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Der Weihnachtsbaum war noch immer nicht geschmückt. Aber bis jetzt hatte niemand dazu Zeit gehabt. Thomas saß neben dem Bett, das gar nicht weit von diesem Weihnachtsbaum stand, und in Reichweite von diesem Bett befand sich auch die Wiege. Die Wiege mit dem schlummernden Kind. Vorhin hatte Thomas zum ersten Mal das Kind angelegt. Aber er, der erfahrene Arzt, der seine Operation unter solchen ungünstigen Voraussetzungen erfolgreich durchgeführt hatte, erwies sich beim Anlegen des Kindes sehr ungeschickt. Und noch etwas kam hinzu. Auf einmal empfand Isolde so etwas wie Scham, Thomas die entblößte Brust zu zeigen. Das kam ihr selber verrückt vor. Er hatte sie operiert, aber sie durfte gar nicht daran denken, dass er es gewesen war.

Doch nun zeigte sich, dass die Frau Kreweling ein unbezahlbarer Schatz war, die in diesen Augenblicken mehr helfen konnte, als irgendjemand anderer hier auf dem Gut.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der kleine Thomas, wie ihn Isolde nannte, getrunken. Thomas sollte er heißen. Das war etwas, über das Thomas, der große Thomas, nicht hinwegkam. Warum nannte sie ihr Kind so? Auf der einen Seite glaubte sie nicht, dass er dieses Kind lieben könnte, auf der anderen hatte sie diesem Kind seinen Namen gegeben.

Die Frau Kreweling in ihrer praktischen Art hatte schon dafür gesorgt, dass es nicht zu Verwechslungen kommen konnte. Sie nannte den Kleinen kurzerhand Tommi.

Und jetzt lag dieser kleine Tommi in seiner Wiege. Er schlief. Die kleinen, winzigen Händchen hatte er oben vor seinem Gesicht zu niedlichen kleinen Fäusten geballt.

Isolde war wach. Sie wirkte immer noch müde. Aber sie hatte die Augen geöffnet, als Thomas neben ihr saß. Und sie sah ihn an, ein wenig traurig und doch wieder glücklich darüber, dass er hier bei ihr war. Oder war sie nur glücklich, alles überstanden zu haben? Thomas konnte sich auf ihre Empfindungen keinen Reim machen.

„Ich mache mir Sorgen um Friedhelm und Frans“, sagte Isolde leise. „Die sind immer noch nicht da.“

„Aber die werden gleich kommen. Jeden Moment müssen sie da sein“, entgegnete Thomas leichthin, aber in Wirklichkeit machte er sich auch Sorgen. Er wusste, dass Marion vorne im Büro, wo man den ganzen Platz sehen konnte, sich die Nase an der Scheibe platt drückte. Sie wartete voller Sehnsucht auf den Mann, den sie liebte, und auf ihren Bruder, mit dem sie sich immer gut verstanden hatte.

„Ich bin glücklich, glücklich, dass alles gutgegangen ist. Und das verdanken wir dir. Tommi und ich verdanken es dir“, sagte Isolde noch einmal.

Thomas saß wie aus Stein gehauen. Er regte sich nicht. Er starrte sie nur an, saugte jedes ihrer Worte förmlich in sich auf, aber er zeigte keine Reaktion.

Diese Haltung von ihm machte sie unsicher. Sie blickte ein wenig zweifelnd auf ihn und sagte: „Freust du dich nicht?“

„Doch, ich freue mich“, behauptete er, aber sein Gesicht blieb so starr wie eben noch. Es klang merkwürdig, diese Worte aus seinem Mund so zu hören, und er fuhr fort: „Ich freue mich, wenn es dir gut geht, dir und dem Kind.“

„Nur das? Sagst du sonst nichts?“, fragte sie, fast ein wenig ängstlich.

Er hatte Furcht, das zu sagen, was er gerne sagen wollte. Er hatte auch Angst, dass sie ihm wieder dieselbe Antwort gab wie immer. Und es wäre unfair, dachte er. Unfair, weil sie mir aus Dankbarkeit womöglich eine andere Antwort gibt, nur, um mir zu zeigen, wie froh sie ist, dass ich das Kind retten konnte. Denn sie weiß ja, dass bei einer normalen Geburt das Kind tot gewesen wäre. Sie weiß es und wird mit ihre Dankbarkeit zeigen wollen, wenn ich ihr jetzt diese Frage stelle, die mir auf der Zunge liegt, wenn ich sie bitten werde, meine Frau zu werden, dann wird sie womöglich deshalb ja sagen. Ich glaube nicht, dass Marion recht hat, wenn sie sagt, dass Isolde mich liebt. Ich glaube es nicht. Vielleicht hat sie auch Winfried nicht geliebt. Vielleicht bin ich für sie ein Freund, ein Mensch, den sie mag, aber nicht jemand, dem sie ihre Liebe geben würde.

„Sag doch etwas!“, bat sie.

„Was soll ich sagen? Ich bin froh, dass es dir gut geht, und ich hoffe, dass es dir bald noch viel besser geht. Das ist alles.“

„Wirklich alles?“, fragte sie zögernd.

Er antwortete nicht sofort. Er sah sie verlangend und verständnisheischend an, und sie hoffte, dass er jetzt etwas sagen würde, worauf sie so sehr wartete; wartete, seit ihr klar geworden war, welches Opfer er ihr gebracht hatte.

Aber er sagte dazu nichts. Stattdessen stand er auf, trat neben das Bett, beugte sich zu ihr herab und strich ihr sanft übers Haar. Sie hoffte, sein Gesicht werde näher kommen. Sie streckte ihre rechte Hand nach ihm aus, aber er nahm sie und legte sie auf die Brust zurück und sagte leise:

„Du musst schlafen. Du brauchst Ruhe. Es ist noch zu früh für alles. Weißt du was? Ich werde den Baum putzen. Du kannst mir dabei zuschauen. Ich habe das noch nie gemacht, aber ich werde es jetzt einmal tun. Es wird Zeit“, fügte er lächelnd hinzu, „dass ich endlich einmal damit anfange. Bis jetzt habe ich mich immer darum gedrückt. Da drüben liegen das Lametta und die Kerzen, und ich werde jetzt damit anfangen, und du siehst mir zu, und wenn du müde bist, dann schläfst du ein. Wir wollen möglichst nicht reden. Du brauchst unheimlich viel Ruhe.“

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Das ist eine Ausrede.“

Er sah sie überrascht an. „Eine Ausrede? Wieso?“

„Du hast dich bis heute davor gedrückt, einen Christbaum zu schmücken. Und jetzt willst du dich davor drücken, mir das zu sagen, was du mir sagen willst. Sag es doch! Sag es ehrlich! Oder ...“ Mit einem Male meinte sie, ihr sei die Erkenntnis gekommen, wie es wirklich um Thomas bestellt war. Vielleicht, dachte sie jetzt, will er mich gar nicht, jetzt, wo ich das Kind habe. Er hat mir geholfen als Freund, weil er wusste, wie sehr ich das Kind wollte. Er hat mir geholfen; er wird mir immer weiterhelfen. Aber er will mich nicht. Er will mich nicht, weil ich das Kind habe. Und jetzt, wo es da ist, ist es Thomas mit einem Male klar geworden. Er wird nie etwas sagen, nicht das, was ich erwarte. Er wird es nicht sagen, weil der kleine Tommi zwischen uns steht. Anfangs habe ich gedacht, er könnte das Kind nicht lieben. Und dann ist dieses Kind durch seine Hilfe geboren worden. Ohne ihn wäre es tot. Er wird dieses Kind lieben, habe ich mir gedacht. Natürlich wird er es lieben. Es wäre ganz einfach für ihn gewesen und nichts hätte zwischen uns gestanden.

Und nun ist es anders. Ich habe mir das alles nicht richtig überlegt. Er vielleicht mag auch nicht daran gedacht haben. Aber nun ist der kleine Tommi da. Jetzt gibt es keinen Weg mehr zueinander; nicht von mir zu ihm und nicht von ihm zu mir. Es ist nicht sein Kind, es ist Winfrieds Kind, und immer wird er daran denken, wenn er den Kleinen sieht. Vielleicht weiß er es, vielleicht ist deshalb alles vorbei.

Er ahnte nichts von ihren Gedanken. Er sah sie nur an, schüttelte den Kopf auf ihre Bemerkung hin und meinte: „Was du so denkst! Die Narkose wirkt immer noch nach und das Beruhigungsmittel ebenfalls. Ich musste es dir aber geben. Und jetzt solltest du schlafen, wirklich schlafen. Du hast den Schlaf bitter nötig.“

„Ich hab vorhin lange genug geschlafen.“

„Das war kein Schlaf. Das war eine Betäubung. Was du jetzt brauchst, ist Schlaf, richtigen tiefen guten Schlaf. Vielleicht ist es doch nicht richtig gewesen, das Bett hierherzustellen.“

„Du gehst um den heißen Brei herum. Sag doch endlich, dass du mich nicht liebst, weil das Kind da ist. Warum sagst du mir die Wahrheit nicht? Und ich habe gedacht, dass alles ganz anders geworden ist zwischen uns, seit das Kind da ist. Das alles ...“

Da hörten sie beide draußen einen Motor näher kommen. Das Geräusch wurde lauter und lauter, starb aber jäh unmittelbar vor dem Haus ab. Ein Geräusch, dass sie beide kannten.

Isolde fuhr nicht fort, ihm zu sagen, was sie empfand. Sie stieß nur hervor: „Sie sind da!“

Thomas nickte. Er wollte auf das eingehen, was sie eben noch gesagt hatte, bevor sie beide den Jeep hören konnten, aber da wurde die Tür aufgestoßen, und Marion schrie: „Sie sind gekommen! Sie sind gekommen!“

„Später. Wir reden später weiter“, erklärte Thomas und blickte Isolde eindringlich an. „Hast du gehört, Isolde, wir reden später weiter. Nichts von dem, was du da sagst, ist richtig. Nichts.“ Dann ging er hinaus.

Und es ist doch richtig, dachte Isolde. Natürlich ist es richtig. Du willst mir jetzt nicht wehtun. Damals, als ich auf meinen Vater gehört habe, um Winfried zu heiraten, da wollte ich dir auch nicht wehtun, habe von Freundschaft gesprochen, von Kameradschaft. Und ich hatte geglaubt, ich ginge den richtigen Weg. Es ist der falsche gewesen. Und jetzt läuft auch wieder alles ganz anders, als ich es erhofft hatte ...

Friedhelm und Frans kamen herein. Sie hatten sich gerade aus den Mänteln herausgeschält, rieben sich die klammen Hände und trugen noch ihre Stiefel. Sie kamen herein wie die Weihnachtsmänner.

„Hallo, Schwesterlein!“, rief Friedhelm.

Frau Kreweling schoss wie ein Kastenteufel an Friedhelm vorbei, baute sich vor ihm auf, hielt den Finger an den Mund und zischte: „Willst du wohl leise sein, du dummer Kerl? Das Kleine schläft doch.“

„Aber gewiss, Frau Kreweling“, sagte Friedhelm erschrocken. „An den Kleinen hab ich überhaupt nicht gedacht. Ist er denn hier?“

„Du fällst bald darüber. Da drüben in der Wiege, in derselben, in der du auch mal gelegen hast.“

Auf Zehenspitzen tappte Friedhelm zur Wiege hin, gefolgt von Frans. In diesem Augenblick kamen sie Isolde wie Max und Moritz vor, und sie hätte am liebsten laut gelacht. Wie zwei Verschwörer blickten sich die Männer an, beugten sich über den kleinen schlafenden Tommi, und Frau Kreweling meinte: „So leise braucht ihr nun auch wieder nicht zu machen. Aber dass ihr wie eine Elefantenherde hereinstürzt, das ist nun wirklich nicht nötig.“

„Machen wir auch nie wieder, Frau Kreweling“, versprach Frans, sah Isolde an und meinte: „Der wird ja noch besser, nicht? Also, so richtig glatt ist das Gesicht noch nicht. Aber sonst, ganz hübsch.“

„Neugeborene sehen nun einmal so aus“, meinte Frau Kreweling. „Hast du gedacht, der kommt wie eine Käthe-Kruse-Puppe zur Welt?“

„Na ja, eigentlich hab ich noch nie ein so kleines Kind gesehen.“

„Da kann man sehen, was du für Bildungslücken hast“, meinte Frans spottend. „Aber er sieht schwer in Ordnung aus. Kräftig vor allen Dingen. Hat er schon was zu trinken bekommen?“

„Ja, vorhin“, sagte Isolde. „Aber es war nicht sehr viel. Wir können das noch nicht so richtig.“

„Ach, können“, meinte Frau Kreweling. „Das geht doch nicht von heut auf morgen. Die meisten Frauen, und noch schlimmer die Säuglingsschwestern, haben keine Geduld. Man muss Geduld haben. So richtig kommt die Milch sowieso nicht beim ersten Mal. Am zweiten Tag geht alles viel, viel besser und am dritten Tag noch besser. Macht euch nicht verrückt damit. Das ist ja der Jammer. Viele Frauen machen sich verrückt, und dann sagen die Schwestern im Krankenhaus: 'Jetzt stillen wir ab. Jetzt gibt’s nur noch die Flasche.' Und das ist ja dieser Blödsinn. Die Künder, die ich angelegt habe, sind alle gestillt worden. Manche viele Monate lang. Und jetzt, ihr Männer, macht ihr, dass ihr wieder rauskommt! Geht ins Esszimmer nach nebenan und macht die Tür zu.“

„Das ist doch die Höhe! Du kannst uns doch nicht schon wieder rausschmeißen, Frau Kreweling?“

Frau Kreweling konnte. Und sie gehorchten ihr, als wären sie noch die kleinen Jungs von früher. Auch Thomas ging mit hinaus. Und nur Marion und Frau Kreweling blieben bei Isolde zurück. Die hätte sich lieber mit Thomas ausgesprochen, aber sie mochte das jetzt nicht sagen. Frau Kreweling hätte es ihr übelnehmen können, und außerdem fühlte sie sich wirklich müde und abgespannt.

„Ich werde den Baum putzen“, erklärte Marion.

„Aber die Kerzen könnt ihr nicht anzünden“, entschied Frau Kreweling. „Die beiden brauchen viel frische Luft hier. Schlimm genug, dass wir jetzt das Fenster noch nicht auf machen können. Weihnachten feiern wir drüben im Esszimmer. Und wenn du munter bist, Isolde, machen wir die Tür auf, und dann kannst du alles sehen. Aber sonst musst du hier deine Ruhe haben. Du sollst unter uns sein, aber nicht in einem Zimmer, wo ein Haufen Menschen atmen und dir die gute Luft wegnehmen.“

Isolde sagte nichts, und Marion lächelte nur verständnisinnig. Frau Kreweling hatte sich nicht geändert. Aber sie musste zugleich daran denken, dass die Familie von Frau Krewelings Sohn auf die geliebte Großmutter wartete. Die Enkel mussten auf sie verzichten.

„Sollen wir dich nicht nach Hause schaffen, Frau Kreweling, mit dem Jeep vielleicht oder mit dem Traktor?“

„Ihr braucht mich hier mehr. Ich werde sie anrufen. Und die müssen es begreifen, und die werden es begreifen. Es sind vernünftige Menschen. Nicht solche Verrückten wie ihr“, fügte sie schmunzelnd hinzu.

„Aber Frau Kreweling!“, rief Marion in gespielter Entrüstung.

„Marion?“, fragte Isolde. „Könnte nicht Thomas noch einmal zu mir kommen?“

Marion sah die Schwester besorgt an. „Was ist mit euch beiden? Seid ihr euch nicht einig?“

„Ich glaube, er mag mich nicht mehr.“

„Das ist großer Unsinn. Er liebt dich. Ich weiß es genau.“

Isolde schüttelte ungläubig den Kopf.

„Aber wenn ich es dir sage.“

Isolde wollte es nicht glauben. Da warf Marion einen Blick auf Frau Kreweling, die sich gerade über die Wiege beugte und das Kleine ansah.

„Frau Kreweling, wolltest du nicht telefonieren?“, fragte Marion.

Frau Kreweling richtete sich auf. „Na ja, muss doch nicht gleich sein.“

„Aber die warten doch. Die machen sich Sorgen. Komm, Frau Kreweling, ich geh mit!“

„Warum? Wollt ihr mich weghaben?“, fragte Frau Kreweling.

„Aber Unsinn. Ich will dir bloß mit dem Telefonieren helfen.“

„Du dummes Gör! Als wenn ich das nicht könnte“, polterte die alte Frau. In diesem Augenblick war Marion eben wieder das Kind, das sie einst auf den Armen gehalten hatte und nicht eine Frau von über dreißig Jahren.

„Also gut, Frau Kreweling, ich will es dir nicht zeigen, ich will dir nur helfen. Vielleicht ist die Verbindung schlecht. Komm!“

„Also, wollt ihr mich doch raus haben. Ach so, und der Thomas soll reingehen, was? So habt ihr euch das ausgerechnet.“

„Du bist wirklich schlau, Frau Kreweling“, meinte Marion anerkennend.

Die alte Frau lachte still vor sich hin.

Wenig später kam Thomas herein. Isolde blickte ihm sehnsüchtig entgegen. Marion hatte Thomas zwei Sätze gesagt und ihn dann hineingeschickt. Nun stand er ein wenig betroffen da. Dann sagte er langsam, wie es seine Art war, wenn er jedes Wort abwog:

„Vielleicht haben wir uns missverstanden. Ich habe immer Angst gehabt, dass du mir nicht glaubst, was ich für dein Kind empfinden würde. Ehrlich gesagt, habe ich es selbst nicht gewusst. Man kann nicht vorhersagen, ich werde einen bestimmten Menschen lieben, nur weil ich es mir vornehme. Genauso wäre es mit diesem Kind. Ich kann mich bemühen, habe ich immer gedacht, ein Kind gern zu haben, auch wenn es nicht mein Kind ist. Aber wie ich dann wirklich empfinde, so etwas lässt sich nicht vorher genau bestimmen.“

„Und wie empfindest du jetzt?“

Er blickte auf das Kind in der Wiege herunter. „Ich finde, dass es ein liebes nettes Kind ist, dass die Hilfe von uns Menschen braucht, um groß zu werden. Ich habe dieses Kind viel früher gesehen als du, logischerweise. Aber da war es für mich nur ein Lebewesen, dessen Leben zu retten oberstes Gebot war. In diesen Augenblicken bedeutete es mir nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Mensch, der sich in Gefahr befindet.“ Er sah den kleinen Tommi an, der noch immer fest zu schlafen schien. Die kleinen Fäuste bewegten sich allmählich; die Nasenflügel ebenfalls. Der Atem ging gleichmäßig. „Er ist ein netter Bursche. Irgendwie meine ich in ihm Züge zu entdecken, die ich von dir kenne. Aber das ist Unsinn. Er wird sich noch zwanzigmal verändern, bis er groß ist. Jetzt jedenfalls sieht es so aus.“

„Und wenn er Züge hat, die dich an Winfried erinnern?“, fragte sie verzagt.

„So genau kenne ich Winfried nicht. Ich habe vieles vergessen, was mit ihm zusammenhängt.“

„Du hast nichts vergessen“, widersprach sie. „Gar nichts.“

„Es ist unfair von mir. Sieh mal, wenn ich dir jetzt sage, dass ich dich sehr liebe, und wenn ich dir sage, dass ich möchte, dass du meine Frau wirst, dann wirst du denken: Er hat mich operiert. Er hat mein Kind am Leben erhalten. Dafür will ich dankbar sein. Und dann wirst du aus dieser Dankbarkeit heraus etwas sagen, was dir gar nicht aus dem Herzen kommt. Und davor habe ich Angst. Das ist der Grund. Davor habe ich noch mehr Angst, als dass du glaubst, ich könnte dein Kind nicht lieben.“

„Warum stehst du so weit weg? Warum kommst du nicht zu mir?“

Er ging um die Wiege herum, sah noch einmal auf das Kind, dann auf dessen Mutter. Er beugte sich über das Bett, verlor kein Wort mehr, er nahm ihren schmalen Kopf in seine Hände und küsste ihren Mund.

Es war nicht das lodernde Feuer eines stürmischen Kusses, es war nicht die Leidenschaft, die alles andere vergessen ließ, es war ein zarter, ein sanfter Kuss. Und bevor Isolde überhaupt richtig begriffen hatte, richtete er sich schon wieder auf, sah lächelnd auf sie herab und sagte: „Wenn es keine Dankbarkeit ist, sondern wenn du mich wirklich liebst, dann möchte ich, dass du meine Frau wirst, ganz gleich, was kommt, und dass dein Kind auch mein Kind sein kann, wenn du es nur willst.“

Sie wollte lachen, sie wollte ihm die Arme entgegenstrecken, sie wollte noch einmal diesen Kuss wiederholen, wollte ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebte, aber stattdessen begann sie zu weinen. Sie konnte gar nicht dagegen an. Die Tränen flössen von ganz allein. Sie war fix und fertig, brachte kein Wort heraus. Sie weinte nur. Sie schluchzte, so sehr überkam es sie.

Im ersten Augenblick war Thomas erschüttert, als er das sah, besorgt zugleich. Er beugte sich über sie. „Was hast du?“, fragte er. „Was hast du nur? Mein Gott, warum weinst du denn? Es gibt doch keinen Grund zum Weinen.“ Er strich über ihre Stirn, über ihr Haar, versuchte sie zu beruhigen.

Aber sie schluchzte nur: „Lass mich doch! Ich weiß ja selbst nicht, was mit mir ist. Lass mich doch!“

Er war wie vor den Kopf gestoßen und dachte: Sie hat sich selbst etwas vormachen wollen. Aber sie ist nicht Herr ihrer Gefühle. Ich hätte sie nicht küssen dürfen.

Doch dann überlegte er weiter. Sie ist ja schwach. Wir haben das Blut nicht ersetzen können, das sie verloren hat. Sie braucht Ruhe. Mit den Nerven ist sie fix und fertig. Vielleicht ist es nur das und nichts anderes.

Er streichelte sie weiter. Sie hörte auf zu weinen. Dann hob sie beide Hände, nahm die seine dazwischen, führte sie an ihre Lippen und küsste ihm die Hand.

Sie lag da, hielt seine Hand an ihrer Brust und klammerte sie so fest, als er sie sanft entziehen wollte, dass er ihr die Hand ließ. Sie sah ihn aus tränenfeuchten Augen an, lächelte matt, dann schloss sie die Augen, legte den Kopf auf die Seite und schlief. Sie schlief richtig ein.

Schwäche, dachte er. Es ist wirklich Schwäche gewesen, und ich habe mich unverantwortlich benommen. Wie konnte ich sie derart aufregen? Ich hätte warten müssen, warten mit all dem.

Sie schlief fest ein, und es gelang ihm, seine Hand vorsichtig unter den ihren wegzuziehen. Dann sah er sie an, sah, wie sie schlief, blickte auf das Kind und ging leise hinaus. Frau Kreweling schien schon darauf gewartet zu haben, dass er kam. Sie musterte ihn argwöhnisch, dann ging sie schnell hinein.

„Leise“, sagte Thomas, „sie schläft.“

Frau Kreweling schloss die Tür.

Im Esszimmer saßen Frans und Friedhelm vor einer dampfenden, heißen Bouillon. Marion hatte sich den beiden gegenübergesetzt und beobachtete, wie die die dampfende Bouillon löffelten.

„Es geht uns erheblich besser“, meinte Friedhelm.

Thomas entsann sich des Gesprächs mit Dr. Tobler und dachte an die Adresse. Er zog sie aus der Tasche, legte sie auf den Tisch und schob sie zu Friedhelm hinüber. „Da ist etwas, was dich interessieren könnte. Es ist ein toller Zufall gewesen. Dieser Stabsarzt hat einen Schwager, der Mann, der seine Schwester geheiratet hat. Und dessen Schwester, die kennst du. Du kennst auch den Schwager. Hier ist die Adresse der Schwester. Sie wohnt in Mannheim-Sandhofen.“ Friedhelm hatte mit dem Löffeln der Bouillon innegehalten, starrte auf den Zettel, dann auf Thomas und rief überrascht: „Renate? Ist das Renate?“

„Es ist Renate. Zweifel ist nicht möglich. Ich will dir ihre Geschichte erzählen ...“ Und er erzählte, was er von dem Stabsarzt wusste.


Tränen, Glück und schwerste Stunden: Arztroman Sammelband 6 Romane

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