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1. Kapitel

»Abigail, Tisch vierzehn will bezahlen«, dröhnte die Stimme ihres Chefs über die Musik durch das Cowboy’s.

Abby, die gerade die Gläser für die Gäste an Tisch acht einschenkte, nickte. »Bin gleich da!« Eine ihrer Kolleginnen war krank geworden, deshalb war sie heute nicht nur für die Bar zuständig, sondern musste auch die Kellnerin spielen.

Ihr Chef, der ein großes Tablett voll leerer Biergläser in Richtung Bar balancierte, nickte ihr zu. »Danach kannst du Feierabend machen. Sabrina ist gerade reingekommen.«

»Danke, Bas.« Der kräftig gebaute Mittsechziger mit der Halbglatze weigerte sich, mit Sebastian angesprochen zu werden. Da die Bar nicht viel abwarf, konnte er seinen Mitarbeitern nur den Mindestlohn bezahlen. Aber er war fair und anständig und bot ihnen zumindest eine Krankenversicherung. Keine Selbstverständlichkeit. Er gab gelegentlich die eine oder andere Runde aus oder bot seinen Angestellten am Abend Reste aus der Küche an. Bas sagte immer, dass ihm Lebensmittelverschwendung zuwider wäre.

Abigail verteilte die Getränke und marschierte schnurstracks weiter zu Tisch vierzehn. »Darf ich euch noch etwas bringen?«, fragte sie routinemäßig und lächelte den jungen Männern zu.

»Wir sind versorgt, aber du darfst mir gern deine Nummer auf die Rechnung schreiben«, meinte einer von ihnen mit einem Augenzwinkern.

Sie verdrehte die Augen und gab ihnen den Zettel. »Hat das jemals funktioniert, Joe?« Die Stammkunden kannte sie mittlerweile fast alle mit Namen. Der ganze Tisch brach in Gelächter aus.

Joe blätterte einige Dollarnoten auf den Tisch. »Einen Versuch war es wert. Danke Abby, der Rest ist für dich.«

Abbys Lächeln wurde herzlicher. »Danke. Habt noch einen schönen Abend.«

Die Jungs winkten ihr zu und sie kehrte zurück hinter die Bar. Joe und seine Kumpels gaben immer gutes Trinkgeld. Das würde ihr Leben bis zum nächsten Gehaltsscheck deutlich erleichtern. Sie hatte schon Angst gehabt, sich etwas für den Vermieter einfallen lassen zu müssen.

Nach dem Abrechnen zog sie sich an und machte Anstalten, das Lokal durch den Hintereingang zu verlassen.

»Abby, warte. Hast du Lust auf Cheesecake? Die zwei Stück kann ich morgen nicht mehr verkaufen und ich glaube, heute werde ich die auch nicht los. Die Leute kommen ja jetzt eh nur noch zum Trinken.«

Abby lächelte, als ihr Chef eine Plastiktüte mit einem kleinen Karton aus dem Kühlschrank holte. »Hier, zu deinem Frühstückskaffee oder so.«

»Vielen Dank, Bas. Ich weiß schon, mit wem ich den teile«, gab sie zurück und nahm die Tüte entgegen.

Der ältere Herr grinste und tippte sich an die Krempe des Cowboyhuts. »Mit dem netten Veteranen, was?«

Abby nickte. »Falls ich ihn antreffe, ja.«

»Ach, der wartet sicher an der Haltestelle, wie immer. Na dann, einen schönen Abend noch, Ab.«

»Dir auch, Bas. Bis übermorgen.« Damit verließ sie das Cowboy’s und schlug den Weg zur Bushaltestelle ein.

Abby freute sich bereits auf ihren freien Tag. Den Luxus genoss sie selten. Manchmal verdiente sie sich durch Babysitting für Bekannte etwas dazu, wenn diese tagsüber arbeiten mussten. Dementsprechend wusste sie gar nicht mehr, wann sie zuletzt so richtig ausgeschlafen hatte.

Vom White River her wehte ein kalter Wind. Ihr Atem zeichnete sich als weiße Nebelschwaden in der Luft ab. Wahrscheinlich würden die Temperaturen heute deutlich unter die Frostgrenze fallen. Im Laufen holte sie die Handschuhe aus der Jackentasche und schlüpfte hinein. Abby zog sich die Mütze tief über die Ohren. Indem sie ihre Haare zurechtzupfte, ging sie aus Gewohnheit sicher, dass der Leberfleck an ihrer rechten Wange von einigen Strähnen verborgen wurde. Sie fragte sich manchmal, wie es ihr über den ganzen Sommer hinweg gelungen war, diesen Schönheitsfehler vor Ethan zu verstecken.

Abby war kaum um die Ecke in die Straße eingebogen, auf der ihre Bushaltestelle lag, als sie ein Räuspern hörte. Sie zuckte zusammen, doch da erkannte sie Ethans Stimme. »Hi, Abby. Wohin des Wegs?«

Sie atmete auf, dann musste sie lachen. »Hast du mich erschreckt! Ich bin unterwegs zum Bus. Aber ich schätze, das hast du dir schon gedacht.«

Ethan salutierte spielerisch und grinste sie an. »Dass du wie jeden Abend nach der Arbeit heimfährst? Darauf wär ich im Leben nie gekommen.« Jetzt, wo es so früh dunkel wurde, war die Erinnerung an die Nacht ihres Kennenlernens umso präsenter.

»Ich hab Cheesecake mitgebracht.« Sie hob die Plastiktüte und Ethan strahlte.

»Wer kann zu Cheesecake von vorgestern schon nein sagen? Danke, Abby.«

Sie spazierten zu einer Bank in den Grünanlagen neben dem White River und ließen sich darauf nieder. Abby reichte Ethan das größere Stück Cheesecake mit einer Serviette und sie begannen zu essen. Wie sie Ethan kannte, hatte er an diesem Tag noch nicht viel zu sich genommen. Obwohl es ihre finanzielle Situation nicht leichter machte, brachte sie ihm daher immer wieder mal ein Sandwich oder kochte sogar eine Kleinigkeit für ihn.

Im Sommer hatte Abby Ethan oft einen Eistee oder eine Flasche Wasser mitgenommen. Jetzt, wo der Winter erneut nahte, suchte sie ihn auch an freien Tagen häufig mit einer Thermoskanne auf und sie teilten sich heißen Tee oder Kaffee.

Bei diesen Treffen hatten sie sich natürlich viel unterhalten. Dadurch hatte Abby Ethan nicht nur kennengelernt, sondern dazu noch liebgewonnen.

Der Veteran war eine Zeitlang in Syrien im Einsatz gewesen und dort hatte er sich das Knie schwer verletzt. Es schränkte ihn im Alltag nicht stark ein, er konnte nur nicht mehr schnell laufen. Genau das war ihm jedoch zum Verhängnis geworden, denn eigentlich hatte er eine vielversprechende Karriere im Profi-Football vor sich gehabt. Das war natürlich dadurch ins Wasser gefallen. Er war unverschuldet in die Obdachlosigkeit gerutscht, weil er keine Familie hatte, die ihn nach dem Einsatz hätte aufnehmen können. Nach seiner Verletzung war er psychisch am Ende gewesen und hatte es aufgrund dieses Zusammenbruchs nicht geschafft, beruflich Fuß zu fassen. Einen Plan B hatte er nie gehabt.

»Solltest du nicht eigentlich längst in einer Obdachlosenunterkunft sein und den Luxus eines Bettes genießen?«, fragte sie bibbernd und biss ein Stück von ihrem Kuchen ab.

Ethans Gesichtsausdruck verdüsterte sich und er zog besorgt die Brauen über seinen schönen blaugrauen Augen zusammen. »Die Schlange war schon am Nachmittag zu lang. Ich hab keinen Platz mehr bekommen. Bei der Kälte stehen die Leute früher an. Auch die, die im Sommer gern draußen schlafen.« Er kaute jeden Bissen seines Kuchens gründlich, was ihre Vermutung, dass er heute noch nicht viel gegessen hatte, bestätigte.

»Wo schläfst du dann heute?«, fragte Abby leise.

Ethan schluckte hinunter und zuckte dann leicht die Schultern. Sein Blick wanderte zum Fluss, aber er schien diesen nicht wirklich zu sehen. »Vielleicht unter einer Brücke oder so. Oder in einem Hauseingang. Vor ein paar Nächten hab ich in der Hütte einer Bushaltestelle geschlafen, aber da wurde ich vertrieben. Jetzt ist auch noch mein Schlafsack weg. Ich weiß nicht, ob der verloren gegangen ist, weil ich beim Zusammenpacken halb geschlafen habe oder ob er geklaut wurde. Ich passe zwar eigentlich auf mein Zeug auf, doch irgendjemand ist immer geschickter als man selbst.«

Auch das noch. Abby blickte betreten zu Boden.

Mit einem Seufzen streckte er das Bein nach vorne.

»Tut dir dein Knie weh?«, fragte Abby mitfühlend.

»Ja, das kommt von der Kälte.« Er schnitt eine Grimasse.

»Kannst du dir nicht ein Motelzimmer nehmen oder so? Manche Frühstückspensionen sind recht günstig«, schlug Abby leise vor.

Ethan schüttelte den Kopf und seufzte. »Dafür ist heute zu wenig rausgesprungen. Ich werde dann wohl eine Buskarte kaufen, bis zur Endstation fahren und hoffen, dass mich der Fahrer noch ne Runde im Bus bleiben lässt, damit ich nicht so schnell wieder in die Kälte rausmuss. Manchmal hat man da Glück.«

Abby dachte an die Dollarnoten in ihrem Geldbeutel und schluckte. »Ethan, mein letzter Tisch hat mir gutes Trinkgeld gegeben. Willst du nicht …«

Sie kam gar nicht dazu, den Satz zu beenden, da schüttelte der ehemalige Marine schon den Kopf. »Abby, die Diskussion führen wir nicht zum ersten Mal. Ich will kein Geld von dir.«

»Wir führen die Diskussion auch sicher nicht zum letzten Mal, Ethan.« Abby wurde energischer. »Wir sind Freunde, oder? Freunde helfen einander.«

»Freunde lassen sich aber kein Geld von Freunden geben.« Ethan biss die Zähne zusammen.

»Dann zahl es mir eben irgendwann zurück.«

»Wann denn, Abby?« Diesmal klang der ehemalige Soldat resigniert. »Ich finde keinen Job ohne Wohnung und keine Wohnung ohne Job. Und mit der Gitarre verdiene ich nur knapp genug, um mir etwas zum Essen kaufen zu können.«

Abby schwieg, weil sie wusste, dass er recht hatte. Es gab zwar immer wieder Projekte, um Obdachlosen kleine Wohnungen zur Verfügung zu stellen, doch auch hier fiel er ständig durchs Raster. Meistens wurden Frauen mit Kindern bevorzugt. Einerseits fand Abby das verständlich, andererseits war es natürlich schwierig für die Menschen, die deshalb keine neue Chance bekamen. Jetzt, wo sie einen Betroffenen persönlich kannte, merkte sie erst, wie viel es an diesem Sozialsystem zu verbessern gäbe.

Ethan rieb seine Hände aneinander. Die Temperatur war spürbar gefallen. Bei dem Gedanken, ihn allein zu lassen, während sie für den Abend in ihre Wohnung zurückfahren konnte, verknotete sich Abbys Magen. In ihrem Zuhause war es auch nicht wirklich warm, weil sie Strom sparen musste, aber zumindest hatte sie ein paar flauschige Decken.

Ethan räusperte sich leise. »Dein Bus kommt sicher bald. Ich begleite dich zur Haltestelle.«

Abby seufzte bekümmert und stand auf. »Ethan, willst du dir das nicht nochmal überlegen? Ich meine, eine Nacht mal wieder in einem beheizten Raum schlafen, duschen …«

»Wenn du deine Geldbörse aus der Handtasche holst, rede ich nie wieder mit dir, Abby«, drohte Ethan nur halb im Scherz und schob seine Hände in die Jackentaschen, während sie in Richtung der Hauptstraße spazierten.

Die nächsten Worte purzelten schneller aus Abbys Mund, als sie es verhindern konnte. Aber kaum waren sie draußen, wusste sie, dass dies ihr voller Ernst war. »Auf meinem Sofa ist Platz. Komm heute mit mir nach Hause. Du hast doch gesagt, dein Geld reicht noch für eine Busfahrt.«

Ethan blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich mit großen Augen zu ihr um. »Abby, das hast du jetzt nicht wirklich vorgeschlagen, oder?«

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Doch, hab ich. Und ich meine es auch so. Es ist nicht luxuriös. Das Sofa ist alt und ich kann es mir nicht leisten, die Wohnung über 15 Grad Celsius zu heizen. Mein Badezimmer ist winzig und besteht nur aus einer Toilette, einem Waschbecken und einer Duschkabine. Die Küche ist klein und ich esse an einem Klapptisch mit zwei Klappstühlen. Aber das Warmwasser funktioniert und die Wohnung ist sauber und immer noch wärmer als die Straße.« Hilflos hob sie die Arme, während der Veteran sie stumm ansah. »Wenn du dir kein Geld geben lässt und ich nur Essen mit dir teilen darf, das ich selbst in der Arbeit geschenkt bekommen habe, dann lass mich dir so helfen. Ich will nicht, dass du heute Nacht erfrierst. Oder dass du ein paar Finger oder Zehen weniger hast. Ohne Schlafsack draußen schlafen? Verdammt nochmal, Ethan, das ist doch scheiße. Schlaf wenigstens ein paar Nächte auf meiner Couch, bis die aktuell gemeldete Kältewelle rum ist. Und spar dir dein Geld solange, bis du einen neuen Schlafsack und vielleicht wärmere Klamotten hast.«

Ethan atmete tief durch, wobei eine neue Nebelwolke zwischen seinen Lippen hervorkam. »Das kann ich nicht annehmen. Was werden die Nachbarn sagen?« Mit einem schiefen Lächeln versuchte er, einen Witz daraus zu machen.

Abby boxte ihn gegen die Schulter. »Lass den Scheiß, Ethan. Die Tussi unter mir wechselt ihre Kerle wie andere die Unterwäsche, da kann ihnen egal sein, wen ich mit nach Hause nehmen. Mal abgesehen davon, das ist eine Großstadt und ich wohne ohnehin nicht in der besten Gegend. Das interessiert keinen. Komm mit und fertig.«

»Ach Abby, ich weiß nicht.« Er seufzte und zuckte die Achseln.

»Okay, weißt du was? Du kannst nicht nur bei mir duschen, ich schneide dir auch mal wieder die Haare.« Sie hob die Hand und zupfte an einer Strähne, die unter seiner Mütze hervorragte. »Jetzt im Ernst, du brauchst dringend ein Styling. So findest du doch nicht mal MIT Adresse einen Job!« Sie zwinkerte ihm zu und ließ ihn los.

Ethan lachte unsicher und schüttelte den Kopf. »Ach Gott, ja. Überredet. Danke, Abby.«

»Keine Ursache. Und jetzt komm, sonst verpassen wir noch den Bus.«

Mit einem Nicken folgte Ethan ihr. Abby passte ihr Tempo an ihn an, während sie Seite an Seite in Richtung Haltestelle gingen.

Indiana Love - Sammelband

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