Читать книгу Tränen, Glück und schwerste Stunden: Arztroman Sammelband 6 Romane - A. F. Morland - Страница 29

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Es war schon kurz nach zehn abends, als Dr. Anneliese Haan den Besuch ihres Verlobten bekam.

„Tut mir leid, Lieschen“, sagte der große schlanke Mann, als er ihr im Haus entgegentrat. „Ich bin eher nicht durchgekommen. Und selbst jetzt war es ein Kunststück. Na ja, nun bin ich da.“

„Ich weiß, was draußen los ist. Komm nur herein! Ich bin froh, dass du überhaupt gekommen bist, Georg. Ich hatte schon Angst, dass wir uns nicht mehr sehen können. Mir ist vielleicht heute etwas passiert, sage ich dir.“

Mehr darüber sagte sie ihm später, als sie sich bei einem Glas Wein gegenübersaßen. Er erfuhr die ganze Geschichte aus ihrer Sicht.

„Was die getan haben, das nenne ich Entführung. Aber das ist ja nicht alles. Dieser Brückner, so heißt er nämlich, das hab ich erfahren, das ist ein geächteter Arzt, verstehst du?“

„Geächtet?“

„Na ja, jedenfalls einer, der nicht mehr Arzt sein darf.“

„Wieso denn nicht?“

„Ich hab mich erkundigt. Er soll irgendwann mal während einer Operation einen Kollegen niedergeschlagen haben, und vor dem Ehrentribunal ist er nachher auch ausfällig geworden. Ein ordentliches Gericht hat ihm Berufsverbot erteilt.“

„Aha. Und was folgerst du jetzt aus dieser Sache?“

„Wenn es nachgewiesen werden kann, dass er diese Schnittentbindung bei der Frau gemacht hat, dann wäre das doch schwere Körperverletzung.“

„Nein. Schwere Körperverletzung nicht“, widersprach er ihr.

„Natürlich ist es schwere Körperverletzung.“

„Entschuldige. Ich habe zwar bloß Jura studiert und bin Staatsanwalt, aber wenn du es besser weißt, dann lasse ich mich gerne von dir belehren“, meinte er lächelnd. Er fuhr sich mit der Hand über sein blondes Haar und blickte seine Verlobte nachsichtig durch seine dicken Brillengläser an.

„Was ist es dann?“

„Es ist gefährliche Körperverletzung, Paragraph 223 a, mein Liebling und der besagt, wenn die Körperverletzung mittels einer Waffe, insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Gegenstandes, Werkzeuges oder durch einen hinterlistigen Überfall oder von mehreren Personen gemeinschaftlich oder mittels einer das Leben gefährdenden Handlung begangen worden ist, so tritt Freiheitsstrafe von zwei Monaten bis fünf Jahren ein. So in etwa ist der Text des Gesetzes.“

„Ein Messer hat er ja benutzt“, meinte sie.

„Kennst du diesen Mann? Du scheinst ihn richtig zu hassen.“

„Ich hab’ ihn nie im Leben gesehen. Aber diese beiden Kerle, die mich hier weggeholt haben. Wie nennt man das denn, wenn du gezwungen wirst, mit jemandem mitzufahren, ob du nun willst oder nicht?“

„Mit einer Waffe gezwungen, oder wie?“

„Nicht mit einer Waffe. Sie haben mich richtig unter Druck gesetzt. Ich hab’ jedenfalls nicht gewollt.“

„Willst du jetzt auf den Entführungsparagraphen hinaus, Entführung einer Frau?“

„Na ja, ist es das etwa nicht?“

„Ich weiß, worauf du hinaus willst. Es ist der Paragraph 237, um die Entführung einer Frau. Wer eine Frau wider Willen durch List, Drohung oder Gewalt entführt, namentlich mit einem Fahrzeug in einen anderen Ort bringt ... Aber dann, liebes Kind, kommt doch ein ganz anderer Sinn. Da heißt es nämlich im Gesetz, dass die entstandene hilflose Lage dieser Frau zur Unzucht mit ihr ausgenutzt wird. Hat dir jemand versucht zu nahe zu treten?“

„Nein. Aber ich wollte nicht mit, und sie wollten mich zwingen, dass ich da mit hinfahre.“

„Das ist allenfalls Nötigung. Und was heißt das schon? Sieh mal, du kommst doch mit diesem Kram nicht durch. Damit nicht. Diese Nötigung ist erfolgt im Zusammenhang mit einem übergesetzlichen Notstand. Einmal das schlechte Wetter, zum anderen die Situation dieser Frau. Auf der einen Seite sagst du, hätte er die Frau nicht operieren dürfen, weil er dazu keine Berechtigung mehr hat. Gut, wenn du Anzeige erstattest, würde der Mann zunächst einmal wegen gefährlicher Körperverletzung, nicht wegen schwerer, das ist ein ganz anderer Paragraph, angezeigt. Man würde ihn sogar anklagen deshalb. Schwere Körperverletzung würde es dann, wenn diese Patientin, die er operiert hat, entweder von dieser Operation her gefährliche Folgen behält oder aber wenn sie stirbt. Dann erst ist es schwere Körperverletzung. Aber auch die gefährliche Körperverletzung bringt kein Staatsanwalt dieser Erde einwandfrei über die Runden. Der Richter wird den übergesetzlichen Notstand, der da geherrscht hat, nie außer Acht lassen. Und du, diese Ärztin, die sich gezwungen fühlte, genötigt, zwei Männer zu begleiten, die sie zu einer Patientin bringen wollen, du bist nicht hingekommen, du hast dieser Patientin nicht einmal helfen können. Was sollten die Leute tun?“

„Das Kind hätte normal geboren werden können. Zugegeben, es wäre gestorben, an Atemnot zugrunde gegangen. Aber eine Operation hätte deshalb nicht stattfinden müssen und somit keine ungesetzliche Handlung.“

„Sag mal, Anneliese, jetzt versteh’ ich dich nicht mehr. Was verrennst du dich immer in diese Dinge? Die einzige Leidtragende bei der Geschichte ist doch die Mutter dieses Kindes. Sie ist operiert worden. Wenn da keine Folgen entstanden sind, hat sie mindestens eine Operationsnarbe zurückbehalten, unumgänglich in diesem Falle, so möchte ich glauben. Das Kind aber lebt. Ganz offensichtlich lebt es. Und wenn jetzt nichts passiert, die Frau noch stirbt oder das Kind stirbt, oder sonst was eintritt, dann können wir doch eigentlich alle froh sein. Du ebenfalls.“

„Wieso ich?“

„Du hast mir vorhin, als du von der Sache berichtet hast, erzählt, dass du Angst hattest, diese Operation machen zu müssen.“

„Na ja, ich habe so etwas noch nie alleine machen müssen. Und dann auf einem Tisch. Es ist doch Wahnsinn. Und alleine die Komplikationen, die da eintreten können. Schon während der Narkose.“

„Aber wie du siehst, ist ja doch nichts eingetreten. Dieser Mann, ob nun berechtigter Arzt oder nicht, hat seine Sache doch gut gemacht.“

„Na ja schon, aber ...“

„Nichts aber. Nimm doch die Finger aus der Sache heraus.“

„Und ich habe gedacht, du wärst Staatsanwalt und würdest im Interesse der Öffentlichkeit ...“

„Im Interesse der Öffentlichkeit ja. Ich muss dieser Geschichte nachgehen, muss feststellen, ob dieser Mann nicht vielleicht schon andere Dinge gemacht hat, ohne ein Arzt sein zu dürfen. Ob es nicht so war, dass er vielleicht laufend Patienten behandelt, wovon niemand etwas weiß.“

„Nein, nein, das ist nicht so“, sagte Anneliese. „Ich hatte das auch gedacht. Aber er hat sich all die Jahre gar nicht mehr um seinen früheren Beruf gekümmert.“

„Na ja, dann siehst du doch, dass es ein Notfall ist. In welchem Verhältnis steht er denn zu dieser Frau, die er operiert hat?“

„Man sagt hier“, berichtete Anneliese, „dass er sie schon lange verehrt, aber ein anderer hat sie ihm weggeheiratet, wohl mehr oder weniger auf Veranlassung ihres Vaters. Jetzt soll sie sich scheiden lassen oder hat sich schon scheiden lassen.“

„Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber das Gesetz der Logik hast du dir nicht vorgehalten. Sieh mal, wenn dieser Mann diese Frau liebt, dann wird er alles tun, um ihr Leben zu retten, ob das Kind nun von ihm selbst oder von dem Manne ist, mit dem sie verheiratet war. Er wird sie retten wollen und das Kind. Er hat also einen doppelten Grund dazu. Im Übrigen finde ich es bewundernswert, dass er seine Geliebte, wenn man so sagen will, operiert hat. Mir hat mal jemand erzählt, dass Ärzte das, wenn es nur halbwegs zu vermeiden ist, nicht tun, dass sie jemanden operieren, der ihnen nahesteht.“

„Das ist richtig. Das habe ich dir auch erzählt. Aber trotzdem.“

„Was denn trotzdem? Ich weiß nicht, warum du dich in diese Sache so verbeißt. Was hast du nur gegen diesen Mann?“

„Ein Mann, der einen anderen während einer Operation niederschlägt. Was ist das nur? Das sind ja verbrecherische Methoden.“

„Weißt du genau, dass es so war?“

„Man erzählt es sich so in Ärztekreisen. Ich kenne jemanden, der in dieser Klinik gewesen ist, wo sich das ereignet hat.“

„Und der danebengestanden hat?“ Sie zuckte die Schultern. „Was weiß ich. Etwas Wahres wird schon dran sein.“

„Ich werde mich mit der Sache mal befassen. Und wenn es so ist, dass hier tatsächlich eine ungesetzliche Handlung vorgenommen worden ist und sie auch nicht mehr durch die Notlage abgeschirmt werden kann, dann kannst du dich darauf verlassen, dass ich etwas unternehme. Aber sonst wollen wir aus einer Mücke nicht unbedingt einen Elefanten machen. Ich sehe es sogar noch ganz anders als du, aber, sei mir nicht böse, wenn ich darüber nicht spreche.“

„Spreche worüber? Nun, sag es doch!“

Er schüttelte den Kopf.

Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Du wirst es mir sagen! Du hast mir versprochen, keine Geheimnisse vor mir zu haben.“

„Also gut, wenn du es willst“, erklärte er schroff. „Das Merkwürdigste an der Geschichte ist weniger das Verhalten dieses Mannes, soweit ich es übersehen kann, sondern vielmehr deins, meine liebe Anneliese.“

„Meins? Wieso denn das?“

„Dort wurde Hilfe gebraucht, und du musstest dich zwingen lassen mitzufahren, wenn ich dich richtig verstanden habe. Findest du das eigentlich so sehr deinem sogenannten ärztlichen Ethos entsprechend, dem Berufsethos, wie man es wohl bei euch nennt?“

„Ich musste ja auch an die anderen Patienten denken, die mich womöglich hier brauchen.“

„Wenn diese Leute dort jenen Mann nicht gehabt hätten, sähe es für die Frau schlecht aus und für das Kind wohl sowieso.“

„Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe sogar die Bundeswehr angerufen und um Hilfe gebeten. Einen Hubschrauber konnten die ja nicht schicken. Ich hab das Wetter ja nicht gemacht. Und ich ...“

„Soll ich dir sagen, warum du um Biegen und Brechen nicht hinwolltest? Ich weiß nicht, ob ich dir jetzt unrecht tue, liebe Anneliese, aber ich habe das Gefühl, du wolltest deshalb nicht hin, weil du überfordert warst.“

„Überfordert? Wie soll ich das verstehen?“

„Weil du nicht in der Lage gewesen wärst, das zu tun, was dieser Mann getan hat, dem du jetzt am liebsten gefährliche Körperverletzung vorwerfen möchtest. Zugegeben, es war ein Schritt vom Wege ab, ein Schritt außerhalb der Legalität. Aber ich, wenn ich Arzt jemals gewesen wäre und hätte das gekonnt, ich würde in seiner Situation ebenso handeln. Aber gut, das verspreche ich dir, ich will mich darum kümmern. Ich will sehen, was an dieser Geschichte ist.“

„Du willst dich darum kümmern. Pah!“, machte sie. „Wenn du hier weg bist, dann hast du das schon vergessen. Das bereitet dir doch Arbeit. Als wenn du dich danach reißen würdest.“

„Schade“, meinte er. „Wir hätten nicht darüber reden sollen. Jetzt haben wir beide schlechte Laune, und es hätte ein so schöner Abend werden können.“

„Dann sag doch gleich, dass es dir nicht passt! Dann setz dich doch in dein Auto und verschwinde!“

Er sah sie an, wie sie vor ihm geiferte und keifte, schüttelte fassungslos den Kopf, erhob sich und wandte sich um.

„Ich glaube, du hast recht, Anneliese. So wie jetzt habe ich dich noch nie gesehen. Ich müsste dir dankbar sein, dass du mir die Augen geöffnet hast.“

Dann ging er hinaus. Sie rührte sich nicht von ihrem Platz. Sie starrte auf das halbleere Weinglas, und in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Als sie draußen den Anlasser seines Autos hörte und dann den anfahrenden Wagen, da zuckte sie zusammen. Aber auch jetzt blieb sie sitzen, rührte nicht einmal den Finger ...


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