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Kapitel 8

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Ich kann nicht leugnen, dass ich über seine Begeisterung überrascht bin, die er mir entgegenbringt. Deswegen starre ich ihm verdutzt hinterher, als er bei meinem Anblick sogleich aufspringt und in seine kleine Wohnung eilt, um mich mit Milch zu versorgen. Noch nie in meinem belanglosen Leben habe ich jemanden sich so freuen sehen und schon gar nicht wegen meiner Anwesenheit. Wenn der wüsste, wen er hier durchfüttert! Meine Blicke wandern zu dem Notizblock, den er an Ort und Stelle liegengelassen hat, doch ich komme nicht dazu, mir den handgeschriebenen Text durchzulesen, denn das Klappern von Geschirr und das Geräusch des sich öffnenden Kühlschranks macht mir unweigerlich bewusst, wie sehr ich Durst habe. Leichtfüßig springe ich durch die offene Terrassentür in seine Wohnung und tappe gemütlich, aber auf schnellen Pfoten, in die rechteckige Küche. Er holt gerade ein Päckchen mit Milch aus dem Kühlschrank und geht damit zum Tisch, wo die kleine Schale vom letzten Mal für mich bereitsteht. Geduldig setze ich mich vor den Raum und beobachte, wie er die weiße Flüssigkeit in das runde Gefäß füllt. Für ein paar Sekunden mustere ich seine sanften Hände, dann wandert mein Blick über seinen Körper. Ein leichter Bauchmuskelansatz zeichnet sich auf seinem eng anliegenden T-Shirt ab und trotz seiner etwas zu weiten Jogginghose kann ich einen knackigen Hintern entdecken. Wenn ich so darüber nachdenke, wundert es mich, dass er hier allein lebt, denn unattraktiv ist er bei Weitem nicht. Er dürfte sowohl bei Frauen als auch bei Männern gleichermaßen gut ankommen, denn sein Körper ist wirklich nicht zu verachten.

Ich wende meinen Kopf kurz nach links und schaue genau in das offene Badezimmer. Auf dem Boden liegt noch ein feuchtes Handtuch und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich vielleicht etwas früher hätte kommen sollen, um ihn noch beim Duschen zu erwischen. Ein schiefes Grinsen durchzieht mein Gesicht und ich würde mich am liebsten selber ohrfeigen. Als ich mich ihm wieder zuwende, stellt er gerade die Packung zurück in den Kühlschrank, wobei ihm seine braunen Haare seicht in das Gesicht fallen und seine hellgrünen Augen leicht bedecken, als würden sie ein Geheimnis wahren wollen. Mein Blick bleibt kurz an seinen schmalen Lippen hängen, die watteweich aussehen. Recht ungewöhnlich für einen Mann und ich frage mich kurz, welche sexuelle Neigung er wohl hat.

Ich schüttle kurz den Kopf. So etwas sollte mich nicht interessieren und … das tut es auch nicht. Nicht einmal ein bisschen. Es muss an meiner Müdigkeit und meiner trockenen Kehle liegen. Vielleicht hätte ich doch nicht hierherkommen sollen, doch der Durst und die Gewissheit, dass ich hier etwas zu Trinken bekomme, waren zu groß gewesen.

Er richtet sich auf und nimmt die gefüllte Schale in die Hand. Dann dreht er sich vorsichtig um und wendet sich mir zu. Ein Lächeln spiegelt sich in seinen sanften Gesichtszügen wider, als er auf mich herabsieht, und mich durchfährt ein mir unbekannter Schauer.

„Hey, du kannst es wohl kaum abwarten, wie? Bestimmt hast du auch Hunger!“

Behutsam stellt er die Milch vor mich ab und kramt in seiner Schublade nach einem Unterteller den er mit einem Happen aus dem Topf füllt. Von hier unten aus kann ich nicht erkennen, um was es sich dabei handelt. Gespannt warte ich, bis er auch den Teller auf den Boden abstellt, doch überzeugen kann mich die Pampe nicht, die er da draufgehauen hat. Misstrauisch rieche ich an den lauwarmen Ravioli – Dosenfutter, nein danke. Wie kann man so etwas freiwillig essen?

Angewidert rümpfe ich meine Nase und wende mich lieber schnell der Milch zu, die ich gierig aufschlecke, ungeachtet dessen, dass er mich die ganze Zeit über beobachtet. Zufrieden räkle ich mich und schaue ihn sichtlich entspannt an. Meine Kehle brennt nicht mehr und mein Magen ist etwas gefüllt. Immer noch betrachtet er mich mit leuchtenden Augen, fast als wäre ich ein wertvoller Schatz. Irgendwie regt mich das auf. Diese grenzenlose Naivität, die ihn umgibt. Weiß er eigentlich, in welcher Gefahr er gerade ist? Nein, natürlich nicht. Ich könnte ihm das Leben nehmen, wenn ich nur wollte und er könnte nicht das Geringste dagegen tun. Doch vorerst reicht mir die Verpflegung, die er mir gibt.

Als er sicher ist, dass ich fertig bin, stellt er das Geschirr auf die Spüle und begibt sich in das Wohnzimmer.

„Kommst du?“, höre ich ihn beim Vorbeigehen fragen und schaue ihm schweigend nach. Mein Gehirn ist auf einmal wie leergefegt und ich fühle die Schwere meiner Glieder an mir nagen. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, was ich tue, folge ich ihm auf den Balkon, wo er sich auf die Decke setzt, sich an der Hauswand anlehnt, und den Himmel betrachtet. Gemächlich setze ich mich neben ihn und schaue gelangweilt in den Sternenhimmel.

„Ist es nicht wunderschön? Es gibt nichts, was großartiger ist, nicht wahr?“

Ich sehe zu ihm rüber und bin überrascht, mit welcher Bewunderung er zu den Himmelsgestirnen aufsieht. Er scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Was soll an ein paar glühenden Steinbrocken so faszinierend sein? Ich wende meinen Blick von ihm ab und starre nochmals zum Himmel empor. Zugegebenermaßen habe ich mir den ihn nie sonderlich betrachtet, doch je länger ich nach oben schaue, desto mehr kann ich seine Begeisterung verstehen. Ein überwältigendes Sternenmeer scheint sich ins endlose Dunkelblau zu erstrecken und inmitten des leuchtenden Meeres erhebt sich der runde Vollmond, heller und strahlender als alle Sterne zusammen. Minuten vergehen in denen wir schweigend nebeneinander sitzen und das Schauspiel der Natur bewundern. Eine innere Ruhe befällt mich, ungewohnt und mir völlig unbekannt. Irgendetwas stimmt hier nicht, doch ich komme nicht dahinter, was es ist.

„Weißt du, es ist doch schade, dass keiner mehr ein Auge für die Schönheit hat, die uns umgibt. Alle sind immer im Stress oder ganz und gar mit sich selbst beschäftigt“, unterbricht er mit nachdenklicher Stimme die Stille und ich schaue zu ihm rüber. Er hat den Blick nicht abgewendet und sein gesamter Körper ist entspannt. In seinen Augen spiegelt sich ein verträumter Glanz wider und sein Gesicht wird von dem zarten Schein des Mondes benetzt, als würde dieser den jungen Mann zärtlich streicheln. Ich weiß nicht warum, doch ich kann den Blick einfach nicht von ihm abwenden, auch nicht, als seine Hand anfängt, sanft über mein Fell zu streicheln und mich im Nacken zu kraulen. Unglaublich behutsam und zart …

Ich schließe kurz die Augen, doch schon im nächsten Moment reiße ich sie wieder auf, um ihn anzusehen. Ich darf mich nicht gehenlassen! Dann könnte ich genauso gut anfangen zu schnurren! Nie und nimmer!

„Wahrscheinlich hältst du mich für total bescheuert und womöglich hast du recht.“

Ein leicht melancholisches Grinsen huscht über sein Gesicht und ich kann eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen erkennen.

„Manchmal … manchmal denke ich, dass ich irgendwie nicht dazu passe, dass ich komplett unterschiedlich bin. Verstehst du, was ich meine? Ah, eher nicht!“

Er lacht verlegen auf, bevor er vorsichtig mit den Unterlagen in der Hand aufsteht und sich streckt, wobei sein T-Shirt ein Stück nach oben rutscht und ein Stück seiner weißen Haut preisgibt, welche verführerisch im silbernen Mondlicht glänzt. Ich lecke mir unbewusst über die Lippen und mein Blick haftet an seinem versteckt knackigen Hintern, als er zurück in die Wohnung geht. Ein prickelnder Hitzeschwall durchströmt meinen Körper und lässt mich kurz erschauern. Verwirrt von meinen eigenen Reaktionen folge ich ihm hinein. Er hat gerade eine Kerze angezündet, welche er vorsorglich auf einen Unterteller oben auf der Wohnzimmeranrichte hinstellt. Als er sieht, dass ich reingekommen bin, lächelt er mir sanftmütig zu und schließt die Balkontür. Die Fenster lässt er wieder sperrangelweit offenstehen. Das sollte er sich echt abgewöhnen. Ohne dass er es andeuten muss, springe ich auf die braune Couch und schaue ihn auffordernd an. Verdutzt blickt er zurück, dann beginnt er herzlich zu lachen.

„Du kennst mich aber gut!“

Lächelnd lässt er sich neben mir nieder und beginnt erneut, über mein Fell zu streicheln. Genüsslich strecke ich mich seinen zärtlichen Händen entgegen und schalte alle Gedanken aus. Ich weiß, dass es nicht richtig sein kann, was ich tue, doch der Wunsch, von ihm berührt zu werden, wandelt sich zu einem berauschenden Drang, reißend wie ein Fluss. Im Moment möchte ich nicht denken und mich einfach nur dem seltenen und fremden Moment der Geborgenheit hingeben.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, hebt er mich auf seinen Schoß. Mir entfährt ein kurzes, empörtes Murren, ein letzter Versuch meines verbliebenen Ichs sich zu wehren, doch vergebens. Ich lasse es geschehen und lege mich schließlich hin. Während ich seiner beruhigenden Stimme lausche und mein müder Körper von seinen warmen Händen gestreichelt wird, schließe ich langsam meine Augen und ergebe mich den Wogen der Dunkelheit, bis ich nichts mehr höre und sehe.

***

Mit großen Schritten sprinte ich die verlassenen Straßen entlang. Es ist später geworden, als ich geplant hatte, doch ich hatte einfach viel zu bequem gelegen und hatte zu gut geschlafen. Als ich erwacht war, hatte ich mich auf seinem Bauch eingerollt vorgefunden. Er selbst war auf dem Rücken liegend eingeschlafen und hatte so friedlich dabei ausgesehen. Unschuldig. Frei.

Ich schüttle beim Rennen den Kopf und konzentriere mich wieder auf das Wesentliche, denn ich muss mich beeilen, um nicht zu spät zu kommen. Moritz ist bestimmt schon da und wartet, um mit seiner gesammelten Beute zu prahlen. Bei dem Gedanken wird mir speiübel. Nicht mehr weit und ich habe das Portal zur Dämonenwelt erreicht. Wie gut, dass es nahe des Dorfes eins gibt, denn meistens sind diese nur bei größeren Städten vorhanden. Vor den eingestürzten Pfeilern der ehemaligen Rheinbrücke bremse ich ab und schaue mich der Regel entsprechend noch einmal um, um sicherzugehen, dass kein ungebetener Zuschauer in der Nähe ist. Natürlich bin ich allein. Mein Blick fällt kurz auf den grünbläulich schimmernden Fluss, der das schönste Bild in der verkommenen Landschaft bildet. Wenigstens ein Stück Natur, welches von den Menschen nicht gänzlich verunreinigt wird. Dann suche ich mir mühevoll meinen Weg durch das kantige Geröll zu einer steinernen Plattform mit eingraviertem Pergament, welches auf dem Boden liegt. Ich muss gestehen, dass es ein sehr gutes Versteck für ein Portal ist, denn hier kommt fast niemand her und selbst wenn, würde sich kein normaler Mensch die Mühe machen, den großen und zirka neun Meter langen Schutthaufen zu beseitigen. Allerdings war es für uns Sammler jedes Mal eine Qual, dieses Tor zum Weltenwechsel zu benutzen. Auch heute wieder bleibe ich unsanft mit meiner rechten Seite an einem der Steinbrocken hängen und schürfe mir die Haut auf. Ein genervtes und schmerzliches Fauchen entweicht meiner Kehle, doch ich beiße die Zähne zusammen und versuche, das sofort aufkommende Brennen zu ignorieren. Schnell krieche ich auf die Plattform und konzentriere mich in Gedanken auf die vertraute Dämonenwelt, bis das Portal schließlich zu leuchten beginnt und ich mich in meiner bekannten Umgebung wiederfinde. Endlich kann ich meine menschliche Form annehmen. In mir keimt der Wunsch auf, mich zu strecken, doch ich brauche mich nicht umzusehen, um zu wissen, dass ich beobachtet werde. Ich spüre den stechenden Blick und verdrehe genervt meine Augen.

„Hast du denn nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen?“, frage ich gereizt, ohne ihn dabei anzusehen und steige eilig die Treppen vom Podest herab, welches prachtvoll in der Mitte des geräumigen Saales liegt wie ein kleiner Altar.

„Skip, mein alter Nichtfreund! Wieso denn so schlecht gelaunt? Sind wir schon wieder etwas zu spät dran?“, erwidert Moritz gehässig und seine hallenden Schritte verraten mir, dass er genau wie ich auf das Ausgangstor zusteuert, das zu den privaten Räumen zu unserem Herrn führt. Ich versuche ihm keinerlei Beachtung zu schenken und setze meinen Weg zielstrebig fort. Wie erwartet stellt er sich direkt vor das geschlossene Tor und grinst mich herausfordernd an.

„Was denn? Du ignorierst mich? Das ist aber sehr unhöflich, wo ich mir doch nur Sorgen um dich mache! Ist wohl heute Nacht nicht so gut gelaufen, wie?“

Sein Grinsen wird noch breiter als es ohnehin schon ist und seine schwarzen Augen blitzen belustigt auf. Abermals verdrehe ich genervt meine Augen und atme laut aus. Wie gerne würde ich ihm jetzt eine verpassen und ihn an seinen schwarzen Locken durch die gesamte Halle zerren.

„Wie unendlich einfühlsam von dir! Wie du schon sagtest – ich bin spät dran, also zur Seite!“, bemerke ich spitz und greife nach seiner Schulter, um ihn aus dem Weg zu schieben, doch er weicht mir geschickt aus.

„Nicht doch! Du kannst ruhig eine kleine Runde mit mir schnacken, denn im Moment ist Donald bei unserem Herrn, um seine mickrige Ausbeute zu übergeben … apropos mickrige Ausbeute“, sein Grinsen scheint nun ganz sein gebräuntes Gesicht zu bedecken und seine übersprudelnde Gehässigkeit springt mir geradezu entgegen. „Ich habe heute drei Leben gesammelt! Er war sehr zufrieden mit mir. Wie sieht es denn bei dir aus, da du schon so spät dran bist, gab es wohl Schwierigkeiten, wie?“

„So so, drei Leben. Und die Aura? War die wieder verbraucht und qualitativ – nennen wir es mal geringwertig – wie deine übliche Auslese?“, entgegne ich ihm in ernstem Tonfall und blicke ihn mit gelangweilter Miene in seine überhebliche Visage. Ihm vergeht sein Grinsen und seine Mundwinkel ziehen sich schlagartig nach unten, als hätte ich ihm Gewichte an die Seiten gehängt.

„Es waren gute Leben mit stark sprühenden Auren! Zwei orangene und eine gelbe mit starker Farbpracht, dass sogar die Sonne vor Neid erblasst wäre! Abgesehen davon sammle ich nie minderwertige Leben! Es gibt keine besseren mehr! Schau dir doch das Menschengesindel an! Es läuft nichts Hochwertigeres rum!“, schreit er mir entgegen und seine Stimme ist nahe dran, sich vor Hysterie zu überschlagen. Sein ganzer Körper ist angespannt und er hat seine Hände unweigerlich zu Fäusten geballt.

Innerlich lache ich auf, da ich das Spiel gewonnen habe. Dieser dumme Tropf! Wieso muss er mir jedes Mal meine Zeit mit diesen albernen Spielchen stehlen, in denen er ohnehin immer als Verlierer hervorgeht? Ich verharre und behalte meinen gleichgültigen Gesichtsausdruck bei.

„Es stimmt, es ist nicht leicht, wertvolle Lebensenergien zu finden, aber das ist schließlich unsere Aufgabe. Und dass es gar keine mehr geben soll … dem kann ich nicht zustimmen. Denn wie kommt es dann, dass ich heute sowohl ein Leben mit strahlend grüner Aura sowie eine weiße ergattern konnte?“

Seine Kinnlade klappt nach unten und einer seiner buschigen Locken fällt ihm in sein ungläubig dreinblickendes Gesicht.

„Du hast ein reines Leben gefunden? Das glaube ich dir nicht!“

In diesem Moment springt das Tor von hinten auf und stößt Moritz unsanft nach vorne. Ich weiche keinen Millimeter, als er auf mich zu taumelt, und mache mir auch nicht die Mühe, ihn aufzufangen. Wieso sollte ich auch? Kurz vor mir kommt er zum Stehen und springt schnell auf die Seite. Missmutig starrt er auf das offene Tor, aus dem Donald mit gesenktem Kopf herauswatet, ohne uns wahrzunehmen. Niedergeschlagen trottet er durch die große Halle mit den gewundenen Steinsäulen aus Marmor, die an Spiralen erinnern. Anscheinend hat Moritz in diesem Punkt nicht gelogen: Donalds Ausbeute scheint nicht zufriedenstellend gewesen zu sein. Nun denn, nicht mein Problem. Während Moritz mit einem schadenfrohen Grinsen unseren Kameraden hinterherblickt, gehe ich an ihm vorbei und bleibe noch ein letztes Mal stehen, bevor ich die Privatgemächer unseres Herrn betrete.

„Ob du mir glaubst oder nicht ist, dein Problem. Doch es werden eh bald alle darüber reden, dann hast du deinen Beweis, wenn es dich glücklich macht! Unseren Gebieter wird es definitiv friedlich stimmen“, meine ich zu ihm gewandt und schließe die mit lateinischen Zeichen übersäte Tür hinter mir, bevor Moritz auch nur die Chance hat zu reagieren.

Ich atme erleichtert aus, froh darüber, ihn endlich los zu sein. Wieso konnten die Anwärter mir nicht einen Gefallen tun und Moritz bei ihrer nächtlichen Jagd erwischen? Dann hätte ich wenigstens meine Ruhe und eine Last weniger zu tragen. Angespannt lege ich den dunkelblau tapezierten Flur mit großen Schritten zurück. Er hasst es zu warten und ich kann mir gut vorstellen, dass er nach Donalds Pleite nicht gerade die beste Laune haben wird. Dennoch, ein reines Leben findet man in der heutigen Zeit einfach nicht mehr so. Ich muss zugeben, dass es ein reiner Glücksfund war, denn törichte Eltern haben das Kinderzimmerfenster ihres schlafenden Säuglings offenstehen lassen. Ein Leckerhappen, den man sich nicht entgehen lassen sollte, denn spätestens in zwei, drei Jahren hätte die Aura eine andere Farbe angenommen, hätte ihre Reinheit verloren und wäre verkommen, so wie bei den übrigen der typisch Heranwachsenden. Vor der gewohnten Tür zur Übergabe bleibe ich stehen und klopfe an. Es dauert keine Sekunde bis die stabile Holztür von allein aufschwingt und den in Eichenholz gekleideten Audienzsaal im spätgotischen Stil freigibt. Mein Herr sitzt auf seinem rotgoldenen, gepolsterten Thron, einen Ellenbogen gelangweilt auf der hölzernen Lehne abgestützt und mit geschlossenen Augen. Sein langes, blondes Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden, aus welchem ein paar Strähnen widerspenstig herausfallen und sein hochmütiges Antlitz umschmeicheln. Er trägt eine milchig weiße Rüschenbluse, welche an längst vergangene Jahrhunderte erinnert und zu seiner honigfarbenen Haut einen faszinierenden Kontrast bildet, sodass man gar nicht anders kann, als hinzusehen. Zumindest Sterbliche dürften dies so empfinden. Er ist wie ein harmlos getarntes Raubtier, das seine Opfer durch seine Schönheit anlockt, um sie dann zu verspeisen.

Als ich mich über den mit Nebel bezogenen Boden auf ihn zubewege, schlägt mir seine missmutige Stimmung unsichtbar, aber wuchtvoll entgegen. Es liegt eine drückende Schwere im Raum, die mir droht, die Luft zum Atmen zu rauben. Ich versuche, möglichst unbeirrt meinen Weg zu ihm fortzusetzen und mich nicht umzusehen. Obwohl es nur einige Meter sind, zieht sich der Weg wie Kaugummi und kann doch nicht lang genug für mich sein. Je näher ich ihm komme, desto kälter und schneidender wird die Luft, wie eisige Nadelstiche, die sich durch meine Haut bohren. Ein kurzer Schauer durchläuft meinen Körper und ich kämpfe mit meiner Gesichtsmimik, um bloß nichts über meine Verfassung zu verraten. Was habe ich schon zu verlieren? Nichts – im Gegenteil: Es sollte jetzt gut für mich verlaufen. Jedoch bleibt ein ungutes Gefühl, das sich mahnend in meine Eingeweide einnistet.

Einen Meter vor dem Thron bleibe ich stehen, gehe gewohnheitsmäßig auf die Knie und senke meinen Kopf. Sekunden vergehen, in denen nichts geschieht. In diesen Augenblicken scheint mich der Schleier der Kälte unbarmherzig zu umhüllen, als wolle er damit meine Glieder lähmen und mein Urteil endgültig fällen.

„Skip … steh auf! Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht.“

Seine zuckersüße Stimme mit verbittertem Unterton zirkuliert hallend im Raum und jagt mir erneut einen Schauer über den Rücken. Ich verharre in meiner Position und öffne meine Augen, hebe allerdings nicht den Kopf, denn so wurde es mir beigebracht und so verfahre ich seit eh und je.

„Gewiss nicht, Herr. Bitte überzeugt euch selbst.“

Ich höre wie er sich schwungvoll erhebt, Schritte hallen leise im Saal wider, bis seine glänzenden Lackschuhe direkt neben mir halten. Spielerisch fährt er mit seiner Hand durch meine schwarzen Haare, als wäre ich eines seiner Haustiere. Zweifelsohne bin ich tatsächlich nicht mehr als das. Dafür wurde ich geboren. Das ist meine Rolle. So wurde es mir gelehrt.

„Nun gut, erhebe dich!“

Ich befolge stillschweigend seinen Befehl und er dreht sofort mein Gesicht zu seinem, sodass ich ihm direkt in seine goldschimmernden Augen sehe. So faszinierend, so schön, durchdringend und kalt wie pures Eis.

Als seine Lippen sich den meinen nähern, schließe ich meine Augen und öffne leicht meinen Mund. Ich spüre den Druck seiner fordernden Lippen und sofort ein reißendes Ziehen, als er beginnt, die gesammelten Leben aus mir herauszusaugen. Ich versuche, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, um die Prozedur besser zu überstehen, denn ich hasse es. Ich finde es unerträglich zu spüren, wie die warme Energie aus meinen Körper herausgezogen wird wie ein versehentlich verschluckter Faden bei einer Katze. Ebenso verabscheue ich den Brechreiz, der mit der Übergabe der Lebensenergien einhergeht. Alle Wärme scheint mit den Leben meinem Körper zu entweichen und Frost durchdringt mich schmerzend. Immer gieriger pressen sich seine Lippen hart gegen meine, als er die weiße Lebensaura des Säuglings erfasst. Seine starke Hand presst mich heftig an seinen Körper und seine Klauen graben sich ungestüm in meine Haut und lassen meine Nerven vor Schmerzen aufschreien. Sein Hunger ist unersättlich. Mir wird schwindelig und ich spüre, wie meine Kraft mich völlig verlässt. Als mir fast schwarz vor Augen wird und der letzte Funke Wärme aus mir herausgerissen wird, lässt er endlich von mir ab. Erstaunt und überaus zufrieden starrt er mich an. Seine Augen funkeln wie Diamanten und er leckt sich lüstern über seine Lippen.

„Ein reines Leben … Skip, ich bin begeistert!“

Er hält kurz inne und mustert mich durchdringend, bevor er fortfährt.

„Auf dich kann ich mich verlassen. Du hast mich bis jetzt noch nie enttäuscht. Das wirst du auch weiterhin nicht, habe ich recht?“

Er fährt mir mit seiner Hand über meine rechte Wange und ich spüre, wie er tiefe Kratzer mit seinen scharfen Nägeln hinterlässt. Doch mein Körper ist durch die Kälte so taub, dass ich keinen Schmerz mehr spüre. Ich bemühe mich, mein Gleichgewicht zu halten und antworte ihm tadellos wie immer.

„Natürlich nicht, Herr.“

Ein selbstgefälliges Grinsen breitet sich über sein erhitztes Antlitz aus und seine goldenen Augen funkeln mich belustigt an.

„Das möchte ich hoffen … dann geh jetzt und ruhe dich aus! Die anderen sollen sich ein Beispiel an dir nehmen!“, befiehlt er streng und der warnende Unterton in seiner Stimme ist mir nicht entgangen. Eilig und etwas wankend bahne ich mir meinen Weg zurück zur Tür und verlasse den Saal. Müde und ausgelaugt lehne ich mich kurz gegen die kühle Wand. Der Drang, meine Augen zu schließen, ist fast übermächtig. Ich muss mich beeilen und in mein Zimmer gelangen, bevor ich noch im Flur einschlafe. Mühevoll taste ich mich stützend mit der linken Hand an der tapezierten Wand entlang und während ich das tue, sehne ich mich mehr denn je nach sanften Streicheleinheiten, Milch und seiner beruhigenden Stimme. Ich versuche, die aufkeimenden Gedanken und Erinnerungen abzuschütteln, doch diese setzen sich mit jedem Versuch tiefer in mir fest wie ein Virus. Auch als ich den privaten Bereich unseres Herrn verlasse und durch die große Empfangshalle taumle, hinter mir Moritz mit seinen treuen Anhängseln, die hitzig auf mich einreden, kann ich nur an seine zärtlichen Hände denken und an das warme Gefühl, das sie mir vermittelt haben. Auch als ich endlich mein Zimmer betrete und mich auf mein großes Bett lege, kreisen meine Gedanken nur noch um Mick, Mick und nochmals Mick …

Im Licht des Mondes

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