Читать книгу 5 Romane Auswahlband Ärzte und Schicksale Februar 2019 - A. F. Morland - Страница 20
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ОглавлениеAls Nicola einige Stunden später ihr Haus betrat, beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Wieso bauschen sich im Wohnzimmer die Vorhänge?, fragte sie sich beunruhigt. Wer hat die Terrassentür geöffnet? Als ich heute morgen das Haus verließ, habe ich sie geschlossen, das weiß ich ganz genau. Torben kann nicht hier sein. Der hat noch bis zweiundzwanzig Uhr in der Seeberg-Klinik zu tun. Wer sonst könnte …
Die junge Ärztin blieb in der Wohnzimmertür stehen und ließ ihren Blick aufmerksam durch den Raum schweifen. Irgend etwas ist hier nicht in Ordnung, ging es ihr durch den Sinn.
War während ihrer Abwesenheit ein Einbrecher hier gewesen? Was hatte er gestohlen? Auf den ersten Blick konnte Nicola nicht erkennen, dass etwas fehlte.
Die Terrassentür, die nur von innen zu öffnen war, schien nicht beschädigt zu sein. Niemand hatte das Glas eingeschlagen, um an den Türgriff zu gelangen. Auf welche Weise war die Tür geöffnet worden? Und von wem?
Mit gemischten Gefühlen betrat Nicola das Wohnzimmer. War außer ihr noch jemand im Raum? Wo hatte er sich versteckt? Wenn sie die Tür jetzt zumachte, schloss sie sich dann mit dem Unbekannten ein?
Ihr unsteter Blick fiel auf das Telefon, und die Versuchung war groß, den Hörer abzunehmen und eine Nummer zu wählen … Aber wessen Nummer? Die eines Nachbarn? Jene der Seeberg-Klinik, um mit Torben zu sprechen? Auch Sven Kayser hätte sie anrufen können. Oder die Polizei.
Aber was hätte sie gesagt, wenn die Verbindung zustande gekommen wäre? Dass sie glaubte, bei ihr wäre eingebrochen worden? Ohne einen handfesten Beweis dafür zu haben? Sie gab der Versuchung nicht nach. Vielleicht hatte sie die Terrassentür heute morgen nicht sorgfältig genug geschlossen, und sie war von alleine wieder aufgegangen.
Auf ihrem Weg zur Tür nahm sie plötzlich aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr. Sie vermeinte, eine eiskalte Hand würde sich um ihr Herz legen und zudrücken.
Also doch! Es war jemand in ihrem Haus! Jemand, der nicht willkommen war, der hier nichts zu suchen hatte, der sich unerlaubt Zutritt verschafft hatte!
Nicola stockte der Atem. Sie blieb so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Der große lederne Sessel vor der Stollenwand aus heller Eiche schwang langsam herum, und in ihm saß ein Mann.
Die junge Kinderärztin riss die Augen auf und sah ihn entgeistert an. „Du?“
„Hallo, Nicola.“ Der Mann stand auf.
„Bist du verrückt, mich so zu erschrecken?“
„Freust du dich nicht, mich zu sehen?“
„Wie kommst du hier rein?“
„Schlösser wie das an der Kellertür sind ein Witz. Man braucht sie nur scharf anzusehen, schon sind sie offen. Du solltest das ändern lassen, sonst könnte es passieren, dass du irgendwann jemanden in deinem Haus antriffst, vor dem du wirklich Angst haben musst.“
Nicola Sperling kniff die Augen zusammen, ihr Blick war abweisend und kalt. „Was willst du hier?“
Der ungebetene Gast lachte. „Begrüßt man so seinen Bruder?“
„Stiefbruder“, stellte Nicola schneidend richtig.
„Immerhin hatten wir dieselbe Mutter.“
„Wieso bist du hier?“
„Ich hatte Sehnsucht nach dir.“
„Und aus welchem Grund bist du wirklich in München?“
Bruno Pfaff kam langsam näher. „Ich habe Hamburg den Rücken gekehrt, Schwesterherz.“
„Nenn mich nicht so“ , sagte Nicola feindselig. Es war für sie keine Freude, ihren Stiefbruder wiederzusehen, denn Bruno war ein durch und durch schlechter Mensch. Deshalb hatte sie auch Torben noch nie von ihm erzählt.
Sie musste unwillkürlich an Torbens Worte denken. „Mir ist hin und wieder so, als würdest du etwas vor mir verbergen“, hatte er kürzlich an einem wunderschönen Morgen unter der Dusche zu ihr gesagt.
„Ich? Vor dir? Was denn?“, hatte sie mit Unschuldsmiene gefragt.
„Wenn ich das bloß wüsste“, hatte er geantwortet.
Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen. „Du glaubst also, ich verberge etwas vor dir.“
„Tust du es nicht?“
„Was sollte das denn sein?“
„Ich weiß es nicht, aber ich denke, ich werde es eines Tages herausfinden.“
An dieses Gespräch in der engen Duschkabine musste Nicola jetzt denken. Wieso hatte sie geglaubt, ihren missratenen Stiefbruder für alle Zeiten totschweigen zu können?
„Es gibt nichts herauszufinden“, hatte sie behauptet und dabei bangen Herzens an Bruno gedacht, der nach Hamburg gegangen war und hoffentlich nie mehr zurückkommen würde. Doch nun war er wieder da, und wie es schien, hatte ihn sein erster Weg zu ihr geführt.
Bruno zog die Mundwinkel nach unten. „Ich habe mich nie richtig wohl gefühlt bei den steifen Hanseaten, habe endlich begriffen, wohin ich gehöre, wo meine Wurzeln sind.“
Nicola sah ihn missgestimmt an. „Deine Wurzeln sind mit Sicherheit nicht hier\“
Er breitete die Arme aus und lachte. „Dies ist mein Elternhaus ebenso wie deines.“
„Du hast keinen Anspruch mehr darauf. Ich habe dich ausbezahlt.“ Nicola hatte einen Kredit aufnehmen müssen, um Bruno geben zu können, was ihm rechtmäßig nach dem Tod der Eltern zustand. Er war dabei sehr gut ausgestiegen, hatte sein Geld grinsend in Empfang genommen und war damit nach Hamburg gegangen, weil ihm München zu klein und zu eng gewesen war, und weil er sich hier nicht richtig entfalten konnte, wie er meinte. Hamburg wäre das Tor zur großen, weiten Welt. Dort würde er sein Erbteil gut anlegen und an seiner soliden Karriere basteln.
So war es von ihm geplant gewesen, doch anscheinend hatte er im hohen Norden Schiffbruch erlitten, und seine hochfliegenden Pläne waren wie Seifenblasen zerplatzt. Nicola war ziemlich sicher, dass von dem vielen Geld, das er von ihr bekommen hatte, nichts mehr übrig war.
„Ich mache keinen juristischen Anspruch geltend, Schwesterherz“, sagte er lächelnd, „aber einen moralischen. Du darfst es mir nicht verwehren, hier zu sein. Mich verbinden sehr viele schöne Erinnerungen mit diesem Haus.“
Wenn Nicola einen Wunsch frei gehabt hätte, hätte sie ihren ungeratenen Stiefbruder nach Hamburg zurückgewünscht. „Du hast dich also entschlossen, wieder in München zu leben“, sagte sie steif.
„So ist es.“ Er nickte.
„Und wo?“
„Ich dachte – erst mal hier. Habe ich das nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht?“
Sie starrte ihn an, als zweifele sie an seinem Verstand. „Das kommt nicht in Frage“, sagte sie und schüttelte heftig den Kopf.
„Nicola, ich bin dein Bruder. Soll ich vielleicht unter einer Brücke schlafen?“
„Es gibt Hotels.“
„Ich kann mir kein Hotel leisten.“
„So abgebrannt bist du?“
Bruno Pfaff hob die Schultern. „Sagen wir, ich befinde mich finanziell vorübergehend in der schmalen Gasse. Aber das bleibt nicht so. Ich habe ein paar Geschäfte laufen …“
Er hatte schon immer ein paar Geschäfte laufen gehabt, und sie hatten ihm nie etwas eingebracht – außer Schwierigkeiten mit Privatpersonen und Behörden.
Bruno Pfaff setzte ein gewinnendes Lächeln auf. „Schwesterherz, du hast dieses große Haus für dich allein, und ich soll auf einer Parkbank schlafen? Das kann nicht dein Ernst sein. Das kannst du doch nicht wirklich wollen. Ich appelliere an dein Gewissen und an dein gutes Herz. Du hast mich vielleicht in schlechter Erinnerung, aber ich habe mich geändert. Den Bruno, der dir früher das Leben schwer gemacht hat, gibt es nicht mehr. Ich bin harmlos und friedlich geworden, mache keine krummen Sachen mehr. Das Leben hat mir die Ecken und Kanten abgeschliffen. Ich bin heute angepasst. Aus mir ist ein angenehmer Zeitgenosse geworden. Lass es mich dir beweisen.“
Nicola Sperling geriet innerlich ins Wanken. Sie ärgerte sich über sich, aber so war sie nun mal. Sie konnte so schwer nein sagen.
Vor allem bei Bruno. Das war immer schon so gewesen. Was immer er von ihr gewollt hatte – er hatte es bekommen. Weil das Blut derselben Mutter in ihren Adern floss.
Nicola schaffte es auch diesmal nicht, hart zu bleiben und ihren Stiefbruder wie einen Fremden fortzuschicken, obwohl sie ahnte, dass eine Menge Ärger auf sie zukam, wenn sie nachgab.
Bruno harmlos, friedlich, abgeschliffen und angepasst … das war für sie genauso unvorstellbar, wie wenn man ihr einzureden versucht hätte, die Isar würde seit heute aufwärts fließen. In Nicolas Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Sie sagte sich, sie müsse endlich mit Torben reden.
Er muss erfahren, dass ich einen Stiefbruder habe, auf den ich leider überhaupt nicht stolz sein kann, dachte sie. Torben möchte mich heiraten. Ich darf ihm Brunos Existenz nicht länger verheimlichen.
„An wie lange hast du gedacht?“, fragte sie knapp, und sie überlegte gleichzeitig fieberhaft, wie sie Torben erklären sollte, dass sie ihm erst jetzt von Bruno erzählte. Würde er für ihre Beweggründe Verständnis aufbringen?
„Wie?“, fragte Bruno.
„Wie lange willst du hier wohnen?“
Es funkelte triumphierend in seinen Augen. Er hatte sie wieder einmal weich gekriegt. „Nur so lange, bis ich etwas Passendes gefunden habe. Das kann schon in drei, vier Tagen sein.“
Drei, vier Tage mit Bruno unter einem Dach. Das ging gerade noch. „Hast du kein Gepäck?“, fragte Nicola.
„Es steht draußen auf der Terrasse. Danke, dass du mich nicht fortschickst. Ich wusste, dass du mich bei dir wohnen lässt. Du bist ein Engel, die Güte in Person. Der Himmel wird es dir vergelten. Ich werde keine Last für dich sein.“ Bruno ging zur offenen Terrassentür, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus.
Dann winkte er jemanden zu sich. Ein junges Mädchen mit roten Zöpfen, billig geschminkt und auch so gekleidet, erschien.
„Darf ich vorstellen?“, sagte er. „Nicola, das ist Rosy Kupfer, mein Mädchen. Rosy, das ist Nicola Sperling, meine Schwester. Doktor Sperling. Nicola ist Kinderärztin. Sie arbeitet an der renommierten Seeberg-Klinik. Ich bin sehr stolz auf sie.“ Er gab seiner Freundin einen Klaps auf den Po. „Gib Pfötchen, Rosy. Sag hallo zu Nicola.“
„Hallo, Nicola“, grüßte Rosy Kupfer und streckte der jungen Ärztin die Hand entgegen, die diese jedoch ignorierte.
Nicola war wütend, fühlte sich von ihrem Stiefbruder hereingelegt, überfahren. Er hatte sie gebeten, ihn für kurze Zeit bei sich aufzunehmen, und nachdem sie eingewilligt hatte, zauberte er plötzlich diese – diese – Person aus dem Hut.
„Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Schwesterherz?“, fragte Bruno unschuldig.
Nicola deutete mit dem Kopf auf Rosy. „Davon war nicht die Rede.“ Bruno hob die Schultern und sagte lachend: „Nicola, ich bin ein Mann, kein Mönch.“
Sie sah ihn eisig an. „Ich bin kein öffentlicher Beherbergungsbetrieb.“
„Rosy gehört zu mir.“ Bruno legte den Arm um die Schultern seiner ordinär aufgemachten Freundin und drückte sie an sich. „Mit einem Trauschein kann ich nicht dienen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir ein Paar sind. Wir haben in Hamburg zusammen gewohnt. Rosy ist ein nettes Mädchen, sie wird dir keinen Kummer machen.“ Er griente. „Ob in deinem Gästezimmer einer schläft oder zwei – was macht das schon für einen Unterschied?“
Rosy Kupfer meldete sich zu Wort: „Wenn deine Schwester mich nicht in ihrem Haus haben will …“
„Du hältst dich da raus, Schätzchen, okay?“, schnauzte Bruno Pfaff sie an. „Das kläre ich selbst mit Nicola.“
„Vielleicht hat sie Angst, dass ich sie beklaue“, sagte Rosy.
„Verdammt, ich will, dass du die Klappe hältst!“, blaffte Bruno.
Rosy zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. „Ich bin ja schon still“, sagte sie kleinlaut.
Bruno ließ sie los und wandte sich an seine Schwester. „Drei, vier Tage, Nicola, dann bist du uns wieder los“ , versprach er – und erreichte einmal mehr, was er wollte.