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Nachdem Ingeborg Jensen die Augenbinde abgenommen worden war, sah sie sich in ihrem kleinen Gefängnis um. Sie befand sich in einem winzigen Schlafzimmer. Die Tür war abgeschlossen, das Fenster mit Brettern zugenagelt. Abgesehen von einem Bett gab es keine weiteren Möbel, nicht einmal einen Teppich, um den hässlichen Holzboden zu verdecken.

Während der Fahrt im Auto hatte sie bemerkt, dass sie die Stadt verließen, denn der Verkehrslärm nahm immer mehr ab. Sie schätzte, dass die ungefähr eine Stunde unterwegs gewesen sein mussten. Der letzte Teil der Strecke führte bergauf. Ingeborg spürte plötzlich das Gefühl totaler Isolation. Die Stille war unerträglich, das Zimmer verdunkelt. Dünne Lichtstrahlen vom Nebenzimmer krochen durch die langen Risse in der Tür.

Die Männer hatten ihr die Hand- und Fußfesseln mit dem Hinweis abgenommen, dass sie ruhig schreien könnte, weil es zwecklos war. Hier draußen gab es niemanden, der ihre Stimme hörte. Bisher hatten die Entführer ihr nichts angetan. Eigentlich war sie über das Geschehen eher empört als ängstlich. Sie wusste, dass Georg sie auf jeden Fall herausholen würde. Egal wie. Er würde das Lösegeld zahlen. Georg liebte sie, nein, er vergötterte sie. Seine Frau zu befreien, würde zu seinem Lebensziel werden. Auf ihn war immer Verlass, bestätigte sie sich selbst.

Und wenn die Entführer das Geld hätten, würde sie wieder frei sein. Das hatte ihr der größere der beiden Männer versichert. Ingeborg hatte schon eine Musterung der beiden Typen vorgenommen und festgestellt, dass sie sehr unterschiedlich aussahen. Abgesehen vom Körperbau hatte der Größere einen kantigen Schädel und schläfrige Schlangenaugen. Der Zweite hatte einen kleinen Kopf, der auf einem bulligen Nacken saß. Sein Gesicht war stark vernarbt. Eine seiner vielen Narben hatte die Form einer Sichel. Beide Männer wirkten nicht sehr vertrauenerweckend.

Ingeborg beobachtete die Entführer heimlich, aber sehr genau. Sie bemerkte, dass es sich bei den Männern um außerordentlich merkwürdige Typen handelte. Sie waren in jeder Hinsicht irgendwie komisch, sowohl physisch, als auch sonst. Sie hatten sogar ihre Masken abgenommen. Ingeborg wusste, dass alles, was sie sah, der Polizei später bei der Fahndung sehr nützlich sein konnte. Außerdem hätte sie ohne Weiteres Skizzen der beiden Männer anfertigen können. Während ihrer Beobachtungen nahm sie sich vor, ihre Entführer unverzüglich nach ihrer Befreiung zu zeichnen. Sie brachte die Voraussetzungen für diese Arbeit mit.

Ingeborg war früher eine der begehrtesten und populärsten Kunstmalerinnen des Landes gewesen. Vor allem die Porträtmalerei hatte sie zu einer sehr reichen und berühmten Frau gemacht. Eigentlich hätte sie es gar nicht nötig gehabt. Ingeborg war von Haus aus reich. Ihr Vater besaß eine Firma für Metallveredelung, die sehr hohe Gewinne abwarf. Aber es gefiel Ingeborg, ihr eigenes Geld zu verdienen. Oft erhielt sie Aufträge von hochrangigen, reichen Frauen und Männern der feinen Gesellschaft, die ihr fünfstellige Honorare einbrachten. Gerade durch die Verbindung zu jener Gesellschaft lernte sie Georg kennen, den Inhaber einer kleinen Maklerfirma. Einer seiner Geschäftspartner bestand darauf, ein Porträt von sich anfertigen zu lassen. Es sollte einen Ehrenplatz neben den Porträts von führenden Präsidenten der Firma an der dunklen Holzwand einnehmen. Und Ingeborg war diejenige, die den Auftrag erhalten hatte.

Kurze Zeit später heiratete sie Georg. Das Leben als Frau dieses Mannes gefiel Ingeborg so gut, dass sie ihr Interesse an der gewerbsmäßigen Kunstmalerei verlor. Sie genoss das süße Nichtstun und ließ sich maßlos von Georg verwöhnen. Ab und zu kehrte sie an die Staffelei zurück, aber nur dann, wenn sie selbst Lust und Laune dazu hatte. Manchmal ließ sie sich von Georg überreden, ein Porträt oder Kleinbild für Freunde zu malen, aber das war äußerst selten.

Doch nun konnte sie ihre Fähigkeit wieder unter Beweis stellen. Sobald sie wieder frei war, wollte sie diese beiden Entführer an die Wand nageln, indem sie ein exaktes Bildnis von ihnen für die Polizei und für die Medien anfertigte. Ingeborg saß auf der Matratze in dem kleinen Zimmer und sammelte gedankliche Beobachtungen und Notizen, Angaben, mit denen sie später gut arbeiten konnte. Jemand riss die Tür auf. Als Ingeborg in das Licht blickte, sah sie den Umriss des größeren Entführers. Irgendwie spürte sie einen starken Drang, etwas zu sagen, ihre Meinung zu äußern, oder Beleidigungen auszuspucken, aber sie schwieg. Sie war vor Angst wie versteinert. Der Mann stand für einen Augenblick auf der Türschwelle und beobachtete sie.

„Was ist los? Wolltest du etwas sagen?“, fragte er. „Lauter, ich kann dich nicht hören!“

Er kicherte, wandte sich um und schloss die Tür wieder. Ingeborg hörte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.

Entführung ohne Happy End: Kripow & Kripow: Herr Doktor und die Polizei

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