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1.7 Mathematik und Mythos – Die sieben Dienerinnen der Philologia

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Seit Varros De disciplinis libri IX vergingen etwa 500 Jahre, bis wieder ein römisches Handbuch der freien Künste erschien. Der Titel dieses Werkes „Die Hochzeit der Philologie mit Merkur“ (De nuptiis Philologiae et Mercurii) lässt allerdings kaum vermuten, dass es sich um ein wissenschaftliches Werk handelt. Über den Autor Martianus Capella ist fast nichts bekannt, außer dass er (wahrscheinlich) um 400 n. Chr. gelebt hat, aus Karthago stammt und dort als Rhetor tätig war.

Im gesamten Frühmittelalter war dies das einzige Werk – Varros Handbuch war schon früh verschollen –, das alle sieben freien Künste behandelte. Etwa 230 noch existierende Handschriften, die alle vom 9. Jahrhundert an bis in die Neuzeit hinein angefertigt wurden, zeugen von seiner weiten Verbreitung. Manche Exemplare sind mit Anmerkungen versehen, die auf eine Verwendung für Unterrichtszwecke hinweisen. So wurde Martianus Capella nach den karolingischen Reformen, als an einigen der bedeutendsten Schulen nicht mehr nur Begriffe, sondern zunehmend auch Inhalte gelehrt wurden, zum Begründer und zur anerkannten Schlüsselfigur mittelalterlicher Erziehung in den sieben freien Wissenschaften. Zunächst aber resultiert die Beliebtheit dieses Handbuchs wohl weniger aus den wissenschaftlichen Inhalten, als vielmehr aus der mythischen Rahmenhandlung, in die die Darstellung der einzelnen Disziplinen der freien Künste eingebettet ist.

Merkur, der Gott der Beredsamkeit, wählt das irdische Mädchen Philologia, nachdem es von Jupiter und den übrigen Göttern in den Stand einer unsterblichen Göttin erhoben worden ist, zur Frau (das griechische Wort philologia entspricht hier dem lateinischen disciplina). Als Hochzeitsgeschenk erhält Philologia, die wegen ihres Strebens nach höchster Weisheit durch wissenschaftliche Erkenntnis unter den Göttern geschätzt ist, von Merkur sieben Dienerinnen aus seinem Gefolge – die personifizierten freien Künste. Nacheinander treten die Damen vor die Festversammlung und erklären die Wissenschaften, die sie vertreten.

Diese Allegorie ist der Beginn einer tausendjährigen Praxis mittelalterlicher Ikonographie, die freien Künste in Frauengestalt darzustellen (s. Abb. III). Emile Male bemerkt dazu:

„Die von der afrikanischen Fantasie des Martianus Capella geschaffenen wunderlichen Gestalten prägten sich dem Gedächtnis des Mittelalters viel schärfer ein als selbst die reinsten Schöpfungen der damaligen Meister. […] Der obskure Rhetor aus Afrika hat also etwas geleistet, was selbst genialen Männern nicht oft gelungen ist: er hat Typen geschaffen“ (Male, S. 88).

Auch die Siebenzahl der freien Künste wurde durch Martianus zur Regel. Während bei Varro noch Medizin und Architektur zum Kanon der freien Künste gehörten, sollen diese im Senat der Götter schweigen, da sie es nur mit der Sorge um Angelegenheiten der Sterblichen und um irdische Objekte zu tun haben (vgl. Zekl, S. 298). Von den mathematischen Fächern des Quadriviums wird zuerst die Geometrie präsentiert – im Unterschied zu allen späteren Einteilungen, in denen die Arithmetik stets die erste der mathematischen Wissenschaften ist. Für Martianus ist Geometrie noch das, was der Name sagt, nämlich die Kunst der Erdvermessung und Erdbeschreibung, also Geographie, und nicht, wie es z.B. Cassiodor in Übereinstimmung mit den antiken Autoren formuliert, „die Wissenschaft von den unbeweglichen Größen und den Figuren, die wir mit dem Verstand von der Materie und sonstigen zufälligen Momenten ablösen und so im reinen Denken untersuchen“ (vgl. 2.2).

Nach den Belehrungen der Festversammlung durch die gescheiten Damen Grammatica, Rhetorica und Dialectica beginnt Geometria ihren Auftritt, indem sie sich zunächst dafür entschuldigt, dass sie den edelsteinbedeckten Fußboden des Senatssaals der Götter mit schmutzigen Füßen betritt. Ihre Begründung ist ebenso einfach wie überzeugend: Sie komme gerade von einer ihrer zahlreichen Durchquerungen und Vermessungen der Erde, was notwendig zu staubigen Schuhen führe. Dafür könne sie aber Auskunft geben über alle irdischen Regionen, über Rechnungen und Beweise für die Gestalt der Erde, ihre Größe, Position und Ausdehnung; es gebe keinen Teil der Erde, den sie nicht aus dem Gedächtnis beschreiben könne. Davon gibt sie sogleich eine ausgedehnte Kostprobe, da die Festversammlung ihrer Meinung nach für diese Dinge mehr Interesse aufbringe, als für die abstrakten Sätze ihrer Wissenschaft (womit sie, wie sich an anderer Stelle herausstellt, die Festgäste richtig eingeschätzt hat). Die Rede beginnt mit einer Verteidigung der Kugelgestalt der Erde. Der Wert des Eratosthenes für den Erdumfang wird erwähnt und ein (fehlerhafter) Bericht über dessen Methode gegeben. Es folgen Argumente für die Zentralstellung der Erde im Universum. Weiter werden die fünf Klimazonen und die Einteilung der bewohnbaren Welt in drei Kontinente (Europa, Asien und Afrika) behandelt, wobei es sich mehr oder weniger um die verkürzte Version einer ähnlichen Darstellung in der Historia naturalis von Plinius dem Älteren handelt (vgl. 1.3).


Abb. III: Die allegorischen Gestalten der sieben freien Künste im Defilee um die Philosophie (auch Philologie oder Sapientia genannt). Zu ihren Füßen Sokrates und Platon, auf deren Lehren die christliche Philosophie aufbaut. Dagegen müssen die heidnischen „Dichter oder Magier“, von unreinen Geistern (den schwarzen Vögeln) inspiriert, außerhalb des Kreises bleiben. Aus dem Hortus deliciarum der Äbtissin Herrad von Landsberg (um 1180, vgl. 3.6; Caratzas, S. 32; Backes, S. 216).

Diese Ausführungen haben etwa den vierfachen Umfang dessen, was Geometria über die „abstrakten Sätze der Geometrie“ zu sagen weiß oder, genauer gesagt, was die Götterversammlung darüber hören will. Martianus lässt Geometria damit beginnen, dass sie Figuren auf der staubbedeckten Oberfläche ihres Abakus zeichnet – ein Hinweis darauf, warum im Mittelalter der Abakus durchweg im Rahmen der Geometrie behandelt wird. Es werden eine Reihe von Aussagen aus den „Elementen“ Euklids einschließlich der meisten Definitionen, aller Postulate und dreier der fünf Axiome beschrieben, Flächen und Körper einschließlich der fünf platonischen regelmäßigen Polyeder vorgestellt, rechte, spitze und stumpfe Winkel definiert und einige Bemerkungen über Proportionalität und Inkommensurabilität gemacht. Insgesamt gesehen ist der Abschnitt über die Geometrie der schwächste von allen.

Als Nächstes tritt Arithmetica vor. Sie beginnt mit einem Ausflug in die Zahlenmystik. Sie erklärt, welche natürlichen und übernatürlichen Eigenschaften den Zahlen von eins bis zehn zukommen, nennt die Gottheiten, mit denen sie verbunden sind und in welchen Zusammenhängen sie stehen. Zum Beispiel die besonders bedeutungsschwere Sieben:

„Im Gegensatz zu allen anderen Zahlen [von zwei bis zehn] ist die Sieben von keiner Zahl erzeugt [als Primzahl hat sie keine echten Faktoren] und zeugt selbst keine Zahl [kleiner oder gleich 10]. Sie ist deshalb Minerva geweiht, da auch sie nicht gezeugt wurde und für immer jungfräulich blieb. Folglich ist auch die Sieben eine jungfräuliche Zahl. […] Auch die Natur des Menschen ist von der Zahl Sieben durchdrungen: Das Kind ist nach sieben Monaten im Mutterleib voll entwickelt, der Kopf hat sieben Öffnungen für die Sinne, nämlich zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenöffnungen und einen Mund. Die Zähne erscheinen beim Kind nach sieben Monaten, die zweiten Zähne kommen im siebten Jahr. Nach zweimal sieben Jahren tritt die Pubertät und die Zeugungsfähigkeit ein, nach dreimal sieben Jahren wächst der Bart; viermal sieben Jahre markiert das Ende des Wachstums und fünfmal sieben die volle Blüte des Mannes. Die Natur hat den Menschen mit sieben lebensnotwendigen Organen versehen: Zunge, Herz, Lunge, Milz, Leber und zwei Nieren. Sieben ist überhaupt die Anzahl der Körperteile: Kopf, Brust, Bauch, zwei Hände, zwei Füße“ (Stahl 1977, S. 281).

Es wundert nun nicht mehr, dass der Grund für eine glückliche Ehe weniger in der gegenseitigen Liebe als in der glücklichen Verbindung der Zahlen 3 und 4 der Brautleute zur Zahl 7 gesehen wird.

Den ganz überwiegenden Teil der Arithmetik nimmt dennoch die eigentliche Zahlentheorie im Sinne Euklids ein. Während die Zahlenmystik in zwölf Abschnitten behandelt wird, nimmt die Zahlentheorie 59 Abschnitte ein.

Die ersten 35 davon widmen sich den üblichen Definitionen der verschiedenen Klassen von Zahlen und Zahlenverhältnissen. Trotz deren fundamentaler Bedeutung für die pythagoreische Harmonielehre und Kosmologie werden sie hier nur ganz oberflächlich behandelt; in der Musik – bei Martianus die letzte Disziplin – wird dann auch so gut wie gar kein Gebrauch davon gemacht. Wir verschieben die Besprechung auf den folgenden Abschnitt, da Boethius diesen Problemkreis gründlicher behandelt.

Die restlichen 24 Abschnitte bilden – vom mathematischen Standpunkt aus betrachtet – den wichtigsten Teil dessen, was die Dame Arithmetica zu berichten weiß. Von den 103 Sätzen aus den arithmetischen Büchern VII bis IX der „Elemente“ Euklids, die heute allgemein als pythagoreisches Gedankengut angesehen werden, kann sie 27 anführen: 17 der 38 Sätze aus Buch VII (2, 3, 15, 20, 22–24, 26–29, 31, 34, 36–38), fünf der 27 Sätze aus Buch VIII (7, 14–17) und fünf der 36 Sätze aus Buch IX (11–15). Es handelt sich dabei stets um Teilbarkeitsaussagen, um relativ prime, d.h. teilerfremde Zahlen, um Primteiler in geometrischen Folgen, Quadrat- und Kubikzahlen, um die Bestimmung des größten gemeinsamen Teilers (durch den heute sogenannten Euklidischen Algorithmus) und des kleinsten gemeinsamen Vielfachen. Alles wird rein verbal wiedergegeben und an einfachen Zahlenbeispielen erläutert; Beweise gibt es nicht.

Eine kurze Erwähnung gönnt Arithmetica den sogenannten „Fingerzahlen“ mit dem Hinweis, dass ihre Vorliebe denjenigen Zahlen gilt, die man (nur) mit den Fingern der beiden Hände darstellen kann, da für die übrigen umständliche Verschränkungen der Arme erforderlich sind. (Gemeint sind wohl die Einer, Zehner, Hunderter und Tausender; vgl. Abb. IX in 3.7.) Dies ist ein Beleg dafür, dass die Darstellung der Zahlen durch gewisse Finger- und Armstellungen gängige Praxis bei den Römern war.

Das Kapitel über Astronomie ist wohl der beste Teil des Martianischen Handbuchs und hat den nachhaltigsten Einfluss ausgeübt. Es werden z.B. die wichtigsten Kreise der Himmelssphäre erklärt, der Tierkreis wird in zwölf Abschnitte zu je 30 Grad mit den jeweiligen Bezeichnungen eingeteilt, und es werden die wichtigsten Sternbilder aufgezählt. Die Darlegung zeugt von korrekten Kenntnissen der ungefähren Dauer der West-Ost-Bewegung der traditionellen sieben Planeten in der Ekliptik und von einem guten Verständnis für die scheinbar rückläufigen Bewegungen der äußeren Planeten. Einer der interessantesten und bedeutendsten Inhalte dieses Kapitels ist die Abhandlung über die inneren Planeten Merkur und Venus. Martianus glaubte, dass diese sich auf Umlaufbahnen um die Sonne bewegen. Noch Kopernikus bezog sich 1100 Jahre später auf Martianus, um diesen Aspekt seines eigenen Systems zu stützen.

Als Letzte darf die Dienerin Harmonia ihre Kunst und Wissenschaft vorstellen. Nach einer langen mythologischen Einleitung werden einige grundlegende Begriffe der Musiktheorie vorgestellt (vgl. 4.2). Zahlenverhältnisse werden nur kurz im Zusammenhang mit den Grundkonsonanzen Oktave, Quinte und Quarte erwähnt.

Im Ganzen bleibt dieses Kapitel weit hinter dem umfangreichen Werk des Boethius über Musik zurück, kommt aber in der Rezeption des Mittelalters immerhin auf Platz zwei.

Richard Johnson ist bei der Frage, was Martianus wohl veranlasst hat, sein Werk zu verfassen, zu der Auffassung gekommen, dass es weder als Schulbuch, noch als Pamphlet gegen das Christentum, auch nicht als Enzyklopädie des antiken Wissens zu verstehen ist, sondern dass er

„vielleicht nur für sich selbst die Unsterblichkeit erreichen wollte, die Platon, Aristoteles, Cicero und Varro erreicht hatten. Und, bei all seinen Fehlern, war er nicht bis zu einem gewissen Maß erfolgreich?“ (Stahl 1977, S. 98).

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