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1. Das antike Erbe 1.1 Der Anfang aller Dinge – Der pythagoreische Zahlbegriff

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Der überwiegende Teil mathematischer Kenntnisse der Römer und des lateinischen Frühmittelalters beruhen auf pythagoreischem Gedankengut. Allerdings konnte dieses Erbe nicht in seiner ursprünglichen Form übernommen werden, da es im Laufe der Überlieferung vielfachen Anpassungen und Verformungen unterworfen war. Dies ist aufs Engste mit den gesellschaftlichen Wandlungen verknüpft, die sich aus der gewaltigen Ausdehnung des griechischen Einflussbereiches auf Grund der Eroberungen Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.) ergeben haben. In diesem Prozess änderte sich das geistige Klima Griechenlands grundlegend. Die neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflussten in hohem Maße die griechische Kultur insgesamt und damit auch die Einstellung zur mathematischen und naturwissenschaftlichen Forschung. Unter dem Einfluss orientalischer Sitten und Kultur wurde sein spezifisch griechischer Charakter verwischt. Die Frage nach der praktischen Lebensführung trat in den Vordergrund des philosophischen Denkens und drängte das theoretische Interesse in den Hintergrund.

Wissenschaftliches Zentrum wurde Alexandria. An dem dort um 300 v. Chr. gegründeten Museion etablierte sich ein professionalisierter Wissenschaftsbetrieb; hier studierten oder arbeiteten – zumindest zeitweilig – alle bedeutenden Wissenschaftlicher der folgenden Jahrhunderte. Die Arbeit passte sich der gesellschaftlichen Situation an. In einer großen Bibliothek wurde das Vermächtnis der klassischen Antike gesammelt und verwaltet, die großen Werke vergangener Jahrhunderte wurden aus Quellen unterschiedlichster Herkunft und Verlässlichkeit zusammengefasst, aufbereitet und leicht fasslich dargestellt. Dies entsprach den Erfordernissen der gebildeten Kreise, die sich in den Lehren der alten philosophischen und wissenschaftlichen Schulen orientieren wollten, um ihren Platz in einer zunehmend kosmopolitischen Gesellschaft zu finden; zu einem tiefer gehenden Studium um der Sache selbst willen konnten sie sich aber nicht bequemen.

Theon von Smyrna, ein Neuplatoniker des frühen 2. Jahrhunderts n. Chr., verfasste eine Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Mathematik, die zum Verständnis von Platon nützlich ist“. Theon verspricht seinen Lesern, dass derjenige, der die mathematischen Wissenschaften studiert, mit einem guten Schicksal und einem Überfluss an Weisheit und Glückseligkeit rechnen könne; denjenigen, die sich wundern, dass ihnen unpraktische Studien zugemutet werden, antwortet er, dass dadurch die Augen und die Seele gereinigt und ihnen ein tausendfaches Feuer verliehen werde, das die Schatten der anderen (praktischen) Wissenschaften vertreibe.

Theons Werk ist nur eines aus einer Reihe von Handbüchern über die pythagoreischen Wissenschaften, die, wie wir noch sehen werden, das Mathematikverständnis nicht nur der Spätantike, sondern des gesamten Mittelalters maßgeblich geprägt haben. Da deren Autoren aber durch mehr als ein halbes Jahrtausend von den Ursprüngen pythagoreischer Wissenschaft getrennt waren, war ihr Bild höchst unvollständig. Die Entwicklungen der Mathematik zu einer deduktiven Wissenschaft, die sich im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. in Teilen der pythagoreischen Gemeinschaft vollzogen hatte oder jedenfalls von dieser stark beeinflusst worden war, fand offensichtlich nicht ihr Interesse.

Mathematikhistorisch der einflussreichste unter den neupythagoreischen Schriftstellern ist Nikomachos von Gerasa (um 100 n. Chr.). Seine „Einführung in die Arithmetik“ wurde schon zwei Generationen später von Apuleius von Madaura aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen, die Übersetzung scheint aber schon früh verloren gegangen zu sein; dem Mittelalter wurde das Werk durch eine Übertragung des Anicius Manlius Severinus Boethius (um 500 n. Chr.) überliefert. Mit dem mathematischen Werk dieses in griechischer Philosophie hochgebildeten Römers aus senatorischem Adel werden wir uns in späteren Kapiteln ausführlich befassen.

Weiten Raum nimmt in der „Arithmetik“ des Nikomachos die neupythagoreische Philosophie ein, soweit diese mit der Mathematik in Verbindung steht. Ausgangspunkt dieser Philosophie ist die Doktrin: Alles ist Zahl. Die Zahl ist die Substanz und der Stoff, aus denen die Dinge bestehen und die das harmonische Zusammenspiel aller irdischen und kosmischen Erscheinungen gewährleisten. Die Zahl ist der Urstoff der Welt und des Lebens. Durch die Zahlen und ihre Verhältnisse lebt das Universum, und durch sie wird es in harmonischem Gleichklang gehalten. Erfahrbar und verständlich wird dies alles durch Versenkung in die Geheimnisse der Zahlen.

„Denn sie ist groß, allvollendend und allwirkend und Urgrund und Führer des göttlichen und himmlischen Lebens wie auch des menschlichen. […] Ohne diese ist alles grenzenlos und undeutlich und dunkel; denn die Natur der Zahl ist Erkenntnis spendend und führend und lehrend für jeden bei jedem Dinge, das ihm rätselhaft und unbekannt ist. […] Täuschung dringt unter keinen Umständen in die Zahl ein; denn Täuschung ist ihrer Natur feindlich und verhasst; die Wahrheit aber ist dem Geschlecht der Zahl eigen und angeboren“,

so schwärmt Philolaos, Pythagoreer des 5. Jahrhunderts v. Chr. (zit. nach Capelle, S. 477f.). Im Mittelalter wird man kurz und bündig sagen, dass alle Dinge ihre Existenz verlieren, wenn man von ihnen die Zahl wegnimmt (vgl. 2.2).

Aus solcher Einsicht in die „Kraft der Zahl“ haben die Anhänger der reinen Lehre des Pythagoras Vorstellungen entwickelt, die wir als „Zahlensymbolik“ oder treffender noch als „Zahlenmystik“ zu bezeichnen pflegen. Ausgangspunkt der Spekulationen ist die Quelle und der Ursprung der Zahl: die Einheit. Die Einheit, die selbst aber keine Zahl ist, repräsentiert die Vernunft, denn sie ist, ebenso wie diese, unveränderlich. Die Zweiheit ist die Meinung, da sie veränderlich und unbestimmt ist. Die Gerechtigkeit besteht in dem Gleich-mal-Gleichen oder der Quadratzahl, da sie Gleiches mit Gleichem vergilt. Daher ist entweder die Vier als erste Quadratzahl oder die Neun als erste ungerade Quadratzahl die Gerechtigkeit. Erklärt man die geraden Zahlen als weiblich, die ungeraden als männlich (eine Auffassung, die schon im Altertum verbreitet war), so findet man folgerichtig die Ehe unter die Macht der Zahl Fünf gestellt: Fünf ist ja Summe aus Zwei und Drei, der ersten weiblichen und der ersten männlichen Zahl.

Dies ist nur der Anfang eines komplizierten Regelwerks, das sehr wahrscheinlich aus altorientalischem Gedankengut von den Pythagoreern übernommen und weiter ausgebaut wurde. Solche Vorstellungen sind aber keineswegs auf die Pythagoreer beschränkt, man findet sie mit jeweils charakteristischen Ausprägungen in fast allen alten Kulturkreisen, und auch unserer heutigen Gesellschaft sind sie nicht fremd. Als Zahlenallegorese fand dieses Phänomen durch die Verfasser der biblischen Texte und ihrer Interpreten Eingang in das Christentum und damit in das Mittelalter (vgl. 1.5).

So schwer es uns heute auch fällt, diese Gedanken nachzuvollziehen, darf doch nicht übersehen werden, dass diese Begeisterung für „die Zahl an sich“ und ihre Verwirklichung am Anfang der Mathematikgeschichte und der abendländischen Geistesgeschichte steht. Pythagoras und seine Schüler jedenfalls hat es veranlasst – und dies ist für die weitere Entwicklung von allergrößter Bedeutung – sich dem Studium der Gesetze der Zahlen zu widmen. Diese Untersuchungen stellen den Beginn abendländischer Arithmetik dar. Freilich waren sie anfangs von sehr schlichter Art.

Das älteste Stück pythagoreischer Arithmetik ist wohl die „Lehre vom Geraden und Ungeraden“, die außer durch die spätantiken Handbücher auch durch die „Elemente“ Euklids (Buch IX, §§ 21–34) überliefert ist. Beispiel eines solchen altpythagoreischen Satzes: Setzt man beliebig viele gerade Zahlen zusammen, so entsteht eine gerade Zahl. Beweis (nach Euklid): Beliebig viele gerade Zahlen seien zusammengesetzt. Jede der Zahlen hat, da sie gerade ist, einen Teil, der die Hälfte ist. Folglich hat auch die Summe einen Teil, der die Hälfte ist.

Aussagen dieser Art kann man sozusagen experimentell, etwa durch das Hinlegen von Steinchen, begründen. Solche Psephoi- oder „Steinchen“-Arithmetik kann wohl als Weiterentwicklung einer sehr alten, durch Quellen belegten Praxis des Zählens und Rechnens mit Hilfe von Strichlisten, Kerben, und eben auch mit Steinchen angesehen werden. Zu einer von geometrischen Vorstellungen geprägten zahlentheoretischen Methode wurde sie von den frühen Pythagoreern ausgebaut. Mit ihrer Hilfe wurden beachtliche Einsichten in Gesetzmäßigkeiten der Zahlenreihe gefunden. Als „Lehre von den figurierten Zahlen“ wurde sie durch die Neupythagoreer an das Abendland weitergegeben. Meistens läuft es dabei, in heutiger Terminologie, auf die Summation arithmetischer Reihen hinaus. Ordnet man beispielsweise Steinchen in Dreiecksform an, etwa so, wie in der Abb. I, so erkennt man, dass die zweite Dreieckszahl aus der ersten – der Einheit – durch Hinzunahme von zwei, die dritte durch Hinzunahme von drei usw., die n-te durch Hinzunahme von n Einheiten (Steinchen) entsteht. Die n-te „Dreieckszahl“ besteht demnach gemäß ihrer sukzessiven Konstruktion aus 1 + 2 + 3 + … + n Einheiten.

Andererseits enthält die n-te Dreieckszahl (die „Katheten“ enthalten je n Einheiten) 1/2 n (n + 1) Einheiten, was man sich am einfachsten dadurch klar machen kann, dass man zwei „Exemplare“ der n-ten Dreieckszahl mit den Hypotenusen so aneinanderlegt, dass ein Rechteck entsteht, dessen Seiten aus n bzw. n + 1 Einheiten bestehen. Beide Resultate zusammen ergeben die Summenformel


Abb. I: Dreieckszahlen


Abb. II: Quadratzahlen


Die für Dreieckszahlen vorgeführte Argumentation ist auch für die weiteren Polygonalzahlen typisch. Für die Quadratzahlen ergibt ein ähnlicher Schluss die Summenformel


Selbstverständlich wurden solche Überlegungen bei den Pythagoreern nicht in dieser Allgemeinheit angestellt (mit Buchstaben zu rechnen wie mit Zahlen ist ja eine Erfindung der Neuzeit), sondern beispielhaft mit verschiedenen Zahlen (für n). Die Psephoiarithmetik erweist sich so als ein Hilfsmittel zum Auffinden und Begründen von zahlentheoretischen Gesetzen, das – und darauf kommt es hier an – den Blick freigibt für allgemeine Gesetzmäßigkeiten. So gesehen sollte man diese Methode nicht als naiv oder unwissenschaftlich abtun.

Ausgehend von den bisher betrachteten „ebenen Zahlen“ wurden „körperliche Zahlen“ studiert, indem man aufeinander folgende m-Eckszahlen übereinander legte. Beispielsweise erhält man aus den ersten n Dreieckszahlen eine Pyramide, und durch Abzählen kann man, ähnlich wie oben, weitere Summenformel ableiten.

Obgleich die Zahlen in der Psephoiarithmetik durch Gegenstände repräsentiert werden, war es für die Pythagoreer doch selbstverständlich, dass den Zahlen ein von den gezählten Gegenständen unabhängiges Sein zukommt. Andererseits könnte der Umgang mit figurierten Zahlen die Auffassung der Pythagoreer bewirkt (oder zumindest bestärkt) haben, Zahl sei eine Menge oder Vielheit von Einheiten. Er könnte auch erklären, warum die Einheit selbst nicht als Zahl angesehen wird, sondern lediglich als deren Erzeuger: Die Einheit ist zwar der Ursprung der Dreieckszahlen, selbst aber keine Dreieckszahl. Entsprechendes gilt für die anderen figurierten Zahlen. Hierin kommt das pythagoreische Zahlverständnis der Auffassung des Aristoteles nahe. Für diesen steht das Operieren mit Zahlen im Vordergrund und Zahlen entstehen durch fortgesetzte Addition der Einheit. Auch hier ergibt sich, dass die Einheit selbst keine Zahl ist, aber die Zahlen erzeugt (vgl. Martin, §§ 1, 3).

Die Auffassung der Zahl als Menge von Einheiten, die die „Eins“ als Zahl ausschließt, ist (und bleibt) die unumstößliche Meinung des Mittelalters.

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