Читать книгу Sieben Krimis auf einen Streich: Kriminalroman-Paket - A. F. Morland - Страница 16

Kapitel 5

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Probek legte den Hörer auf. Er stand hinter der Gardine am Fenster und sah nach unten.

Funkwagen sperrten bereits den ganzen Platz, und die Leitstelle der Polizei beorderte noch weitere Fahrzeuge in die Umgebung des Herzogplatzes. Uniformierte rannten durcheinander, bezogen hinter abgestellten Wagen Deckung. Noch war kein kompetenter Mann da, der das Kommando übernahm und System in die wirren Einzelaktionen der Beamten brachte.

Probek nahm das Walkie-Talkie in die Hand, als Junghein in das Mikrofon seines Gerätes blies. Es klang wie das Fauchen eines Sturms in trockenen Ästen.

»Behaltet jetzt die Nerven!«, sagte Probek.

»Hier hat niemand Alarm ausgelöst!«, beteuerte Junghein.

»Wer oder wo, ist jetzt unerheblich«, gab Probek kalt zurück.

»Wir geben auf«, sagte Junghein. »Wir kommen raus.«

»Das würde ich mir genau überlegen«, sagte Probek ruhig.

Es kam jetzt darauf an, dass er selbst die Nerven behielt. Die nächsten Sekunden entschieden über Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens.

»Du hast gut reden! Je länger es dauert . . .«

»Halt einen Augenblick den Mund, und streng deinen Verstand an! Behalte wenigstens kaltes Blut!«

Die Zügel fester ziehen, den anderen nicht aus der Hand lassen, ihm keine Zeit zum Nachdenken geben, selbst keine Schwäche zeigen. Das hatte er bei der Bundeswehr gelernt.

»Ja, ja!«

»Wenn du rauskommst, bekommst du zehn Jahre und anschließend Sicherungsverwahrung. Ist das eine korrekte Lagebeurteilung?«

»Ja, ja«, schepperte Jungheins Stimme aus dem kleinen Lautsprecher.

Probek lächelte. Er hatte sich in Junghein nicht getäuscht. Wenn Junghein erst einmal einen Entschluss gefasst, eine Entscheidung getroffen hatte, würde er dabei bleiben, notfalls bis zu seinem bitteren Ende. Und er würde die anderen überzeugen und bei der Stange halten.

»Wenn wir alle es richtig anstellen«, fuhr Probek mit ruhiger Stimme fort, »kommen wir davon. Und greifen die große Kohle.«

Jetzt, auf dem ersten Höhepunkt der Krise, schaltete Probek auf >wir< um, womit er, psychologisch geschickt, ein Gemeinschaftsgefühl zwischen den Eingeschlossenen und ihm, dem Mann draußen, herstellte. Er, der Mann draußen, verhieß einen Ausweg, ließ auf Rettung hoffen.

»Ich weiß von keiner Geiselnahme, die je gutgegangen wäre«, gab Junghein jedoch zu bedenken. »Alle wurden geschnappt, etliche abgeknallt.«

»Die hatten keinen Mann draußen!«, sagte Probek.

Junghein schwieg. Probeks Argument schien auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Junghein hatte fünf Jahre Knast abgerissen. In Fuhlsbüttel, Santa Fu, dem härtesten Knast Deutschlands. Da griff man zum Strohhalm. Probek war überzeugt, dass er sich in Junghein nicht getäuscht hatte.

Wegen der anderen beiden, Britz und Hilmer, machte er sich keine Gedanken. Hilmer war ein alter Bekannter von Junghein, und Britz hatte er, Probek, aus der Ferne ausgewählt. Ein paar Monate lang hatte er in mehreren Städten an Rhein und Ruhr Gerichtsverhandlungen besucht, bis er den vierschrötigen Jürgen Britz auf der Anklagebank erlebte.

Britz war wegen Körperverletzung angeklagt. Er hatte für einen Immobilienhai aus Gladbeck den Mieteintreiber gespielt. Er hatte Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, alleinstehende Mütter mit Kindern, alte Leute, die mit der Miete im Rückstand waren, eingeschüchtert, bis sie bezahlten, auch wenn sie nicht mehr ein noch aus wussten und anschließend kein Geld mehr für Lebensmittel, Gas oder Strom hatten.

Britz war kein Schläger im üblichen Sinne. Er war ein emotionsloser, phantasiearmer Mann. Wenn er die Autorität eines anderen erst einmal anerkannt hatte, folgte er ihm auch bedingungslos.

Probek hatte es Junghein überlassen, Britz für den Job anzuwerben.

Junghein, Britz und Hilmer waren hartgesottene Kerle, die weder Tod noch Teufel fürchteten. Und die Polizei schon gar nicht.

»Pass jetzt auf«, sagte Probek, »hier draußen geht es noch schwer durcheinander. Sie wissen nicht, was los ist, wie viele ihr seid, wie hart ihr seid. Wir müssen sie täuschen und hinhalten. Wir brauchen etwas Zeit, um einen Plan zu machen.«

Probek grinste zynisch. Der Plan stand bereits in allen Einzelheiten fest. Doch das durfte Junghein nicht einmal ahnen.

»Sie werden gleich anrufen«, fuhr Probek fort. »Sie wollen rauskriegen, wie viele ihr seid, wie hart ihr seid, was sie mit euch machen können . . .«

»Ich hab' das schon mal mitgemacht, ich kenn' die Taktik«, warf Junghein ein. »Zuerst kommt ein Doofer, der keine Ahnung hat und wegen jedem Scheiß rückfragen muss.«

»Lass dich auf nichts ein!«, sagte Probek. »Lass sie schmoren. Und dann verlangst du einen Mann mit Kompetenzen. Lass dir keine Geiseln abschwatzen, verstanden?«

Mit voller Absicht benutzte Probek jetzt das Wort Geiseln. Junghein, Britz und Hilmer hatten Geiseln genommen. Je eher diese Tatsache in ihren Hirnen verankert wurde, desto besser.

»Bringt drei Geiseln in die Schalterhalle«, fuhr Probek fort. »Und zwar Ehser, Otten und die Kaymer. Es ist immer gut, wenn eine Frau dabei ist. Die anderen sperrt ihr in den Frühstücksraum im Zwischengeschoss. Der hat keine Fenster, aber es gibt dort einen Getränkeautomaten und eine Toilette. Sie können euch also nicht damit nerven, dass dauernd jemand pinkeln muss. Wer bei ihnen bleibt, musst du entscheiden.«

»Du kennst dich aus«, stellte Junghein fest.

»Deshalb haben wir auch eine Chance, mein Freund«, gab Probek zurück. »Melde dich, wenn du wieder oben bist.«

Probek schaltete das Handfunkgerät ab, um den Funkverkehr zwischen der Leitstelle der Polizei und den Einheiten, die zum Herzogplatz beordert worden waren, genauer verfolgen zu können.

Eben rumpelte eine neutrale Limousine über die Bordsteinkante, rangierte zwischen zwei Blumenkübeln her und kam im Fußgängerbereich, hinter einem Betonbau, in dem ein Zeitschriftenkiosk, zwei Telefonkabinen und öffentliche Toiletten untergebracht waren, zum Stehen. Ihr entstiegen ein Zivilist, vermutlich ein Kriminalbeamter, und ein uniformierter Polizist, an den zwei silbernen Sternen auf den Schulterstücken als Polizeihauptkommissar zu erkennen.

Der Hauptkommissar hielt ein Megaphon in der Hand, mit dem er sich am Heck der Limousine aufbaute. Von dort aus lag die Vorderfront der Bank in seinem Blickfeld.

Seine Stimme dröhnte aus dem zu hoch eingestellten Gerät und prallte gegen die spiegelnde Fassade. Die wartenden Kunden waren von den zuerst eingetroffenen Polizisten längst in die Nebenstraßen abgedrängt worden.

»Hier spricht die Polizei! Das Gebäude ist umstellt! Kommen Sie einzeln heraus! Ich wiederhole! Hier spricht die Polizei! Kommen Sie heraus!«

Probek lächelte, als er die Schupos sah, die an den Ecken des Betonbaues und hinter ihren Streifenwagen hockten, die Hände an den Griffen ihrer Pistolen.

»Sie haben drei Minuten Zeit!«, schloss der Polizeikommissar. Er ließ das Megaphon sinken und sah unverwandt auf die Vorderfront der Bank.

Die Bewegungen auf dem Platz schienen zu ersterben wie in einem Film, der angehalten wird. Der dicke Bäcker und seine Verkäuferin standen im Eingang des Cafés. Einige Passanten, die von den Polizisten übersehen worden waren, hielten sich nah an schützenden Hauseingängen.

In den Fenstern der Häuser, die den Platz umgaben, schwebten Gesichter von Frauen, die auf den Platz hinuntersahen.

Probek hob das Fernglas an die Augen. Der Zivilist war ein gedrungener Mann. Seine breiten Schultern spannten das schlecht sitzende Jackett. Er redete unterdrückt auf den Polizeioffizier ein, der sich jedoch nicht rührte, während die Sekunden des ersten Ultimatums verstrichen. Probek konnte jede Falte im geröteten Nacken des Uniformierten erkennen.

Es knackte im Walkie-Talkie, dann klirrte Jungheins Stimme aus dem Lautsprecher.

»Wir sind jetzt oben, haben alles in der Hand. Wie sieht es draußen aus?«

»Sie wissen noch nicht, was sie machen sollen«, antwortete Probek.

»Hier geht dauernd das Telefon!«, berichtete Junghein. »Ich lasse den Chef rangehen und die Leute abwimmeln. Geht das in Ordnung?«

»Genau richtig«, lobte Probek. »Wenn die Bullen anrufen, soll er das Gespräch sofort weitergeben. Auf keinen Fall darf er ihnen irgendetwas sagen. Ist das klar?«

»Bin nicht dämlich«, knurrte Junghein. »Ende.«

Der Polizeikommissar hielt das Megaphon wieder an den Mund.

»Die Zeit ist um!« Er zögerte noch einen Augenblick, dann übergab er das Megaphon dem Zivilisten. Er betrat eine Telefonzelle.

Probek beobachtete ihn durch das Fernglas. Die Äste eines Rotdorns nahmen ihm die Sicht auf den Kopf des Beamten, doch er konnte die Hände sehen, die im Telefonbuch blätterten, dann umständlich nach Kleingeld suchten und schließlich die Wählscheibe betätigten.

Probek war fast ein wenig enttäuscht. So wenig profihaft, so entsetzlich provinziell. Es würde vielleicht länger dauern, als er gedacht hatte, doch das würde keine Rolle spielen. Er stand nicht mehr unter Zeitdruck.

»Es ist soweit«, sagte Probek ins Walkie-Talkie. »Er ruft an. Ein Polizeikommissar. Er hat keinerlei Entscheidungsbefugnisse . . .«

»Kannst du das etwa auch erkennen?«, schepperte Jungheins Stimme aus dem Gerät.

»Und ob, mein Freund«, sagte Probek. »Pass jetzt auf!«

Ehser reichte dem vermummten Gangster den Hörer und stieß seinen Sessel zurück.

»Ja?«, sagte Junghein.

»Ich bin Polizeihauptkommissar Rücker. Wer sind Sie?«

»Das spielt wohl keine Rolle«, antwortete Junghein, und er brachte es sogar fertig, einen Anflug von Belustigung in seine Stimme zu legen. Er hielt es nicht für nötig, sie zu verstellen. »Wir haben eine Menge Geiseln, Herr Polizist, und wir sind zu allem entschlossen. Lassen Sie einen geräumigen Fluchtwagen vorfahren. Mit einer Million in bar im Kofferraum.«

»Darüber kann ich nicht verhandeln«, sagte Rücker.

»Dann schaffen Sie einen Mann her, der es kann«, sagte Junghein und legte auf.

Probek sah, wie der Polizeibeamte den Hörer auflegte, die Zelle aber nicht sofort verließ. Grübelnd schien er gegen die verschmierte Wand zu starren. Als er sich endlich umdrehte und die Kabine verließ, sah Probek zum ersten Mal deutlich sein Gesicht. Es war gerötet wie der Hals, die Wangen hingen schlaff herab, die Augen zuckten unsicher.

Der Zivilist redete auf ihn ein. Der Uniformierte runzelte unwillig die Stirn, dann winkte er zwei anderen uniformierten Polizisten zu, die im Laufschritt herankamen.

Das Walkie-Talkie meldete sich. »Er heißt Rücker und hat keinerlei Vollmachten«, berichtete Junghein. »Ich habe ihn abfahren lassen. Was macht er jetzt?«

»Er palavert mit seinen Leuten«, antwortete Probek. »Du scheinst ihn nicht überzeugt zu haben.«

»Wollen sie reinkommen?«

Probek sah durchs Glas. Der Polizeikommissar nickte entschlossen. Sein Gesicht schien sich gestrafft zu haben und zeigte einen entschlossenen Ausdruck.

»Jagt ein paar Schüsse in die Decke«, befahl Probek. »Das wird sie davon überzeugen, dass sie es nicht mit ein paar bekifften Idioten zu tun haben. Lass dein Gerät solange auf Senden.«

Probek konnte hören, wie Junghein dem zweiten Mann, der mit in die Schalterhalle gekommen war, etwas zurief. Wahrscheinlich hatte er Britz mit hinaufgenommen, weil er den nicht gut genug kannte und lieber unter Kontrolle halten wollte.

Durch das geschlossene Fenster des Hotelzimmers hätte Probek die Schüsse nicht gehört. Aus dem kleinen Lautsprecher des Walkie-Talkie klang das dünne, trockene Krachen.

Nicht sehr beeindruckend, doch die Wirkung unten auf dem Platz war frappierend.

Zuschauer zuckten zurück, Polizisten zogen die Köpfe ein, Rücker brüllte Befehle und schwenkte die Arme, bevor er dem Zivilisten das Megaphon entriss und mit ausgreifenden Schritten zur Limousine zurückging. Sein Gesicht erschlaffte wieder, die Haut schien rot zu glühen. Der Zivilist blieb an seiner Seite und redete heftig auf ihn ein.

Rücker blieb an der Seite der Limousine stehen und richtete das Megaphon erneut gegen die schimmernde Fassade der Bank.

»Hier spricht die Polizei!«, schepperte seine Stimme. »Behalten Sie die Ruhe!« Rücker wartete einen Moment, holte tief Luft. »Wenn Sie Hilfe brauchen, schicken Sie jemanden an die Tür! Oder geben Sie ein Zeichen, dann rufe ich Sie wieder an!«

Rücker setzte das Megaphon ab. Er und alle anderen unten auf dem Platz starrten auf die spiegelnden Scheiben.

Die braungelben Vorhänge vor den Fenstern und der Tür bewegten sich nicht.

Schließlich schleuderte der Polizeikommissar das Megaphon auf die Rückbank der Limousine und setzte sich hinein. Die Tür ließ er geöffnet. Er holte einen Telefonhörer aus dem Handschuhfach.

»Er hat's gerafft«, sagte Probek ins Walkie-Talkie.

Der Zivilist blieb neben der offenen Wagentür stehen. Probek hielt unwillkürlich den Atem an, als die stumpfen, gefühllosen Augen ihn anzusehen schienen, ehe sie weiterwanderten. Der Mann hatte ein volles Gesicht mit einem nichtssagenden Ausdruck darin.

Probek setzte das Glas ab. Er drehte am Kanalwähler des Multibandempfängers, konnte das Gespräch des Polizeikommissars jedoch nicht auffangen. Wahrscheinlich lief es über eine Postfrequenz.

Der Kommissar sprach etwa eine Minute lang, ehe er den Hörer wieder im Handschuhkasten verstaute.

Probek wartete. Nach einer weiteren Minute kam eine Durchsage über die Normalfrequenz der Polizei.

»Erna eins an alle Einheiten im Bereich Herzogplatz. K-Gruppe S übernimmt Einsatzleitung. Folgende Einheiten schalten auf Kanal vier: Erna 7/2, 4/4, 3/2 . . .«

Probek lächelte zufrieden, als er die angegebene Frequenz auf dem Scanner suchte. Noch blieb der Lautsprecher stumm. Doch nicht mehr lange, dann würde der gesamte Funkverkehr aller an diesem Einsatz beteiligten Einheiten über diesen Kanal laufen. Mit Aufgabenverteilung und Einsatzbefehlen, mit Codebezeichnungen und Rückfragen.

Probek hob erneut das Walkie-Talkie. »Wie sieht es bei euch aus?«, fragte er.

»Bestens«, antwortete Junghein. »Wir haben's hier richtig gemütlich. Und reichlich Platz. Wenn's uns langweilig wird, lasse ich Tennisschläger bringen.«

Im hellen, weichen Zwielicht der Schalterhalle verloren sich die beiden Gangster und ihre drei Geiseln beinahe. Es war sehr still, nachdem das durchdringende Summen des Telefons auf dem Schreibtisch eines Kundenberaters endlich abriss, weil niemand an den Apparat ging. Junghein hatte verboten, ein Gespräch ohne seine ausdrückliche Aufforderung anzunehmen.

»Sind eigentlich alle da?«, fragte Ehser leise.

Er hatte nicht daran gedacht, die Leute zu zählen, als die Gangster ihn zu den anderen im Tresorraum geführt hatten; und als er jetzt versuchte, sich ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen, konnte er sie nicht unterscheiden.

»Ich glaube, ja«, antwortete Otten leise, wobei er einen schnellen Blick auf den Gangster warf, der das Kommando zu führen schien.

Der vermummte Junghein saß an einem der Tische hinter dem langen Schaltertresen, von wo aus er die Vorderseite, die Tische an der hinteren Schmalseite und den Abgang zum Tresorraum und den anderen Räumen, die zur Filiale gehörten, im Auge behalten konnte. Er hielt das Walkie-Talkie gegen die Stelle seiner herabgezogenen Mütze gepresst, unter der sich sein Ohr abzeichnete. Die Pistole lag griffbereit vor ihm auf der Tischplatte, seine glitzernden Augen waren auf Ehser gerichtet.

Ehser wich dem Blick aus. Er saß zusammen mit Otten und Gudrun Kaymer am Schreibtisch von Rolf Genreith. Einer der Gangster hatte die Stellwand, die den Arbeitsplatz des stellvertretenden Filialleiters gegen die übrige Halle notdürftig abtrennte, mit einem Fußtritt aus dem Weg geschoben. Hinter ihnen lag die Treppe zu den unteren Räumen.

Ehser musterte Otten und Kaymer. Manfred Otten war 36 oder 37 Jahre alt, ein ernsthafter, sehr fähiger und gründlicher Mann, der eigentlich schon längst zum zweiten Mann in einer anderen Filiale aufgestiegen sein sollte. Doch weil er Otten in seiner Filiale behalten wollte, hatte er sich in seinen Beurteilungen über ihn immer sehr zurückhaltend ausgedrückt. Genreiths Stärke war die Anlageberatung, er kümmerte sich zu wenig um das Kreditgeschäft, das wiederum Ottens Domäne war. Ehser glaubte, Otten nicht entbehren zu können.

Gudrun Kaymer machte ihm jetzt Sorgen. Sie rang nervös die Hände und ließ die Gangster keinen Moment aus den Augen. Ihre blauen Augen waren geweitet. Unter der hellen Haut an ihrer Schläfe tickte blau eine Ader.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Ehser.

Gudrun wandte den Kopf und sah ihn erschrocken an. »Wie? Was sagten Sie?« Ihre Lippen waren blass.

»Ich fragte, geht es Ihnen nicht gut?« Ehser bemerkte den scharfen Blick des Gangsters mit dem Walkie-Talkie. Der andere stand vorne und spähte durch einen winzigen Spalt in den Vorhängen vor der Tür und den Fenstern, die zur Platzseite hinausgingen. Sein großer Kopf wirkte unter der Mütze unförmig wie ein zu stark aufgeblasener Ballon.

»Oh, alles in Ordnung«, versicherte sie hastig und versuchte zu lächeln. »Wann kommen wir hier raus? Was glauben Sie, Herr Ehser?«

Ehser hob die Schultern. »Nicht so bald«, meinte er.

Als der Polizeibeamte anrief, hatte der Gangster einen Fluchtwagen und eine Million in bar verlangt. Ehser wusste nicht, wie der Beamte auf die Forderung reagiert hatte, aber er wusste, dass die Hauptstelle nicht ohne weiteres eine Million oder welche Summe auch immer herausrücken würde. Nichts würde sie tun ohne Zusammenarbeit mit der Polizei.

Es gab da Strategiepläne, die gemeinsam von Experten des Bundeskriminalamtes und des Bundesverbandes der Deutschen Banken für Fälle wie diesen ausgearbeitet worden waren. Die oberste Devise bei diesen Plänen zu allen vorstellbaren Situationen lautete: Zeit gewinnen. Die Geiselnehmer unter jedem Vorwand hinhalten, sie dadurch ermüden, zermürben.

Ehser sah zu dem Gangster am Tresen hinüber. Das Funkgerät knackte, und er hielt es wieder an sein Ohr.

Die Gangster in der Bank wurden von einem Mann gesteuert, der draußen saß. Der Mann hatte sich vermutlich etwas Besonderes einfallen lassen.

Herbert Ehser kämpfte seine eigene Angst nieder. Bei nüchterner Betrachtung glaubte er nicht an ein schnelles Ende dieser Geiselnahme. Er fragte sich, wie die Gangster ihrer Forderung nach freiem Abzug und einer hohen Geldsumme Nachdruck zu verleihen gedachten. Er ahnte, dass die Nervenbelastung für ihn und die anderen Eingeschlossenen jedes erträgliche Maß übersteigen würde.

Er beugte sich zu Otten und Gudrun hinüber. »Wir müssen die Polizei unterstützen, falls sie in das Gebäude eindringen will, um uns zu befreien«, flüsterte er.

Ottens Augen funkelten interessiert. Gudrun Kaymer leckte sich über die Lippen.

»Es gibt nur die Vordertür oder die Seitentür«, meinte Otten. »Die haben die Kerle unter Kontrolle.«

»Sie vergessen den Anbau!«, sagte Ehser mit gesenkter Stimme, die vor Anspannung heiser klang. Ihm entging nicht, wie der Gangster mit dem Funkgerät den Kopf hob und argwöhnisch herüberspähte.

»Der hat weder Fenster noch Türen«, gab Otten zu bedenken.

Natürlich sollte der Anbau, der einige Meter tief in den Hof ragte, Einbrechern kein leichtes Einsteigen in die Räume der Bank ermöglichen. Vor einigen Jahren hatte die Berufsgenossenschaft die Geschäftsleitung der Spar- und Kreditbank vor die Alternative gestellt, die Sozialräume für die insgesamt fünfzehn Mitarbeiter der Filiale entweder ins Erdgeschoss zu verlegen oder sie mit Tageslicht zu versorgen.

Da die Räume im Erdgeschoss dringend für die geschäftlichen Belange benötigt wurden, hatte die Hauptabteilung den Anbau errichten lassen, der eigentlich nur einen Lichtschacht im Zwischengeschoss darstellte.

»Das Dachoberlicht«, flüsterte Ehser.

Es bestand aus Panzerglas in einem einbruchsicheren Rahmen, der in das Flachdach eingelassen war. Mittels einer elektrischen Fernsteuerung konnte die Glaskuppel auf Lüftung gestellt werden.

»Der Schalter ist auf der Toilette«, wisperte Ehser. Er sah Otten auffordernd an.

»Auf der Damentoilette«, sagte Otten leise.

Ehser biss sich auf die Lippen. Daran hatte er nicht gedacht.

Gudrun Kaymer schüttelte den Kopf, als sie die Blicke der beiden Männer auf sich gerichtet sah.

»Nein, nein!«, hauchte sie. »Das kann ich nicht . . . Die bringen mich um!«

»Reden Sie kein dummes Zeug!«, sagte Otten scharf.

Ehser wischte sich über die schweißfeuchte Stirn und öffnete dann den obersten Hemdknopf. Er hätte die Kaymer eigentlich zurechtweisen müssen, aber er war dankbar, dass Otten ihm das abnahm.

»Sie brauchen nur auf den Knopf zu drücken«, flüsterte Otten. »Der Schalter befindet sich im Waschraum, gleich neben der Tür zur Toilette!«

Gudruns Mund zuckte. Erschreckt fuhr sie zusammen, als plötzlich der Gangster mit dem Funkgerät neben ihr auftauchte.

»Auseinander!«, herrschte er die drei am Tisch an. Er stieß Otten die Pistole in die Seite.

Otten stand auf und ging rückwärts zum Nachbartisch.

Dabei starrte er Gudrun durchdringend an.

»Ich ... ich . . . muss zur Toilette«, sagte sie. Sie schluckte laut. »Ich glaube, mir wird schlecht!«

Junghein winkte, als der vierschrötige Britz den Kopf wandte. »Bring die junge Dame hier zum Topf!«, befahl er.

Britz gab seinen Beobachtungsposten am Vorhang auf. Er stapfte hinter Gudrun her, die mit unsicheren Schritten zur Treppe ging.

Wieder wurde es sehr still in der Schalterhalle. Ehsers Blick fiel auf die Uhr hinter dem Depositenschalter. Die Zeiger standen auf 8 Uhr 49. Mein Gott, dachte er, waren erst zwanzig Minuten vergangen, seit er die Bank betreten hatte und von dem Gangster mit der Pistole empfangen worden war?

Ehser zuckte heftig zusammen, als er unten im Flur einen Schrei hörte, dem das wütende Knurren des vierschrötigen Gangsters folgte.

Junghein wich einen Schritt zurück, bis er mit dem Gesäß an den Schaltertisch stieß. Er sah zur Treppe, auf der eben Gudrun Kaymer erschien, dicht gefolgt von Britz, der sie mit groben Stößen seiner massigen Faust vor sich her trieb. Gudruns hübsches Gesicht war vor Angst verzerrt. Sie blutete aus einem Mundwinkel.

Ehser kam Otten zuvor, der bereits aufgesprungen war und Gudrun zu Hilfe kommen wollte. Ehser legte dem Mädchen einen Arm um die zitternden Schultern und führte sie zu einem Stuhl.

»Sie wollte an irgendeinem Schalter rumfummeln«, berichtete Britz. »Ich hab' ihr eins verpasst. Und die Damentoilette abgeschlossen.«

Junghein richtete seine Pistole drohend auf Ehser. Er wollte etwas sagen, aber das Funkgerät in seiner linken Hand knackte. Rasch hob er es an die Lippen.

»Einen Augenblick«, sagte er. »Ich habe hier ein kleines Problem.«

Er baute sich vor Gudrun Kaymer auf, sah aber die beiden Männer abwechselnd an.

»Wer von euch hat da etwas ausgeheckt?«, fragte er.

Ehser und Otten wichen den Augen des Gangsters aus.

Deshalb sahen sie die schnelle Bewegung nicht, mit der Junghein die Pistole unter seinen linken Arm klemmte und Gudrun die flache Hand ins Gesicht schlug.

Ihr Kopf flog zur Seite, und Blut floss aus der weiter gewordenen Risswunde im Mundwinkel. Wimmernd ließ sie den Kopf sinken.

Junghein nahm die Pistole wieder in die Hand. Seine Augen funkelten drohend hinter den Augenlöchern der Maske. »Damit ihr seht, dass wir keine Hampelmänner sind«, sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme. »Beim nächsten Mal fängt sich einer ein Loch, meine Herren!«

Junghein schob sich wieder hinter den Tresen. Britz kehrte zu seinem Beobachtungsposten am Vorhang zurück.

»Warum müssen Sie sich auch so dämlich anstellen!«, zischte Otten Gudrun zu, deren Schultern heftig zuckten.

»Was war los?«, fragte Probek, als Junghein sich wieder meldete.

»Die Helden haben eine Frau in die Schlacht geschickt«, berichtete Junghein.

»Und?«, fragte Probek ungeduldig.

»Sie wollte ein Oberlicht auf dem Anbau entriegeln. Es ist weiter nichts passiert. Außer, dass ihr hübsches Gesichtchen ein paar Kratzer abbekommen hat.«

Probek atmete langsam durch. Junghein schien die erste Krise bewältigt zu haben.

»Lass es zu einer solchen Situation gar nicht erst kommen«, mahnte er.

»Wir passen auf«, antwortete Junghein neutral.

Unten auf dem Platz bewegte sich nichts. Aber der einsetzende Funkverkehr auf der Sonderfrequenz verriet zunehmende Aktivität.

Bald würden die Beamten vom Sondereinsatzkommando den Schauplatz erreichen.

»Wir haben jetzt ein paar Minuten Leerlauf«, sagte Probek. »Die wollen wir sinnvoll nutzen.«

»Von mir aus«, bestätigte der Hamburger mit unerschütterlicher Gelassenheit.

»Wir werden uns jetzt einen Schlachtplan zurechtlegen«, fuhr Probek fort. »Du musst alle Verhandlungen führen . . .«

»Das ist mir schon klar«, unterbrach ihn Junghein.

»Sie werden dir einen ausgebufften Halunken vorsetzen«, warnte Probek.

»Ich kann stur wie ein toter Elefant sein«, sagte Junghein. »Da nützt die ganze Psychologie nichts.«

»Bevor wir in die Einzelheiten gehen, soll Ehser seine Leute anrufen«, sagte Probek. »In der Hauptstelle werden sie inzwischen wissen, dass etwas läuft. Ehser soll zwei Millionen bereitstellen lassen.«

»Zwei Millionen«, wiederholte Junghein andächtig.

»Die haben die im kleinen Safe«, flachste Probek. »Die Hälfte in gebrauchten Fünfhundertern, der Rest in Hundertern. Davon mindestens die Hälfte in alten Scheinen.«

»Ich hab' dem Telefonierer von der Polizei eben schon gesagt, dass wir eine Million haben wollen. So aus Jux, verstehst du?«

»Von jetzt an keine Eigenmächtigkeiten mehr, verstanden?«

»Na klar doch«, bestätigte Junghein. »Zwei Millionen gefallen mir ja auch viel besser als eine.«

»Pass genau auf, dass Ehser kein Wort zuviel sagt!«, mahnte Probek. »Melde dich wieder, wenn er telefoniert hat.«

Probek griff zum Telefon, um Jutta anzurufen.

»Endlich!«, stieß sie hervor. »Wie läuft es?«

»Genau nach Plan.«

»Es ist schon fünf vor neun!«

»Hier hat es niemand eilig. Geh jetzt einkaufen. Lass dir Zeit. Wenn du nicht zu Hause bist, bist du eben nicht zu Hause. Verhalte dich absolut normal!«

Sieben Krimis auf einen Streich: Kriminalroman-Paket

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