verfügung, obwohl, und das erfuhr ich erst nach Kriegsende, Hunderttausende vor die Hunde gingen. Damals kam es uns oft vor, als bestehe das Volk der Deutschen hauptsächlich aus Wehrmachtshäftlingen, Zuchthäuslern, KZ- und Gefängnisinsassen und SS-Soldaten. Die Verpflegung entsprach unserem Stand. Die Verpflegung war unzumutbar, um es auf einen Nenner zu bringen. Aus der Ferne sahen wir aus wie normale Landser im üblichen Feldgrau, allerdings ohne Schulterstücke und Kragenspiegel. Wir erhielten noch nicht einmal einen Stahlhelm, geschweige denn Waffen für Infanteristen. Die für uns Verantwortlichen waren gewiss der Meinung, dass Stahlhelm und Gasmaske für unsere geplanten Einsätze nicht erforderlich seien. Die wussten natürlich von unserer Kurzlebigkeit und handelten entsprechend. Unsere Einsätze? In Belgien, ich glaube, es war Ende August vierundvierzig, bauten wir Panzersperren und andere Hindernisse, ständig streng bewacht von Soldaten, den Karabiner schussbereit in den Fäusten. Ich weiß nicht mehr, ob es SS-Leute waren. Die Soldaten mussten aufpassen, dass von uns keiner abhaute, und doch versuchten es manche. Weit kamen sie allerdings nicht, sie wurden schnell erschossen. Nebenbei stellten wir uns die Frage, warum wir hier Hindernisse bauen und sogar Minen verbuddeln mussten. Reine Verteidigungsmaßnahmen, sagten wir uns. Dass es dem Engländer ge-lingen werde, irgendwann hier aufs Festland zu kommen, das hielten wir schlichtweg für aus-geschlossen. Wir fühlten uns, unsere Bewacher einmal außer Acht gelassen, von Feindeinwirkungen nicht bedroht. Doch das änderte sich kurze Zeit später, als wir von Belgien auf holländisches Gebiet marschierten, um auch dort für miese Aktivitäten eingesetzt zu werden. In Holland erfuhren wir dann sehr schnell, dass von der Normandie aus die Engländer und sogar Amerikaner und andere längst auf dem Vormarsch waren, was in uns einen regelrechten Schock auslöste. Und wir wussten natürlich seit Langem, welche Einsätze auf eine Feldgefangeneneinheit zukommen. Etliche von uns brauchten sich darüber keine Gedanken mehr zu machen, sie waren unterernährt an Erschöpfung oder sonst was gestorben, andere wiederum hatten versucht, zu fliehen und wurden erschossen. Und wenn du dann noch siehst, wie einer aus der Nachbargruppe einem ruppigen Aufseher mit dem Feldspaten den Schädel fast vom Rumpf schlägt, dann sind Angst und Verzweiflung kaum zu ertragen. Ein Ausgleich liefert aber auch die stille Wut auf das Bewachungspersonal, dem es Spaß bereitete, uns zu schikanieren. Kurzum, ich dachte wieder einmal nur an Flucht und schaffte sie auch eines Nachts. Wir biwakierten in einem Waldstück, als ich mich zum Latrinengang aufmachte. Meine Uniformklamotten hatte ich noch nicht abgelegt, hatte nur mein Rasierzeug in der Jackentasche. Ich will nicht alle Begleitumstände aufzählen, das würde zu weit führen. Also, ich war weg, hetzte durch den Wald, bis mich heftige Seitenstiche zur Pause zwangen. Als ich keine Schmerzen mehr spürte, setzte ich meinen Weg fort, immer Richtung Osten. Die Himmelsrichtungen zu bestimmen, war eine einfache Sache. Im Waldbiwak hinter mir musste mein Fehlen wohl sehr spät bemerkt worden sein, vielleicht auch erst am folgenden Morgen, denn Verfolger habe ich weder gehört noch gesehen. Tagsüber versteckte ich mich, nachts marschierte ich, aber immer so, dass ich die Gegend vor mir überblicken konnte. Ich musste Tag und Nacht höllisch aufpassen, Wehrmachtsteilen nicht in die Hände zu fallen, doch glücklicherweise waren die immer schon von Weitem auszumachen, allein durch ihre Fahrzeuggeräusche. Den holländischen Dörfern ging ich aus dem Wege, nur als ich vor Hunger fast schlappmachte, gab ich mich in einem Bauernhaus zu erkennen ... und hatte wieder einmal Glück. Das Bauernehepaar, das aufgrund seines Alters nicht bereit war, dem Kriegssturm durch Flucht zu entgehen, nahm mich auf. Bis auf einige Hühner war kein Vieh zu sehen. Was die beiden Alten zum Leben brauchten, war im Keller des Hauses untergebracht. Man mag es kaum glauben, aber die Leute ließen mich versteckt auf ihrem Hof, bis ich schon nach zwei Tagen glaubte, den sich immer stärker nähernden Kriegsgeräuschen entkommen zu müssen. Es war Winterzeit, frostfrei, aber nasskalt. Die Leute statteten mich mit einer Decke und etwas Verpflegung aus, und ich machte mich davon. Nun, es hätte auch anders kommen können. Denn es war zu bedenken, dass den Holländern nur durch den Kopf ging, den Deutschen die Pest an den Hals zu wünschen.

Es war auch wieder nützlich für mich gewesen, dass ich immer noch mein Foto mit der Erklärung des ukrainischen Offiziers bei mir trug. So ein Stückchen Fotopapier ist bei sich selbst leicht zu verstecken; und wenn man es fast nie benötigt, verkommt es auch nicht. Nun, ich war nicht mehr weit entfernt von der holländisch-deutschen Grenze. Doch wohin sollte ich mich wenden? Ich konnte mich nirgendwo sicher bewegen, weder auf holländischem noch auf deutschem Gebiet. Natürlich zog es mich auf deutsches Gebiet. Größere Waldbestände gab es in dieser ganzen Gegend nicht, ich marschierte immer nur, wenn die Luft rein war, von Wäldchen zu Wäldchen, von Buschreihe zu Buschreihe. Ich beobachtete Wehrmachtstrupps, die mit und ohne Fahrzeuge in westliche Richtung zogen. Ich durfte keinesfalls ihre Wege kreuzen oder auch nur berühren. Mittlerweile ging es mir hundsmiserabel. Ich suchte nicht nur Waldstücke auf, sondern hielt auch vornehmlich nach Feldscheunen Ausschau, bis ich dann eine erreichte, die ordentlich stabil schien. Ich hatte sie aus sicherem Versteck eine Weile in Augenschein genommen, war mir dann aber sicher, dort niemanden anzutreffen. Heu, Stroh, aber auch Pferdedecken fand ich vor, sodass ich mir vornahm, solange zu bleiben, bis ich mich erwärmt und einigermaßen erholt hatte. Und dann wurde ich doch wieder aufgegriffen. Deutsche Soldaten unterbrachen meinen Schlaf. Es waren Angehörige einer stark dezimierten Infanteriekompanie, deren Chef oder Führer ein Feldwebel war, also nicht wie üblich ein Offizier. Die Männer hatten einen Kübelwagen, der mit allerhand Ausrüstungssachen und unverkennbar etlichen Kisten mit Gewehrmunition beladen war, unter dem ausladenden Scheunendach abgestellt. Ich schlief so fest, dass noch nicht einmal das Motorengeräusch mich hatte wecken können.

Das Verhör war nur kurz. Jedenfalls wollte mich der Feldwebel nicht den Kettenhunden ausliefern, gliederte mich stattdessen in seinem Haufen ein. Der Mann wusste sehr genau, dass der Einsatz gegen die anrückenden alliierten Soldaten mit dem Tod oder mit Gefangenschaft enden werde und der Krieg schon seit Langem verloren war. Was also kümmerte ihn und seinen Männern ein sich von der Truppe abgesetzter Landser? Zu guter Letzt wurde ich also doch noch ein regulärer Soldat, mit Uniformteilen, Stahlhelm, Mütze und so weiter aus dem Kübelwagen. Nur ein Erkennungsblech, die sogenannte Hundemarke, fehlte natürlich. Wozu sollte ich sie brauchen? Angehörige einer Strafeinheit benötigten kein Erkennungsmerkmal, sie starben und wurden von ihren überlebenden Leidensgenossen verscharrt, bis für sie selbst Gruben ausgehoben wurden oder auch nicht, weil keiner von ihrer Einheit mehr am Leben war.

Nur wenig später rückten wir dann in die Richtung vor, aus der ich zuvorgekommen war. Ich hatte auch meine Knobelbecher gegen andere austauschen können, gebraucht, aber in Ordnung. Die Sachen stammten nicht von Gefallenen, sagte mir der Feldwebel. Die neuen Stiefel waren für meine Plattfüße natürlich wieder ein Problem. Glücklicherweise machten wir keine Gewaltmärsche, legten oft einen Halt ein. Da konnte ich meinen Karabiner mal näher betrachten, so ein Ding hatte ich ja noch nie in der Hand, und wir hörten teilweise mit, was ein Funker neben dem Feldwebel entgegennahm. Je weiter wir nach Westen kamen, umso deutlicher drangen uns die Kampfgeräusche von vorn in die Ohren. Zudem bedrohten uns britische Flugzeuge, die auf alles schossen, was sich unter ihnen bewegte. Aber auch ein feines Kettenklirren von Panzern glaubten wir wahrzunehmen. Ich wollte erneut so schnell wie möglich abhauen, wieder Richtung Osten, was mir dann auch gelang.

Ich schlug mich durch, ich will es ohne lange Erlebnisun­terbrechungen sagen, bis in die Lüneburger Heide. Als ich mich noch in Holland versteckt hielt, malte ich mir aus, was mich auf deutschem Gebiet wohl erwarten könnte. Deutschland! Ich fürchtete aber gleichzeitig auch meine Landsleute, dachte, dass im­mer noch fast alle dem Nationalsozialismus hörig seien, immerhin hatten sie ja die Nazis als angebliche Heilsbringer gewollt, damals alle Teufel dieser Welt gewählt. Was wusste ich denn vor meinem Einmarsch in Belgien vom Zustand deutscher Städte? Während des Transports durch Deutschland sahen wir keine zerbombte Stadt, denn die Güterwaggons hatten keine Fenster. Musste der Zug halten, dann in Kleinstädten oder auf freier Strecke an Waldrändern.

Überrascht war ich, dass mir, als ich bei meiner Flucht durch Holland ‒ also mein Einsatzland nach Belgien ‒ nicht mehr ein noch aus wusste, tatsächlich von Holländern geholfen wurde. Ich bekam etwas zu essen, eine für meine Gönner entbehrliche Wolldecke, durfte mich reinigen. Aber schnell musste ich immer wieder verschwinden. Nur einmal ließ man mich in einer Wohnung zusätzlich ein paar Stunden schlafen. Alle diese Holländer auf dem Lande, die mir weiterhalfen, hatten nicht minder Furcht als ich, nein, nicht vor den vordringenden Alliierten, die sie, wie ich erfuhr, hoffnungsvoll erwarteten, sondern vielmehr vor der SS und den Kettenhunden. Hätten die mich in irgendeinem Haus entdeckt oder auch nur meine Uniformjacke bei den Bewohnern, dann hätte das für mich und meinen Gönnern der Tod bedeutet. Wie gesagt, die Leute an den Dorfrändern – in eine Dorfmitte traute ich mich ohnehin nicht hinein ‒ litten wie ich unter der Angst, die ich mit meiner Anwesenheit nicht auch noch vergrößern wollte. Mein in der Vergangenheit zumeist kahler Schädel war inzwischen wieder ziemlich dicht bewachsen. Meine arg strapazierte und schmutzige Wehrmachtshose durfte ich einmal ebenso tauschen wie meine Unterwäsche. Meinen Uniformrock behielt ich an, ebenso meine Mütze. Gewiss hätte ich auch den Rock gegen eine zivile Jacke tauschen können. Doch nachdem mir eine Gastgeberin die Kragenspiegel entfernt hatte – die waren weiß, die hätten mich schon von großer Weite verraten –, behielt ich ihn. Von den Bewohnern erfuhr ich auch zum ersten Mal, dass es nicht mehr lange dauern werde, bis die Rote Armee in Deutschland einmarschiere. Und ich hörte zum ersten Mal vom Untergang der sechsten Armee in Stalingrad, was bereits lange her war. Es waren viele Verbände untergegangen, die Situation der sechsten Armee hätte aber besonders starke Echos hervorgerufen, hörte ich. Ich konnte mir keinen Reim daraus machen, hatte auch keine Ahnung von der Größe einer Armee.

Ende April hatte ich die Lüneburger Heide erreicht, viel­leicht war es auch schon Anfang Mai.

Die Engländer waren schneller angekommen als ich, was nicht verwunderlich war, denn sie durchstießen Norddeutsch­land motorisiert und fast ohne Gegenwehr, ich aber war zu Fuß. Auf der schmalen Verbindungsstraße zwischen den Dörfern Salzhausen und Westergellersen – die Namen vergesse ich nicht – stellte ich mich der Vorhut einer englischen Panzerko­lonne in den Weg. Ich wollte endlich aufgeben, war fix und fer­tig, spür­te keine Angst vor einer möglichen englischen Gefan­genschaft, hatte immer nur die Angst vor den Russen und den eigenen Truppen im Nacken gehabt.

Der Kommandant des Führungsfahrzeugs, der stop­pen ließ, ließ mich aufsteigen. Er stieg aus dem Turm und tastete mich sofort nach versteckten Waffen ab. Er hätte mich auch glatt überfahren lassen oder erschießen können, wahrscheinlich war er es leid, weiterhin zu töten. Und sich mit einem einzigen Gefangenen abzugeben, schien ihn auch nicht zu gefallen. Ich hörte es aus seinen Worten, denn die englische Sprache war mir noch aus der Schulzeit im Kopf. Ich gab mich ihm sofort als Fahnenflüchtiger zu erkennen und sag­te, nach Hamburg, nach Hause zu wollen, was ihn anscheinend zufriedenstellte. Zu ausführlicheren Erklärungen kam ich nicht. Er zwängte sich wieder durch seine Luke, warf mir ein Verpflegungspäckchen zu und bedeutete mir, mich gut festzuhalten. Dann gab er ein Zeichen nach hinten, und das Kettenrasseln ging weiter. Diesmal war es wie Musik in meinen Ohren. Und als stille Begleitung war zum ersten Mal seid Jahren Freude in mir aufgestiegen; denn ich bekam mit, dass der Krieg zu Ende war.

Welches Ziel die Kolonne ansteuern wollte, wusste ich nicht. Sie wollen an die Elbe, dachte ich, als wir westlich an Lüneburg vorbei dröhnten. In östlicher Richtung konnte ich eine englische Rad­fahrzeug-Kolonne ausmachen, die direkt nach Lüneburg hineinfuhr, was mich endgültig überzeugte, dass der ganze ver­dammte Krieg tatsächlich zu Ende war. Niemand, so sagte ich mir, könnte mich jetzt noch wegen Fahnenflucht belangen.

Es verging keine halbe Stunde, da war mir klar, dass diese Panzerkolonne sich auf Hamburg zubewegte. Hatte mich der englische Kom­mandant mitgenommen, weil ich auch nach Hamburg wollte? Bereits vor den Elbbrücken konnte ich erkennen, welche Zerstörungen die alliierten Bombenflugzeuge angerichtet hatten. Wie viele Menschen dabei ihr Leben verloren, erschreckte mich erst Tage später. Nach Georgs Ermordung kam zum zwei­ten Mal Fassungslosigkeit über mich und löste meine Jubelge­fühle blitzartig ab. Vor der Kreuzung Amsinck- Spaldingstraße war End­station meiner Flucht. Die Kolonne fuhr in großem Abstand, sodass die folgenden Panzer nicht halten mussten, als ich ab­sprang. Für den englischen Panzerführer ist es vielleicht eine willkommene Abwechslung gewesen, einem aufgegriffenen deutschen Deserteur behilflich zu sein. Als ich auf der Straße neben der Antriebskette des Panzers stand, warf er mir einen Beutel zu, in dem neben einer weiteren eisernen Ration auch eine Stange Chesterfield steckte.«

Soweit Hasso Schützendorfs direkte Schilderung. Am Ende seiner jahrelangen Odyssee war er zwanzigeinhalb Jahre alt.

HASSO - Legende von Mallorca

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