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1.4 Das Gold der Heiden – Die frühe Kirche und die heidnische Wissenschaft

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Vom Ende des 2. Jahrhunderts an geriet das Weströmische Reich durch den Ansturm der „Barbaren“ in eine Krise, und unter den zunehmenden Stürmen der Völkerwanderung des 4. und 5. Jahrhunderts schließlich zu seinem Ende. Der Verfall der antiken Kultur und insbesondere des antiken Bildungs- und Schulwesens, der dem Niedergang des Reiches und seiner Städte folgte, war nicht mehr aufzuhalten. Spärliche Reste römischer Gelehrsamkeit und griechischer Wissenschaft, soweit diese durch die Römer überliefert worden war, konnten immerhin durch die Ausbreitung des Christentums bewahrt und an das Mittelalter weiter gegeben werden.

Die christliche Botschaft, die sich zunächst vorwiegend an einfache Volksschichten richtete, fand schon früh Verbreitung auch unter den Gebildeten, also unter Menschen, die in den damals verbreiteten philosophischen und wissenschaftlichen Richtungen aufgewachsen und ausgebildet waren. Unter ihnen musste es zu einer Klärung der Fragen kommen, in welchem Verhältnis antikes Denken und christliche Lehre zueinander stehen, wie die christlichen Glaubensaussagen der biblischen Texte in den Begriffen heidnischer Philosophie zu formulieren seien, welchen Sinn und welche Berechtigung antike Philosophie und Wissenschaft im Christentum haben kann und gegebenenfalls haben muss.

Das ging in der frühen Kirche freilich nicht ohne Konflikte im Spannungsverhältnis zwischen Glaube und Wissen vonstatten.

„Je mehr aber die Christen selber das Wesen ihres Glaubens dogmatisch zu klären suchten“, so der Kirchenhistoriker Angenendt, „desto stärker verstrickten sie sich in eigene Glaubenskämpfe: Polemik, ungezügelte Aggressionen, parteilicher Gruppenegoismus, Verweigerung der Gemeinschaft, Ächtung des Gegners – das alles bestimmte allzu oft das Kirchenleben“ (Angenendt, S. 61).

Neben schroffer Ablehnung finden sich Bemühungen um eine vermittelnde Position ebenso wie Bestrebungen, die antike Philosophie und Wissenschaft für die Theologie fruchtbar zu machen und sie gar zu integrieren.

Als einer der schärfsten Gegner der alten Philosophie gilt Tertullian (gest. nach 220).

„Wissbegierde ist uns nicht mehr vonnöten nach Jesus Christus, noch Forschung nach dem Evangelium“ (zit. nach Dijksterhuis, S. 102).

Für ihn war die Kluft zwischen Athen und Jerusalem, der Akademie und der Kirche, zwischen Heiden und Christen, unüberbrückbar. Sein erklärtes Ziel war es, die christliche Botschaft von jeglicher Form heidnischer Philosophie und Wissenschaft freizuhalten.

Auf Grund solcher Einwände hat man der Kirche bis in die heutige Zeit hinein vorgeworfen, sie habe in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens die antiken Errungenschaften unterdrückt und jede Form von wissenschaftlicher Forschung – wenn auch nur indirekt – unterbunden und so dem Mittelalter eine wissenschaftsfeindliche Einstellung übermittelt.

Eine vermittelnde Position nahm der christliche Denker und Märtyrer Justinus (gest. 165) ein. Auch er war mit den alten Philosophenschulen, in denen er sich bestens auskannte, unzufrieden. Seiner Meinung nach wisse der Stoiker nichts von Gott, seien die Peripatetiker zu geldgierig, die Platoniker zu kühn in ihren Behauptungen und die Pythagoreer zu theoretisch; dennoch müsse, von der Basis dieser Lehren aus – wie es schon der Apostel Paulus in seiner Rede auf dem Areopag in Athen getan habe (NT, Apg 17, 16–34) – das Christentum verkündet oder verteidigt werden (vgl. Hirschberger, S. 326f.).

Diesem Standpunkt haben sich nach und nach alle frühchristlichen Apologeten angeschlossen. Basilius (gest. 379), griechischer Kirchenlehrer und Kenner der alten Philosophie und Wissenschaft, empfahl, die Natur als Kunstwerk des Schöpfers aufmerksam zu studieren. In diesem Sinne hat er eine Schrift verfasst mit dem Titel „An die Jünglinge, wie sie aus der heidnischen Philosophie Nutzen ziehen sollen“.

Besonders förderlich für die Rezeption der alten Philosophie war das geistige Klima in Alexandria. Der hellenistische kosmopolitische Geist dieser Stadt wirkte auch in der hier ansässigen Katechetenschule. Zwei ihrer bedeutendsten Vertreter waren Clemens von Alexandria (gest. 215) und Origines (gest. 254). Von letzterem stammt der vielzitierte Vergleich: Wie die Kinder Israels bei ihrem Auszug aus Ägypten die goldenen und silbernen Geräte des Landes mit sich führten, so solle auch der Glaube die weltliche Wissenschaft und Philosophie in seinen Besitz nehmen.

Für Clemens kam der Philosophie und den Wissenschaften sogar eine heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Die Philosophen seien wie die Propheten gottgewollt und führten auf Christus hin. Die Frage, ob die Wissenschaft mit dem Christentum nicht doch überflüssig geworden sei, beantwortete er mit dem Hinweis auf ihre zum Christentum führende Funktion, und zwar sowohl denjenigen gegenüber, die durch Vernunftbeweise zum Glauben kommen, als auch für die, die schon Christen seien; denn erst durch die Philosophie werde der Christ instand gesetzt, seinen Glauben zu verantworten; nur wenn zur Weisheit des Glaubens die vernunftgemäße Einsicht und eine gründliche wissenschaftliche Bildung hinzukämen, sei der Christ gerüstet, gegen die Sophisten seinen Glauben zu verteidigen.

Für diese frühen christlichen Philosophen wurde die Wissenschaft zu einem Faktor, der mit dem Glauben zusammenarbeitet. Der Glaube wird zu einem Licht, das die Vernunft zu weiterer Einsicht führt: Credo ut intelligam, wie man später sagen wird, der Glaube als Voraussetzung und Motivation zu tieferer vernunftgemäßer Erkenntnis.

Der wichtigste Kirchenlehrer – gerade auch unter der hier interessierenden Frage der Rezeption der antiken Wissenschaft durch das frühe Christentum – war zweifellos Augustinus (354–430). Er war römischer Rhetoriklehrer, trat, nachdem er sich verschiedenen philosophischen Richtungen zugewandt hatte, zum Christentum über und wurde Bischof von Hippo Regius (heute Annaba an der Küste Algeriens zwischen Algier und Tunis). In seiner Ausbildung zum Rhetoriklehrer lernte er den Kanon der freien Künste kennen – jedenfalls auf dem Niveau, wie man ihn in den Rhetorikschulen des Westens vorfand. Demzufolge mussten, wie wir gesehen haben, seine Kenntnisse der antiken Philosophie und Wissenschaften, insbesondere der Mathematik, gering gewesen sein; um so größer war seine Wertschätzung dieser Disziplinen (deren Bedeutung er in späteren Lebensjahren allerdings relativierte). Sein Wissenschaftsverständnis und die grundlegende Rolle, die darin die freien Künste spielen, legte Augustinus u.a. in seiner Frühschrift „Über die Ordnung“ dar, die er kurz vor seiner Taufe 387 durch den Bischof Ambrosius von Mailand verfasst hat.

Gegen Einwände verteidigte er den heidnischen Bildungskanon der freien Künste. Er nahm den o. g. Ausspruch von Origines über das „Gold der Heiden“ auf und wies darauf hin, dass sich in den heidnischen Wissenschaften nicht nur unnützer Ballast, sondern auch die zum Dienst an der Wahrheit geeigneten freien Künste finden. Deshalb solle man sie zum eigenen Nutzen in Anspruch nehmen, damit sie die Glaubenssätze erhellen und durch den gestärkten Glauben die Vernunft ihrerseits zu tieferer Erkenntnis vordringen könne.

Augustinus mahnte sogar, christliche Fachleute mögen den antiken Bildungsstoff in diesem Sinne bearbeiten. Er selbst begann noch vor seiner Taufe, ein Lehrbuch über die sieben freien Künste zu schreiben, ist aber über die Musik nicht hinausgekommen, und auch hiervon konnte er nur einen ersten Teil über Rhythmustheorie vollenden; zur Ausführung eines angekündigten zweiten Teils über Harmonielehre ist es nicht mehr gekommen.

In seinem Werk „Über die christliche Lehre“, das er in Etappen zwischen 392 und 426 verfasste, legte Augustinus sein, antike Wissenschaft und christliche Lehre verbindendes Bildungsideal dar. Inhaltlich findet man hier wenig über die freien Künste, es handelt sich mehr um ein Curriculum, einen Lehrplan für die Ausbildung der Kleriker in den Bischofsschulen; die freien Künste werden in erster Linie als Propädeutikum zum Studium der Bibel betrachtet.

Als Bischof von Hippo gründete Augustinus selbst eine Schule, an der er seine Bildungsideen in die Tat umsetzte. Aus dieser Schule ging eine beträchtliche Anzahl von Geistlichen hervor, darunter mindestens zehn Bischöfe. So erfolgten weitere Gründungen im Sinne Augustinus’, die sich zu Vorbildern der mittelalterlichen Domschulen entwickelten und das antike Erbe der freien Künste als formal-propädeutische Bildung der Kleriker tradierten.

Die vermittelnde Funktion Augustinus’ zwischen antikem Bildungsgut und christlicher Lehre war vor allem deshalb so wichtig, weil durch seine Autorität, die für das ganze christlichen Mittelalter gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, den mathematischen Fächern des Quadriviums zu einer gewissen kirchlich-gesellschaftlichen Akzeptanz verholfen wurde.

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