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1.6 Das symbolische Universum – Die Zahl als Metapher

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Der Mensch des Mittelalters lebte, wie Jacques Le Goff gesagt hat, „in einem Wald von Symbolen“, in einem Universum, das voll war von Bedeutungen, Hinweisen und Doppelsinnigkeiten. Vor allem steht er „im Banne der Zahl.“ Nicht als Objekt der Mathematik, sondern als fundamentale Realität sind Zahl und Proportion im Bewusstsein des mittelalterlichen Menschen tief verwurzelt. Von den frühen Pythagoreern über die Neupythagoreer wird die Auffassung von der göttlichen Natur der Zahl an das frühe Mittelalter weitergegeben. In numerischen Beziehungen, sei es in der Natur, in Kunstwerken oder in schriftlichen Zeugnissen, die sich dem Zugriff durch reine Verstandestätigkeit entziehen, findet der Betrachter eine übernatürliche Wirklichkeit, die zu entschlüsseln er sich mit Leidenschaft hingibt. „Der mittelalterliche Mensch ist ein ewiger Entzifferer.“ Aus der Überzeugung, dass Gott alles „nach Maß, Zahl und Gewicht“ geordnet hat und in Ermangelung anderer Möglichkeiten, wird das Unsichtbare, das Abstrakte, mit Hilfe des Symbols in den Bereich des Konkreten gerückt, wo es verstanden werden kann. Ein Symbol ist das Zusammentragen sichtbarer Formen, um das Unsichtbare zu zeigen.

Eine besondere Herausforderung für den solchermaßen von Jacques Le Goff und Umberto Eco charakterisierten mittelalterlichen Menschen (Le Goff 1996, S. 40; Eco, S. 104) ist naturgemäß das häufige Auftreten von Zahlen in der Bibel, dem Fundament seines Lebens- und Wertegefüges. Für den mittelalterlichen Exegeten ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass zum tieferen Verständnis der Texte fundierte Kenntnisse über die Gesetze der Zahlen unumgänglich sind. Mehr noch: Erst durch ihre Verankerung in der Schrift erhalten die Gesetze der Zahlen ihren eigentlichen Sinn.

Die Richtung hat auch hier Augustinus, die Autorität in hermeneutischen Fragen für das Mittelalter, angegeben.

„Auch die Unkenntnis der Zahlen ist schuld, dass gar manche übertragene und geheimnisvolle Ausdrücke in der Heiligen Schrift nicht verstanden werden. So muss sich zum Beispiel schon der uns gewissermaßen angeborene Verstand doch unbedingt die Frage stellen, was es denn zu bedeuten habe, dass Moses und der Herr selbst gerade vierzig Tage lang gefastet haben. Der durch diese Tatsache geschürzte Knoten wird nur durch die Kenntnis und die Betrachtung dieser Zahl gelöst. In der Zahl Vierzig ist nämlich viermal die Zahl Zehn enthalten und damit gewissermaßen die Kenntnis aller Dinge nach dem Verhältnis der Zeiten. Denn in der Vierzahl vollendet sich der Lauf des Tages […] Die Zehnzahl bedeutet sodann die Kenntnis des Schöpfers und des Geschöpfes: denn die [in der Zehnzahl] enthaltene Dreizahl kommt dem Schöpfer zu, die Siebenzahl aber weist wegen des Lebens [durch die Drei] und wegen des Leibes [durch die Vier, 3 + 4 = 7] auf das Geschöpf hin“ (Augustinus 1925, II. 16.25, S. 72).

Die Praxis der allegorischen Bibelauslegung hatte zu Lebzeiten Augustinus’ schon eine lange Tradition. Auch alttestamentliche Exegeten haben diese Praxis gepflegt. Zu den einflussreichsten gehört der griechisch sprechende jüdische Exeget Philon von Alexandria (gest. 40 n. Chr.). Für den christlichen Bereich hat Augustinus die zentralen Fragen zu Wesen und Funktion der Zahlenallegorese gestellt. Ohne Allgemeinverbindlichkeit zu beanspruchen, hat er die Methoden und Ergebnisse formuliert, welche die Vorstellungen von der allegorischen Bedeutung der Zahlen entscheidend bestimmt haben. Er war nicht der erste, aber er hat allen nachfolgenden den Weg gewiesen.

Bei oberflächlicher Betrachtung kann man, wie etwa das obige Zitat nahelegt, den Eindruck gewinnen, die Entschlüsselung der Zahlenbedeutungen sei willkürlich. Dem treten die Interpreten naturgemäß entgegen, dennoch bleibt für die Auslegung ein großer Spielraum, in dem sich die Fantasie des Exegeten entfalten kann. So kann beispielsweise jede Zahl Zeichen dessen sein, was so viel Teile hat wie die Zahl Einheiten; Vier kann danach in einem Zusammenhang die vier Evangelien, in einem anderen aber die vier Weltteile bedeuten oder als Zahl des Jahres gelten, wenn das Jahr als Gesamtheit der vier Jahreszeiten gesehen wird. Hier steht also die Analogie von Zahl und Gezählten im Vordergrund. Größeren Zahlen, für die zunächst keine Bedeutungen angegeben werden können, werden durch Kombination der Bedeutungen ihrer Summanden oder Faktoren Bedeutungen zugewiesen. Die Bedeutungen der Zehn als Zahl der Gebote und der Vier als Zahl der Evangelien kann für die Vierzehn das Verhältnis von Altem und Neuem Testament ergeben. Auch durch Bildung der Teilersumme einer Zahl oder durch Summation von Zahlen können Erklärungsmuster auf größere Zahlen ausgedehnt werden. Durch Addition der Zahlen von 1 bis 4 etwa wird 4 auf 10 bezogen. Aus der Bedeutung einer Zahl kann auf eine Bedeutung ihres Nachfolgers geschlossen werden: 7 signalisiert die Ruhe nach dem Schöpfungswerk, 2 die Abweichung von dem in der Einheit begründeten Guten.

Durch Zerlegungen werden „Verwandtschaften“ von Zahlen aufgedeckt, deren Bedeutungen übertragen werden. So ist beispielsweise 12 „verwandt“ mit 7, weil 12 das Produkt, 7 die Summe aus 3 und 4 ist. Hieraus kann abgeleitet werden, dass die zwölf Apostel von den sieben Gaben des Heiligen Geistes erfüllt sind.

Arithmetische Begriffsbildungen, wie sie sich in den Handbüchern von Martianus Capella, Boethius, Cassiodor und anderen finden (vgl. 1.7, 2.1, 2.2), werden bei den Deutungsmethoden vorausgesetzt und mit unterschiedlicher Häufigkeit angewandt: gerade, ungerade, prime, zusammengesetzte, (über- und unter-) vollkommene Zahlen, figurierte Zahlen, insbesondere Dreiecks-, Quadrat- und Kubikzahlen. Bekanntes Beispiel: Gott hat sein Schöpfungswerk unter das Gesetz einer vollkommenen Zahl – der Sechs – gestellt; oder schärfer: Gott hat seine Schöpfung deshalb in sechs Tagen vollendet, weil 6 eine vollkommene Zahl ist. Weiteres Beispiel: Die Dreieckszahl 153 =1/2·17·18 wird auf die 17, diese auf 10 und 7 reduziert. Zahlenverhältnisse kommen in der Bibelauslegung nur sehr selten vor.

Es bleibt festzustellen, dass selbst da, wo als Voraussetzung für eine fundierte Zahlenexegese auf die Notwendigkeit gründlicher Kenntnisse der Mathematik (oder der Natur) hingewiesen wird, solche Kenntnisse nur in sehr geringem Umfang eingesetzt werden. Bedeutsamer für die Praxis der symbolhaften Zahlenauslegung ist die Überlieferung antiker und frühchristlicher Deutungsmodelle.

Zu unterscheiden von der symbolhaften Ausdeutung gegebener numerischer Beziehungen sind die Bestrebungen, solche auch dort herauszufinden, wo sie nicht explizit auftreten. Beispiele finden sich in der Natur ebenso wie in der bildenden Kunst, in Architektur und Literatur (vgl. Kap. 4). Auch heute wird in kontroversen Debatten der Frage nachgegangen, welche versteckten Maßbeziehungen etwa in den Bauplänen gotischer Kathedralen verborgen sind, oder welche Zahlenkompositionen dichterischen Werken zugrunde liegen. Dass sich solche Beziehungen nachträglich fast nach Belieben konstruieren lassen, leuchtet ein. Heute herauszufinden, was die Künstler vor Zeiten tatsächlich intendiert haben, scheitert in den allermeisten Fällen wegen fehlender Quellen.

Die Mathematik im Mittelalter

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