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9. Neues Zuhause

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Es war für ihn kein Leichtes, sich in der unglaublich zerstörten Stadt zu orientieren. Wohin sollte er seine Schritte lenken durch Ruinen und Trümmer verengte Straßen mit teilweise verbogenen, abgeknickten oder fehlenden Straßenschildern? Und sich an wohlbekannte Gebäude zu halten, gelang ihm nur mäßig: Die Bomben hatten derbe Arbeit geleistet.

Hassos sich schnell steigernde innerliche Erschütterung teilte sein bis dahin vorherrschendes Empfinden, sich nun wieder ohne Angst vor Vollstreckern eines absolut irren Regimes, dem ein ganzes Volk von höchstem kulturellen und wirtschaftlichen Niveau in die Herrschersessel hievte, bewegen zu dürfen.

Die Sonne an diesem Tag beschien warm die demolierte Stadt. Dem in die Innenstadt zustrebenden Hasso fiel bald auf, dass schon vor der englischen Panzerabteilung, auf deren erstem Fahrzeug er Hamburg erreicht hatte, sich britisches Militär in der Stadt niedergelassen hatte. Gelegentlich mussten die Straßenpassanten entgegenkommenden oder überholenden Besatzungsfahrzeugen ausweichen. Für Hasso war vordringlich, zumindest für die erste Nacht ein Unterkommen zu finden, was ihm angesichts bedrohlich aufragender Gebäudefassaden und Schuttbergen nicht eben leichtfiel. Vielleicht waren für die Ausgebombten, die keine Möglichkeit mehr hatten, sich selbst zu beköstigen, Verpflegungsstellen eingerichtet worden. Für ihn war jedoch naheliegend, zuerst die väterliche Wohnung zu finden. Auch wenn Haus und Wohnung nicht zur Ruine geworden waren, glaubte er nicht seinen Vater anzutreffen. Und so war es auch. Das Zweifamilienhaus war nicht komplett zerstört worden, aber auch nicht mehr bewohnbar. Er sagte sich, dass ihm vorerst ein planloses Suchen nach seinem Vater nur unnötig Kraft und Zeit abverlange, und auf eine Spur nach anderen Familienangehörigen zu kommen, schloss er nach seinem jahrelangen Fluchtelend ohnehin aus. Also versuchte er, Adressen früherer Freunde und Freundinnen aus seinem Gedächtnis zu kramen, wobei er auch auf den Namen Friedlinde stieß. Sie war die Tochter eines Kapitäns der Handelsmarine, in dessen Haus im Stadtteil Harvestehude sich Hasso früher hin und wieder aufgehalten hatte. An Friedlinde, nun auch fast einundzwanzig und eventuell sogar verheiratet, dachte er weniger, vielmehr an ihre Eltern. Der Kapitän musste nach einem Unfall Anfang des Krieges seinen Fahrensberuf aufgeben und wurde in den Innendienst seiner Hamburger Reederei versetzt. Dort verrichtete er seinen Dienst, bis auch das Gebäude der Reederei den Bomben zum Opfer fiel. Der Kapitän war ein Mann mit freundlichem und fröhlichem Gemüt, die Mutter eher ein zurückhaltender und stiller Mensch.

Gegen Abend erreichte Hasso sein Ziel. Das Anwesen der Kapitänsfamilie war von Bomben verschont geblieben, aber ab zwei ebenfalls unversehrten Häusern nebenan sah es beiderseits der Straße hinunter wie fast überall in der Stadt böse aus.

(Nach den alliierten Bombardements im Juli 1943 ist nicht nur die Stadt verwüstet worden ‒ das sei hier vermerkt ‒, es sind dazu auch rund 35.000 Bewohner ums Leben gekommen. Und wieder die Frage nach dem Sinn ...)

Das Kapitänsehepaar war zu Hause, auch die noch ledige Tochter Friedlinde. Für das Mädchen war es in dieser Zeit schwierig geworden, einen ihr entsprechenden Heiratskandidaten zu finden, zu viele junge Männer waren dem teuflischen Führer geopfert worden. Natürlich war die Familie aufs Höchste überrascht, einen abgemagerten, insgesamt unansehnlichen Hasso zu begrüßen. Doch dann wurde er eingeladen und konnte in kurzen Zügen seine Vergangenheit, sein Aussehen und den Grund seines Besuches erklären. Der Kapitän sann nicht lange nach und bot seinem Besucher vorläufiges Unterkommen an: Im Haus könne durchaus noch ein Zimmer freigemacht werden. Neben sich am Stuhlbein hatte Hasso seinen Beutel abgelegt, aus dessen Innern ein Teil der Chesterfield-Stange herausragte, was dem Kapitän nicht entging. »Bis du anderweitig unterkommen kannst«, sagte er, »oder erfahren hast, wo sich deine Angehörigen aufhalten, bleibst du hier, wenn du willst.« Der Beutelinhalt bestärkte sicherlich sein Hilfsangebot. Nach kurzer Zeit steckte er sich eine Chesterfield an, sog den vermutlich lange vermissten Rauch tief in seine Lungenflügel, bis ihm nach dem ersten Zug schwindlig wurde. Doch das Schwindelgefühl quälte ihn nicht lange, und er genoss den Qualm, in wahrstem Sinne des Wortes, in vollen Zügen. Seine Frau, die innerlich Hassos Besuch nicht gerade als glücklichen Umstand wertete, hielt sich zurück, fixierte aber unentwegt den für sie ungebetenen Gast aus den Augenwinkeln, indes Friedlinde, die gefalteten Hände im Schoß, still auf ihrem Stuhl saß.

»Was hier los war vor nun mehr bald zwei Jahren, was wir durchgemacht haben, das kannst du dir nicht vorstellen«, rief der Hausherr, nachdem Hasso mit seiner kurz gefassten Geschichte zu Ende gekommen war, und setzte hinzu: »Danke Gott, dass du nicht hier gewesen bist!« Und ob Hasso aufgefallen sei, wie die Engländer und Amerikaner ihre einstmals doch so schöne Stadt zugerichtet hätten. Er habe gehört, nur die Engländer hätten die Wohngebiete der Stadt bombardiert, was sicherlich als Vergeltung anzusehen sei. »Die Deutschen waren es doch«, rief er mit Nachdruck, »die mit der Bombardierung englischer Städte angefangen haben. Da müssen wir uns nicht wundern. Und jetzt der Hunger! Der Krieg ist seit Kurzem vorbei, aber mit Deutschland wird es nie wieder was, das kannst du mir glauben. Alles, was laufen kann, hamstert in der Gegend herum, hamstert, tauscht und handelt auf dem Schwarzmarkt. Ich bin auch dabei, habe Gott sei Dank noch meine Beziehungen. Junge, wenn du die Züge siehst, soweit sie wiedereingesetzt werden können, da erkennst du vor lauter Menschen kaum die Umrisse der Waggons. Vernünftig ist es sicherlich, dass jetzt wieder Lebensmittelmarken eingeführt werden, damit die Reichen nicht alles wegkaufen können. Zugeteilte Lebensmittelmengen gab es ja auch schon im Kriege, du kannst dich sicherlich daran erinnern: pro Person soundso viel Gramm Fett, Zucker, Brot und so weiter. Dürfte ich noch eine Zigarette bekommen? Ich will dann mal nachgucken, ob ich nicht Sachen habe, die dir einigermaßen passen. Die probierst du nachher an, nach dem Baden. Deine jetzigen Klamotten stecken wir in den Mülleimer. Und an Wasser mangelt es uns nicht, wir sind nicht auf das öffentliche Wassernetz angewiesen, haben immer noch den Brunnen mit der Handpumpe in der Waschküche. Und morgen gehst du zum Einwohneramt oder besser, ich gehe mit. Zeit habe ich genügend. Es könnte nämlich sein, dass du dich vor lauter Trümmerbergen zwischen den Ruinen nicht mehr zurechtfindest. Du musst dich neu anmelden und auch einen Ausweis beantragen. Am besten, du gibst deine alte Wohnungsadresse an, die ist im Amt sicherlich noch vorhanden. Vielleicht erfährst du dort auch, wo dein Vater abgeblieben ist, denn wo ihr gewohnt habt, steht kein bewohnbares Haus mehr. Das Amt ist für dich die wichtigste Anlaufstelle, allein schon wegen der Zuteilung einer Lebensmittelkarte. Da fällt mir ein: Unser Nachbar hat eine kleine Dunkelkammer und ich einen Fotoapparat, sogar mit einem Film drin. Ich mache ein paar Fotos von dir, aber der Nachbar kann das sicherlich besser, der schneidet die Fotos ins richtige Format. Ohne Passbild kein Ausweis, das gilt auch in einer zerstörten Stadt.«

Nach dieser langen Verlautbarung drückte der Kapitän seine zweite Kippe auf der vor ihm stehenden Untertasse aus, wobei er sich fast die Finder verbrannte. Dann meinte er ‒ in Wahrheit ein Angebot, um nicht zu sagen, eine Forderung ‒, dass es Hasso kaum für möglich halte, wie viel Speck und Eier er für die Zigaretten eintauschen könnte. Auch wer viel Geld habe, komme nicht weit. Denn was sollte man kaufen? Zigaretten allerdings seien das Gold beim Tauschen, man müsse nur höllisch aufpassen, dass sie einem nicht weggerissen werden. Wer Land besitze, könne sich natürlich seinen Tabak selbst anbauen, auch er selbstverständlich, die Frage sei allerdings, woher die Tabakpflanzen oder deren Samen nehmen. Und über das hinaus, was die neuen Lebensmittelkarten hergäben, kriege man nichts, rein gar nichts, schon gar nicht Tabakwaren. Kaufhäuser, Geschäfte und so weiter? Die habe man nur noch in schöner Erinnerung; und er warf ein: »Könntest du auf einige Schachteln verzichten, mein Junge? Sei froh, dass du noch nicht rauchst.« Hasso überließ ihm vier Päckchen.

Des Kapitäns bisher stille Ehefrau haderte mit sich und der Welt, dass ihr Mann dem wieder aufgetauchten, abgerissenen Hasso Unterkunft gewährte, wobei sie vorrangig die bis dato ungefährdete Keuschheit ihrer Tochter im Auge hatte. Ja, damals, 1941 noch, als der Kapitän die Hoffnung hegte, Hasso später als seinen Schwiegersohn gewinnen zu können, also den Spross einer berühmten Künstler-Familie, da seien das ganz andere Verhältnisse gewesen. Aber heute ...? Doch vielleicht gehen meine Gedanken jetzt zu weit, sagte sie sich endlich, und bewegen sich auf einer Fährte, der Friedlinde gar nicht folgen will.

Friedlindes Gedanken waren in der Tat andere. In ihren Zukunftsplänen hatte Hasso schon früher nie eine Rolle gespielt. Er war ein wilder Bursche gewesen, hinter jedem Rock her, als sie sich als Schüler und Komparsen, noch nicht siebzehnjährig, bei der Filmgesellschaft in der Blumenstraße austoben durften. Natürlich musste auch sie erst einmal ihrer Überraschung Herr werden, als Hasso unvermittelt hier bei ihnen einbrach. Nun aber, nach einer längeren Zeit am Tisch, lächelte sie verlegen, und ihre Blicke streiften wie beiläufig die am Tisch sitzende ausgemergelte Gestalt. Sie verglich sie mit jener, die in ihrer Erinnerung haften geblieben war. Nein, der hier saß, war nicht der allen anderen überlegene Junge, der hier war nichts weiter als ein Häufchen Elend. Sie selbst war auch nicht gerade von vollweiblicher Statur, war mager wie ehedem und etwas linkisch, aber eben nicht halb verhungert.

Hasso indes fühlte sich längst nicht mehr wie ein Häufchen Elend, schon gar nicht, nachdem er die Badewanne genutzt, sich rasiert – der Kapitän besaß einige Apparate samt Klingen – und auf Anraten des Hausherrn die inzwischen nachgewachsenen Haare komplett abrasiert hatte. »Ich erachte das als notwendig, mein Junge, gegen eventuellen Läusebefall. Die Haare wachsen dir wieder umso schöner nach, wenn mit diesem Ungeziefer nicht mehr zu rechnen ist. Mein Kopf wäre natürlich auch geschoren, wenn ich gewissermaßen von Haus aus nicht schon eine Glatze hätte. Hier haben wir keine Läuse, aber wenn man unterwegs ist und unter vielen Menschen, dann kann man sich schnell welche einfangen.«

Hasso konnte dann glücklicherweise noch auf einen Stapel von Kleidungsstücken seines Gönners zurückgreifen, einschließlich eines Paares ausgemusterter Halbschuhe. Diese bekamen in seitlicher Höhe der großen Zehen einen Einschnitt, wegen der geringeren Breite zu Hassos Plattfüßen. Höhepunkt des Tages war das bescheidene, zeitgemäße Abendessen, für Hasso dennoch ein Festmahl. Friedlinde sah den Gast nun auch mit anderen Augen, fand ihn gar nicht mehr so übel. Hassos kahler Kopf störte sie nicht sonderlich, weil die Haare ja nachwuchsen, dafür gefielen ihr seine schwarzen, breiten Augenbrauen umso besser. Und dass von ihm ein ganz anderer Duft ausging als vor seiner Reinigung, empfand jeder im Hause als Annehmlichkeit. Insgesamt betrachtet war es gewiss Hassos Jugend zu verdanken, dass er seine Vergangenheit durchgestanden hatte. Wenngleich die britische Militärregierung einen Großteil der öffentlichen Gebäude und Schulen, teils stark beschädigt, aber gesichert, wiedereröffnen ließ und sich, pauschal gesagt, mit der Lebensmittelzuteilung um die Versorgung der Bevölkerung kümmerte, wurden Großstädter nie richtig satt. Das Hamstern über Land gehörte für Unzählige, in und auf Zügen, überwiegend aber zu Fuß oder auf dem Fahrrad, zu ihren notwendigen Tagesabläufen. Vieles spielte sich auf den Schwarzmärkten ab, obwohl sie verboten waren.

Hasso war froh, schnell ein Dach über dem Kopf bekommen zu haben. Er wurde auch wieder in eine Oberschule delegiert, und er hoffte, hier dann auch die Reifeprüfung bestehen zu können. In seiner Klasse waren die Verhältnisse nicht mit denen in früheren Jahren vergleichbar. Jungs, die altersmäßig diese Klasse belegten, teilten sich den Raum mit weitaus älteren, zumeist kränklich aussehenden Schülern, die Gesichter hager und teils bläulich fleckig. Fast alle hatten Fronteinsätze oder Bombenterror überlebt. Der Krieg hatte diese jungen Menschen überwiegend psychisch gezeichnet; aber sie lebten. Wie viele ihrer Generation wohl kein Klassenzimmer oder eine Lehrlingswerkstatt mehr betreten konnten ...? Gedanken daran sprach niemand aus. Jedenfalls konnten die hier Überlebenden ihre Chance wahrnehmen, ihre Schulausbildung zu Ende zu bringen, was ihnen die Naziführung vereitelte. Nahm auch Hasso seine Chance wahr? Man sollte meinen, dass dies nach seinen Erlebnissen solch einer Frage nicht bedurfte. Aber es ging wieder einmal anders aus. Vormittags war Unterricht bei älteren, entnazifizierten Lehrern, nachmittags, bei schlechtem Wetter, war wildes Treiben in der Schule angesagt, wobei sich Hasso einmal mehr unangepasst hervortat. Trotz jahrelanger Flucht und wiederholter Todesängste schien er physisch wie psychisch keinen Schaden davongetragen zu haben. Wir wollen uns hier jedoch nicht in Einzelheiten verlieren und zu richten versuchen ... das tat dann die Schulleitung. Als die Abmahnungen der Lehrer aus alter, streng gesitteter Zeit anscheinend nichts bewirkten, fand sich Hasso als angeblich treibende Kraft für wildes Verhalten in den Klassenräumen auf der Straße wieder. Diese peinliche Angelegenheit war für ihn der Anlass, sich von seiner Gastfamilie, der er seinen Hinauswurf aus der Schule nicht verschwieg, zu verabschieden. Er wolle, sagte er zum Kapitän, zu seinem Vater nach Kleinmachnow bei Berlin ziehen. Des Vaters Adresse war ihm schon seit Langem bekannt, sie war im Ordnungsamt verzeichnet. Hasso hatte seinen Vater natürlich schon besucht, und beide hatten ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit ausgetauscht. Doch in Kleinmachnow zu bleiben, das war nicht Hassos Absicht, obwohl ihm sein Vater das mit Nachdruck angeboten hatte. Einerseits wollte Hasso in der, wenn auch weitestgehend zerstörten Großstadt wohnen bleiben, andrerseits kam er mit Vaters junger Lebensgefährtin nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Vater Schützendorf war nicht unvermögend und sicherte immerhin des Sohnes Lebensunterhalt, was wiederum auch der Kapitänsfamilie zugutegekommen war. Hasso blieb anscheinend nichts Anderes übrig, als nach Kleinmachnow zu reisen, um nochmals die Verhältnisse dort zu sondieren. Also machte er sich auf den Weg, teils auf dem Trittbrett, teils auf dem Dach eines Personenzuges, was für ihn ja keine neue Erfahrung bedeutete. Das erneute Wiedersehen war herzlich, und der Vater glaubte, nun werde sein Sohn endlich bei ihm bleiben. Aber Hasso blieb nur wenige Tage, die Antipathie gegenüber der Lebensgefährtin des Vaters war übermächtig, und er war auch nicht willens, sich in die hiesigen Verhältnisse einzubringen. Vater Eugen mühte sich um seinen Sohn vergebens, war ihm aber nicht gram. Hasso habe eben seinen eigenen Kopf, er sei eben ein Schützendorf. »Sei, wie es sei«, sagte er, »wir beiden sind ja nicht aus der Welt. Und wenn du in Hamburg in absehbarer Zeit einen Studienplatz findest, würde mich das natürlich freuen. Irgendwie muss es ja wieder aufwärtsgehen.«

»Darf ich dein Fahrrad zurück nach Hamburg benutzen?«, fragte Hasso unverwandt, nachdem er mit seinem Vater ins Reine gekommen war.

»Was höre ich da? Du willst mit dem Fahrrad nach Hamburg radeln?«

»Genau das möchte ich, falls du das Rad nicht selbst benötigst.«

»Bist du dir im Klaren, durch die sowjetische Besatzungszone fahren zu müssen? Nach ein paar Kilometern bist du das Rad los und kannst sehen, wie du weiterkommst. Die Russen freuen sich wie Kinder, wenn sie endlich das Radfahren üben können. Aber nicht nur die Russen können dir gefährlich werden, in diesen Zeiten sind alle möglichen Gauner unterwegs.« Aber Hasso ließ nicht locker, und Vater Eugen gab sich geschlagen. »Morgen früh gehen wir ins Bürgermeisteramt, da soll man dir ein Schutzpapier ausstellen. Die machen das speziell für Reisende, das ist bekannt. Wir sagen, dass du Student bist und das Fahrrad in Hamburg benötigst, und vor allem, dass du ein ehemaliger Fahnenflüchtiger bist. Aber das wird wahrscheinlich für einen Ausweis oder dergleichen nicht notwendig sein.« Hasso fragte noch, ob eventuell ein Foto von ihm benötigt werde, außer seinem KZ-Foto (es überstand alle Vergangenheitswirren) habe er noch zwei Stück von der Fotoaktion mit seinem Kapitän bei sich.

Hasso bekam das Dokument und hoffte nach Fahrtantritt, dass ein Rotarmist, der scharf auf sein Fahrrad war, die Empfehlung erkannte und respektierte.

Nach seiner glücklich verlaufenen Rückkehr – er hatte sich immer wieder ähnlich besorgten Radfahrern angeschlossen – nahm ihn die Kapitäns-Familie erneut auf. Sie tat es nicht ungern, denn dadurch mussten sie kein freies Zimmer für eine Zwangsvermietung melden. Zudem erhielt sie von ihrem Untermieter dank Vater Eugens Hilfe Wohngeld. Für seinen Verpflegungsbedarf stellte Hasso der Familie seine Lebensmittelkarte zur Verfügung.

Doch der Sommer war noch nicht zu Ende, da kündigte der Kapitän das Mitwohnverhältnis. Er ließ Hasso aber noch so lange bei sich, bis er eine andere Unterkunft gefunden hatte.

Kapitän und Ehefrau nahmen Hasso auch nicht direkt dessen nächtliche Ausflüge in Friedlindes Zimmer übel, wollten sich aber mit seinem für sie überraschenden politischen Engagement überhaupt nicht abfinden. Nicht, dass es seine politische Haltung nicht akzeptierte, soweit er sie nur für sich und außer Haus auskostete, nein, es missfiel ihm, dass Hasso eine Papptafel im Fenster seines Zimmers im Erdgeschoss zur Straße hin nicht entfernen wollte. ‒ Was aber hatte es mit der Papptafel im Fenster auf sich? Zunächst die notwendige Erklärung dazu:

Hasso hatte sich vor Kurzem als Student der Medizin in der Universität ‒ oder das, was noch benutzbar war ‒ einschreiben lassen. Wie er das ohne Reifezeugnis schaffte, wird noch zur Sprache kommen. Als Mitglied der medizinischen Fakultät war er im Kreise seiner Mitstudierenden, die sich vermehrt mit der Ideologie des Kommunismus' beschäftigten und sich auch für ihn engagierten, schnell mit bei der Sache. Bemerkenswert, dass sich überwiegend Medizinstudenten für den Kommunismus erwärmten. Und Hasso, immer begeisterungsfähig, wurde bald Sprecher der roten Schar. Er propagierte hauptsächlich den Standpunkt, die KPD zumindest auf die Höhe zu Zeiten der Weimarer Republik zu bringen, wozu es notwendig sei, viele neue Mitglieder anzuwerben, ob in den Hörsälen oder auf den Straßen. Zu diesem Zweck hatte er die oben angesprochene Papptafel in das Fenster gestellt, mit dem deutlichen Aufruf: NUR MIT DEM KOMMUNISMUS EIN NEUES, BLÜHENDES DEUTSCHLAND!

Hasso könne ja bei seiner Gesinnung bleiben, gab sich der Kapitän verständnisvoll, er könne es aber nicht dulden, sie in Verbindung mit seinem Haus, mit seiner Familie zu setzen. Die noch vorhandenen Nachbarn und alle jene, die seit ewigen Zeiten mit ihm und seiner Familie in gutem Einvernehmen lebten, würden dafür nicht das geringste Verständnis aufbringen, obwohl, nein, das verhehle er nicht, mancher von ihnen höchstwahrscheinlich ebenfalls dem Kommunismus zugetan sei. Denn Nicht der Russe habe ihre schöne Stadt zum Trümmerhaufen gemacht und zig Tote gefordert, sondern die Alliierten. Mit ihm, also mit Hasso, hinge ihm schnell ein Ruf an, der in seine Kreise ganz und gar nicht hineinpasse. Von der irrsinnigen Nazi-Vergangenheit habe er – »... und auch du, mein Junge ...« – die Schnauze gestrichen voll ... Und nun den Kommunismus begrüßen? Stalin, Molotow und Konsorten ...?«

Hasso entfernte die Papptafel, stellte sie aber immer wieder auf. Er hielt auch fest an seiner Gesinnung, die in Wahrheit bei ihm irgendwann in keine grundlegende Überzeugun mündete, sondern nur vorübergehender Natur war. Es war, um dies Thema abzuschließen, in Hassos Lebenslauf der einzige Zeitabschnitt, in dem er glaubte, sich politisch betätigen zu müssen. Das traf auf viele Studenten zu. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch Deutschlands stand der Kommunismus etlichen Bevölkerungsschichten ziemlich nahe. Es war auch nicht unbedingt mit dem Wissen und der Erkenntnis bei den meisten Menschen zu rechnen, wie menschenverachtend und grausam sich der Kommunismus in seinem Herrschaftsbereich entwickelt hat. Man konnte sich leicht mit den Thesen von Marx und Engels anfreunden, soweit wissende Männer und Frauen fähig waren, öffentlich den Kommunismus als Heilsbringer zu propagieren. Von den verbrecherischen Praktiken eines Joseph Stalin bereits all die Jahre vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion war wenig bekannt. In den Besatzungszonen in Deutschland – die sowjetische ausgeschlossen – wurden demokratische Parteien nicht lange nach dem Krieg neu ins Leben gerufen. Und die rot orientierten Studenten? In ihnen wird im Verlauf ihrer sich entwickelnden Reife und spätestens nach Ablegung des Staatsexamens ein rigoroses Umdenken stattfinden. Berufsfindung, Berufsausübung und das Geldverdienen werden in den Vordergrund treten. Natürlich sind dergleichen Entwicklungsstadien in den Reihen der Intelligenz zu verfolgen, die extrem radikalen Gruppierungen spielen für die meisten von ihnen aber keine Rolle mehr.

Eine neue Bleibe fand Hasso bald. Mit drei anderen Medizinstudenten bezog er ein Zimmer, das in normalen Zeiten für höchstens zwei Personen eingerichtet wäre. Die engen Verhältnisse störten Hasso nicht, er hatte jahrelang andere Lagerstätten überstehen müssen.

Doch wie war es ihm eigentlich gelungen, sich ohne nachgewiesenes Abitur für ein Studium eintragen zu lassen? Er besaß keinerlei Nachweise. Vater Eugen, in den Hamburger Bombennächten in Berlin, hatte nichts aus seiner ehemaligen Wohnung retten können, weder Familienpapiere noch Schulzeugnisse. Und genau diese Misere kam Hasso sehr entgegen. Somit wurde ihm aufgetragen, eine ausführliche eidesstattliche Erklärung abzugeben. Darin führte er an, während eines sowjetischen Fliegerbeschusses infolge seiner Flucht aus Königsberg (!) seine persönlichen Unterlagen verloren zu haben, darunter auch das Abiturzeugnis. Lückenlos verfasste er seine eidesstattliche Erklärung indes nicht: Er verschwieg KZ und Desertion nicht, aber seinen Einmarsch in Hamburg 1945 auf einem britischen Panzer. Er zog seine Kriegserlebnisse verharmlosend in die Länge, verschwieg seine letzten Einsätze in Belgien und Holland und ließ sie als Fahnenflüchtiger in Königsberg enden, wo ein Verwandter von ihm Ausweis und Zeugnis für ihn aufbewahrt habe. Lassen wir es dabei bewenden. Ungereimtheiten von vorn bis hinten – Hasso war ein Meister fantastischer Erfindungen –, doch niemand interessierte es, schon gar nicht nach Abgabe einer eidesstattlichen Erklärung, auf welche Art und Weise eine Person Krieg und Kriegsende überstanden hatte. Hasso konnte seinen Immatrikulationsantrag mit der eidesstattlichen Erklärung noch dadurch untermauern, indem er nur wenige Tage nach Antragstellung der Hochschulleitung ein behördliches Dokument vorlegte, das ihn als Opfer des nationalsozialistischen Regimes auswies. Diesen Ausweis, den er möglichst ständig bei sich führen sollte, hatte er früher als erwartet in Empfang nehmen können.

Dass er die Hochschulleitung belogen hatte, kümmerte ihn nicht im Geringsten, Ausweis und Einschreibung empfand er als Genugtuung für gestohlene und lebensbedrohende Jahre. Außerdem war mit seinen Aussagen niemandem Schaden zu-gefügt worden, vielleicht, um der Wahrheit zu dienen, nur der Behörde, die der Bevölkerung die Lebensmittelkarten zuwies. Denn es war geregelt, beispielsweise nazigeschädigten Studierenden nicht nur Gebührenfreiheit zu gewähren, sondern auch zusätzliche Lebensmittelkarten auszuhändigen, wie sie Schwerstarbeitern, Kriegsversehrten oder Schwerkranken zustanden. Zudem durften diese Personen öffentliche Verkehrsmittel kostenfrei benutzen.

Es ging auf das Ende des ersten Semesters zu. Es war Sommeranfang. Es war längst begonnen worden, den Trümmerschutt aus den Ruinen zu beseitigen. Die Straßen hielt man sauber, und die noch wenigen deutschen Lastkraftwagen, die neben britischen Fahrzeugen das Verkehrsbild abgaben, fuhren mit Holzgas.

Hasso und seine drei Genossen verbrachten ihre Tage im Hörsaal, manchmal auch, vor oder nach den Vorlesungen, im demolierten Hafengebiet, wo sie sich mit Aufräumarbeiten Geld verdienten. Und sie engagierten sich weiterhin für die kommunistische Partei. Die Zeit der Kartenzuweisungen für Lebensmittel sollte sich noch sehr lange hinziehen, sodass der Bevölkerung nichts anderes übrigblieb, als sich daran zu gewöhnen, bis zum nächsten Zugteilungsbeginn das Einteilen ihrer Ansprüche zu lernen. Manchmal waren die Menschen bei ihrem Einkaufsvorhaben nicht schnell genug zur Stelle, sodass die Dinge, die sie benötigten, ausverkauft waren. Am nächsten Morgen hetzte man dann erneut Richtung Ausgabeläden. Ein zusätzliches Rennen setzte an Samstagen ein, wenn an verschiedenen Plätzen der Stadt zuteilungsfrei Salzheringe und Pferdefleisch verkauft wurden. Auch bei diesen Aktionen gingen viele Menschen leer aus, vor allem alte Leute, die die Ausgabeorte nicht so ohne Weiteres erreichen konnten, war es ihnen aber möglich, dann schreckte sie das Schlangestehen ab. Es wurde in der Stadt aber auch nach Katzen gejagt, was natürlich zur Folge hatte, dass von diesen Tieren bald keines mehr gesichtet wurde. Hamburg ohne Katzen und Hunde, dafür Heere von Ratten und Mäusen, allerdings mehr unter der Stadt.

Die blühenden Schwarzmärkte weckten natürlich auch bei Hasso und seinen drei Kommilitonen Interesse und Begehrlichkeiten. Zum Tauschen oder Verhökern hatten sie nichts anzubieten, dennoch durchstreiften sie die Trümmergrundstücke und vor allem die Plätze, wo der verbotene Handel blühte. Es belustigte sie, wenn sie verfolgen konnten, wie Polizisten einen Schwarzmarkt gewissermaßen aufrollten und Dutzende von Menschen auf die Ladeflächen von Lastkraftwagen klettern ließen, was einer Verhaftung gleichkommen sollte. Irgendwo wurde die menschliche Fracht wieder abgesetzt, weitere Maßnahmen konnten nicht veranlasst werden. In den Städten waren nicht nur riesige Wohn- und Industrieanlagen dem Bombenterror zum Opfer gefallen, es war auch manches Gefängnis getroffen worden.

Für Schnaps und Tabak versetzte mancher sein ganzes Hab und Gut. Aus diesen Beobachtungen zog Hasso den Willen, mit seinen drei Genossen nicht länger auf den Märkten nur als Zuschauende zu stehen, und es fiel ihm auch ein, wie das zu bewerkstelligen sei. Aber ob seine Idee tatsächlich realisierbar war, musste sich erst noch beweisen. Dass bestimmte Personengruppen zusätzlich Lebensmittelkarten erhielten, davon profitierte Hasso selbst, was schließlich zu seiner Idee geführt hatte. Die Zuteilung zusätzlicher Lebensmittelmarken war nur mithilfe ärztlicher Empfehlungsschreiben möglich. Berechtigt zur Ausstellung dieser Empfehlungen war auch der Professor, Chef der medizinischen Fakultät, der in diese Aufgabe zwar nicht so stark eingebunden war wie behördlich ausgewählte Ärzte. Er war zuständig für seine gesundheitlich angeschlagenen Studierenden, die minderbemittelt zusätzliche Kräfte sammeln müssen.

HASSO - Legende von Mallorca

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