Читать книгу Entführung ohne Happy End: Kripow & Kripow: Herr Doktor und die Polizei - A. F. Morland - Страница 13
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Nach dem Mittagessen kehrte Doktor Alexander Kripow in die Falkenberg-Klinik zurück. Das hohe, weiße Gebäude aus Beton und Glas ragte wie ein surrealistisches Kunstwerk aus den grünen Wiesen empor. Die einseitig verspiegelten Scheiben schienen das Sonnenlicht wie eine ganze Batterie überdimensionaler, quadratischer Scheinwerfer zu reflektieren.
Während Doktor Kripow die Befunde studierte, die auf seinem Schreibtisch lagen, brachte ihm seine Sekretärin eine Tasse Kaffee.
„Vielen Dank“, sagte er und widmete sich wieder seinen Unterlagen. Ein Patient litt an einer chronisch fortschreitenden Wirbelsäulenversteifung, die dringend behandelt werden musste. Einem Kellner machte sein Fersensporn so schwer zu schaffen, dass eine Operation unumgänglich war. Eine Frau hatte eine verschleppte Blasenschwäche. Nachdem der Chefarzt der Falkenberg-Klinik sämtliche Untersuchungsergebnisse durchgesehen und den Kaffee getrunken hatte, verließ er sein Büro. Auf dem Flur kam ihn Schwester Tanja Drewitz entgegen. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitete sie nun schon in der Klinik und kümmerte sich um Leiden aller Art, sowohl seelischen als auch organischen Ursprungs.
„Wie geht es Herrn Liske?“, erkundigte sich Doktor Kripow.
Tanja lächelte. „Ich bin keine Ärztin.“
„Aber Sie haben eine Menge Berufserfahrung.“
„Also, wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich denke, Herr Liske wird langsam wieder.“
„Konnten Sie ihn ein wenig aufmuntern?“
Tanja seufzte. „Ich hab‘ versucht, aber er wollte nicht so recht darauf eingehen.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Er traut uns immer noch nicht so ganz.“
„Glaubt er wirklich, wir würden ihm etwas sehr Schlimmes verheimlichen?“
Die Schwester nickte. „Scheint so.“
„Nun, vielleicht glaubt er mir mehr als Ihnen“, meinte Doktor Kripow.
Augenblicke später betrat er das Krankenzimmer, in dem Gerd Liske lag. Der Mann hatte in den letzten Tagen merklich abgenommen. Sein Gesicht war blass und die Wangen tief eingesunken. Er wirkte schwach und deprimiert. Gerd war mit einer Magenblutung in die Falkenberg-Klinik eingeliefert worden. Sein Bruder David hatte ihn hierher gebracht. Er war mit Heidi Küfner, einer Stammpatientin des Arztes, verlobt. Den Brüdern gehörte ein Baumarkt am Stadtrand von Hannover.
Gerd hatte als Privatpatient dafür gesorgt, dass er ein Einzelzimmer bekam. Neben seinem Bett stand ein Metallgestänge mit einem Tropf. Ein transparenter Schlauch führte von dem Beutel zu dem Mann im Bett.
„Na, Herr Liske, wie geht es Ihnen heute?“, fragte Doktor Kripow.
„Die Schwester war eben hier“, gab er mit schwacher Stimme zurück.
Der Arzt lächelte. „Damit uns keiner nachsagen kann, wir würden uns nicht um unsere Patienten kümmern. Sie haben auf Schwester Tanja übrigens einen sehr guten Eindruck gemacht.“
„Tatsächlich?“ Es klang so, als ob er ihm glauben würde.
„Sie ist davon überzeugt, dass Sie bald über den Berg sind.“
Gerd zog die Nase kraus. „Woher will sie das wissen? Sie ist doch nur eine Krankenschwester.“
Kripow hob die Hand. „Sagen Sie das nicht so abfällig.“
„Ich will Schwester Tanja in keiner Weise abwerten“, versicherte Gerd. Er war davon überzeugt, dass ihm das Personal der Klinik die Wahrheit vorenthielt. „Sie ist bestimmt eine sehr gute Schwester, aber ...“
„Sie ist die beste Schwester, die wir haben“, erwiderte Doktor Kripow.
„Aber sie kann kein abgeschlossenes Medizinstudium vorweisen. Sie ist keine Ärztin.“
„Sie hat sehr viel Erfahrung. Auf ihr Urteil kann man sich verlassen. Es wäre ein großer Fehler, ihr medizinisches Wissen und ihre fachliche Kompetenz infrage zu stellen.“
„Ich nehme an, sie erfüllt ihre Pflicht, wenn sie von Zimmer zu Zimmer geht, um überall Optimismus zu verbreitet. Aber das funktioniert bei mir nicht.“ Gerds Miene wirkte grimmig und verschlossen.
„Und warum nicht?“ Doktor Kripow behielt die Ruhe, auch wenn es ihm nicht ganz leicht fiel.
„Weil ich weiß, wie es wirklich um mich steht.“
„Woher wissen Sie das?“
„Ich fühle es.“
„Was fühlen Sie?“, wollte Doktor Kripow wissen.
„Dass mir jeder weismachen will, ich sei über den Berg, aber das stimmt nicht.“
„Sie sind schwach. Sie haben Blut verloren. Und Gewicht. Sie hatten Schmerzen und haben wenig geschlafen. Das hat Sie mürbegemacht.“
„Nein, es hat mir die Augen geöffnet und mich erkennen lassen, wo ich gesundheitlich stehe. Warum ist keiner in diesem Haus in der Lage, mir die Wahrheit zu sagen?“
„Sie bekommen pausenlos die Wahrheit zu hören“, entgegnete der Chefarzt. „Aber es ist anscheinend nicht das, was Sie hören wollen.“
„Ich bin mit einer schweren Magenblutung in die Klinik gekommen“, sagte Gerd matt. „Ich habe Blut erbrochen, das aussah wie Kaffeesatz. Und ich hatte einen Teerstuhl. Einer der Ärzte wollte mir einreden, mein Leiden käme von einer akuten Magenschleimhauterkrankung. Ein anderer Arzt sagte etwas von einem aufgeplatzten Magengeschwür. Ich behaupte jedoch, es handelt sich um Krebs. Er ist mittlerweile soweit fortgeschritten, dass man mich nicht mehr operieren will, weil es sowieso keinen Zweck hat.“ Seine schmalen Lippen zuckten. „Man hat mich aufgegeben, speist mich mit schönen Worten ab und wartet auf das Ende.“
Seine Worte klangen bitter und vollkommen verzweifelt.
„Sie sagten vorhin, Schwester Tanja wäre keine Ärztin“, sagte Doktor Kripow. Er war um einen sachlichen, emotionslosen Ton bemüht. „Wie ist das mit Ihnen? Haben Sie Medizin studiert?“
„Ich habe eine dreijährige Tischlerlehre absolviert“, antwortete der Patient.
„Und sind Sie sicher, dass Sie sich mit dieser Ausbildung eine zuverlässige Selbstdiagnose zutrauen können?“, fragte Doktor Kripow nüchtern.
Gerd zog die Augenbrauen zusammen. „Ein Mensch spürt, wenn es mit ihm zu Ende geht“, sagte er düster.
„Manchmal irren sich Menschen aber auch.“ Er schob die Hände in die Taschen seines Kittels. „Herr Liske, wir haben Sie so gründlich wie nur irgend möglich untersucht. Röntgen, Gastrotest, Gastroskopie. Wir wissen haargenau, wie es in Ihnen aussieht. Wir haben uns sehr genau in Ihrem Magen umgesehen und ein Magengeschwür entdeckt, das nicht operiert werden muss. Sie bekommen von uns sogenannte H2Blocker. Das sind gute, wirksame Medikamente. Sie hemmen die Säurebildung. Wenn Sie sich das Rauchen abgewöhnen und scharfe Gewürze, heiße Speisen, Alkohol und Bohnenkaffee weitgehend meiden, kann ich Ihnen ein langes, beschwerdefreies Leben garantieren.“
Gerd schien nicht zu glauben, was er da hörte. „Ist das wahr?“
„Warum sollte ich Sie belügen?“
„Weil die Lüge oft bequemer ist als die Wahrheit.“
„Ich gebe zu, es gibt Situationen, da überlege ich mir sehr genau, ob ich einem Patienten die volle Wahrheit zumuten darf oder nicht. Bei Ihnen ist das jedoch nicht der Fall.“
„Ich werde nicht sterben?“
„Irgendwann müssen wir alle sterben“, sagte Doktor Kripow. „Aber bis dahin haben Sie noch sehr viel Zeit.“ Er lächelte. „Sind Sie jetzt enttäuscht?“
Gerd schloss die Augen und schluckte mehrmals. Als er den Arzt wieder ansah, waren seine Augen feucht. „Was müssen Sie nur von mir halten?“, fragte er kopfschüttelnd.
Doktor Kripow lächelte aufmunternd. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“
„Als ich mich übergab ... Als Blut kam ... Da war ich so geschockt ...“
„Ich kann Sie verstehen, Herr Liske.“
„Da stand für mich fest, dass ich nicht mehr lange zu leben habe.“
„Ja, Sie machten die Schotten dicht, ließen niemanden an sich heran und hörten auch nicht mehr zu, wenn wir etwas sagten.“
„Ich hatte meine vorgefasste Meinung und hielt alles andere für unwahr.“
Doktor Kripow lächelte unbekümmert. „Ich kann damit leben.“
„Es tut mir leid, wenn ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern Unrecht getan habe“, sagte Gerd.
Doktor Kripow legte dem Patienten die Hand auf die Schulter. „Ich schlage vor, wir vergessen das Ganze und Sie glauben nun daran, dass Sie bald wieder gesund sein werden.“