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2. Kapitel

»Das ist nicht unbedingt die beste Gegend für eine junge Frau.« Ethan blieb dicht an ihrer Seite und sah sich immer wieder um. Dabei blickte er so finster drein, dass die wenigen Leute, denen sie begegneten, einen Bogen um die beiden schlugen.

Dass dies leider nicht zu den schöneren Vierteln von Indianapolis zählte, wusste sie selbst. Sie erreichten das fünfstöckige Gebäude, in dem Abby und ein paar Dutzend weitere Mieter wohnten.

Abby zuckte hilflos die Schultern, während sie ihren Schlüssel aus der Handtasche kramte. »Ja, aber etwas Besseres kann ich mir nicht leisten. In schlechten Monaten kann ich die Miete nicht immer pünktlich bezahlen und muss auf eine zusätzliche Schicht, mehr Babysitting oder ein paar höhere Trinkgelder hoffen, um den fehlenden Betrag zusammenzukratzen. Wenigstens ist der Vermieter da human.« Dass der Kerl für einen Mietnachlass schon angeboten hatte, sie könnte ihm Nacktfotos von sich schicken oder ihm einen blasen, verschwieg sie Ethan lieber. Das hätte er wohl nicht gut aufgenommen.

In einem Monat war sie sehr verzweifelt gewesen und hatte tatsächlich mit Benjamin rumgemacht, damit er ihr den fehlenden Betrag erließ. Nachdem er sie ausgiebig befummelt hatte, hatte er sie gehen lassen. Die Erinnerung ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Vor Scham und Erniedrigung hatte sie nächtelang geweint und litt immer noch an Albträumen, in denen sie die Hände ihres Vermieters unter ihrer Bluse spürte.

Wenn es in anderen Monaten knapp geworden war, hatte sie lieber gehungert.

Sie schüttelte den Kopf in einer winzigen Bewegung und schob noch einen Satz hinterher, um davon abzulenken, dass sie in Gedanken abgeschweift war. »Andere hätten mich vielleicht längst rausgeworfen, wenn ich öfter unpünktlich zahle. Es könnte schlimmer sein. Das Haus ist zwar von außen nicht so schön, aber die Wohnungen wurden vor etwa zehn Jahren renoviert. Ich bin froh, hier eine Unterkunft zu haben.«

Ethan zögerte, als käme er mit all den neuen Informationen nicht gut zurecht. »Abby, wenn es manchmal so knapp ist, kannst du es dir doch absolut nicht leisten, einen Gast mitzubringen.«

Abby seufzte und winkte ihm zu, damit er ihr folgte. »Ethan, das geht klar, wirklich. Jetzt ist einer von den guten Monaten. Du wirst mir schon nicht die Haare vom Kopf fressen, oder?«

Ethan lachte leise. »Nein, ich denke nicht. Danke nochmal, Abby.«

»Bedank dich nicht zu früh, wahrscheinlich tut dir morgen jeder Knochen weh von meinem Sofa. Das Ding ist zwar sicher nicht billig gewesen, aber steht seit der Renovierung hier, glaub ich. Auf jeden Fall war das gute Stück schon da, als ich eingezogen bin.« Sie schnitt eine Grimasse, um die Stimmung zu lockern.

»Ach, sicher ist es immer noch bequemer als der Bürgersteig!«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen.«

Im dritten Stockwerk angekommen, musste Abby vier Schlösser aufschließen, mit denen sie ihre Wohnungstür gesichert hatte.

Ethan kommentierte das gar nicht weiter. Trotzdem sah sich Abby zu einer Erklärung gezwungen. »Ich … bin nicht paranoid oder so. Zwei Wochen nach dem Einzug ist jemand bei mir eingebrochen. Innen sind dann noch zwei Ketten. Ich hab mich anders einfach nicht mehr sicher gefühlt«, sagte sie leise.

»Schon gut«, versicherte ihr Ethan. »Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Und ich verurteile dich auch nicht dafür oder so. Wenn es dir damit besser geht, spricht doch nichts gegen die Schlösser.«

»Danke.« Abbys Wangen färbten sich rosa, während sie den letzten Schlüssel herumdrehte.

Nun grinste er. »Wofür bedankst du dich denn?«

Abbys Antwort klang eher wie eine Frage als eine Feststellung. »Dafür, dass du Verständnis hast?«

Ethan lachte und folgte ihr in den kleinen Flur. Mehr als ein Schuhschränkchen, eine schmale Kommode und eine Garderobe für Jacken und Abbys Handtasche hatte hier keinen Platz. Sie legte ihren Schlüssel ab und drückte sich an die Wand. »Tut mir leid, dass es hier so eng ist.«

Ethan verstand und quetschte sich an ihr vorbei, damit Abby die Riegel und Ketten vor die Tür legen und alles abschließen konnte. Etwas befangen blieb er im Flur stehen und nahm die Gitarrentasche von der Schulter, wartete dann aber, als wüsste er nicht, wohin mit sich.

Unwillkürlich fragte sich Abby, wann er zuletzt in einer Wohnung gewesen war und nicht nur in einer Obdachlosenunterkunft ein Dach über dem Kopf gehabt hatte. Sich einmal täglich eine warme Mahlzeit in der Suppenküche zu holen, war laut Ethan im Winter sein Highlight des Tages.

»Tja, ähm … also. Du kannst den Rucksack gern einfach im Vorraum stehen lassen und die Schuhe ausziehen. Die Böden sind sauber. Ich führ dich rum, das ist gleich erledigt.« Abby wurde verlegen und deutete auf die Tür, die gleich gegenüber des Wohnungseingangs lag und jetzt offen stand. »Hier geht es in die Wohnküche.« Sie drückte sich an Ethan vorbei und knipste das Licht in dem Raum an. Er war nicht allzu groß. Eine kleine Kochnische und ein winziger quadratischer Klapptisch mit zwei Klappsesseln zum Essen nahmen die eine Hälfte des Raums fast völlig ein. Die andere Seite wurde von einer ausziehbaren Couch dominiert. Gegenüber stand eine niedrigen Anrichte, auf der Abbys kleiner Fernseher thronte. Hinter dem Sofa ragte noch eine große Zimmerpflanze empor, ansonsten befanden sich nur einige schmale Bücherregale an den Wänden.

»So viele Bücher!«, staunte Ethan und näherte sich dem ersten Regal. Dabei grinste er wie ein Schuljunge. »Ich hab früher echt gern gelesen.«

Abby erwiderte das Lächeln eher gezwungen. »Beim Umzug musste ich leider die meisten Bücher aussortieren. Ich hab nur die behalten, die ich wirklich geliebt habe oder schon als Kind mochte.«

»Ich hab leider keine mehr.« Ethan streckte die Hand aus, zögerte jedoch und warf ihr über die Schulter nochmal einen Blick zu. »Darf ich?«

»Klar.« Während Ethan über die Buchrücken strich, gelegentlich eines aus dem Regal zog und den Klappentext las, ging sie zurück in den Vorraum. Dort schälte sich Abby aus ihrer Jacke, nahm die Mütze und den Schal ab und hängte alles ordentlich an die Garderobe.

»Das Bad ist übrigens die weiße Tür da rechts. Die Tür mit dem Milchglaseinsatz führt ins Schlafzimmer.« Abby deutete der Reihe nach auf die beiden Räume.

Ethan grinste schief. »Eine Glastür beim Schlafzimmer? Wem ist das denn eingefallen?«

»Vermutlich einem männlichen Architekten«, versetzte sie mit einem frechen Grinsen. »Aber denk nicht, dass du einen Blick erhaschen kannst. Ich hab einen Vorhang an der Tür befestigt. Auch wenn ich allein wohne, mag ich das nicht, wenn man in mein Zimmer sehen könnte.«

»Hast du Angst vor Geistern?«, witzelte Ethan.

Das erwischte Abby kalt, doch sie zwang ein schiefes Lächeln auf ihr Gesicht. »Blödsinn. Willst du duschen gehen?«

Ethan zog sich nun auch die Jacke aus, wirkte jedoch nicht so, als fühle er sich richtig wohl. »Ja schon, aber dass ich keine sauberen Klamotten mehr habe, ist mir unangenehm.« Er seufzte.

Abby presste die Lippen aufeinander, dann nickte sie in Richtung Küche, um ihre Unsicherheit zu überspielen. »Du kannst dich ja wie zu Hause fühlen und dir was zu essen nehmen. Und ich glaube, im Kühlschrank hab ich noch Saft. Ich schau mal in meinen Schrank, ob der was hergibt.«

Ethan hüstelte. »Hübsche, ich bin ja nun echt nicht dick für meine Größe, aber ich wage zu bezweifeln, dass mir übergroße Shirts oder Jogginghosen von dir passen. Sowas funktioniert nur umgekehrt.«

Nun gab sich Abby keine Mühe mehr, ihr Augenrollen zu verstecken und schritt einfach schnurstracks in ihr Schlafzimmer. »Du bist doof. Warte hier, ich komme gleich wieder.«

Abby hatte ein paar kleine, bunte Teppiche in der Wohnung verteilt, sodass die Räume freundlicher und wärmer wirkten. Sie genoss das Gefühl unter ihren Füßen, die von der Arbeit schmerzten.

Ihr Schlafzimmer war kleiner als das Wohnzimmer. Neben Kommoden und Nachtschränkchen, die sie zu dem Doppelbett in den kleinen Raum gezwängt hatte, führte noch eine Tür in einen begehbaren Schrank. Er war nicht groß, sie konnte sich darin knapp umdrehen, aber alles, was sie benötigte, hatte Platz. Seit ihrem letzten Umzug lebte Abby eher minimalistisch und verzichtete auf Krimskrams.

Sie bückte sich, um ihren kleinen Staubsauger zur Seite zu schieben, und angelte die Plastikkiste dahinter aus der Ecke. Dann kniete sie sich auf den weichen Bettvorleger, der den Boden des Schranks bedeckte, und nahm den Deckel der Kiste ab.

Darin waren die letzten Gegenstände, die sie noch von Daniel besaß. Unter anderem seine Lieblingsklamotten. Den Hoodie trug sie im Winter selbst gern, denn der übergroße Kapuzenpulli war warm und flauschig. Darin fühlte sie sich einfach wohl. Außerdem die Trainingsklamotten, mit denen Daniel immer laufen gegangen war. Es war nichts Besonderes, aber für sie waren diese Sachen wertvoll. Alles andere hatte sie ausgemustert.

Einen Moment zögerte sie und ihre Finger strichen über die Stoffe, die auf ihrem Schoß lagen.

Daniel.

Doch dann rief sie sich zur Ordnung. Daniel würde diese Kleidungsstücke nie wieder brauchen. Ethan schon. Sie ihm zu leihen, würde weder ihr noch den Klamotten schaden. Und Daniel schon gleich gar nicht.

Obwohl sie nicht bestreiten konnte, dass der Anblick von Ethan in diesen Sachen ihr wehtun würde.

Mit einem tiefen Atemzug riss sie sich zusammen. Sie legte alle Kleidungsstücke ordentlich auf einen Stapel, klemmte sich diesen unter den Arm und stand auf.

»Ethan?«

»Hier.« Der junge Mann hatte seine Mütze und Jacke in der Zwischenzeit wohl an die Garderobe gehängt, jetzt saß er auf einem der Klappstühle und hatte die Hände unsicher verschränkt.

Der Anblick rührte irgendwas in ihr. Die Situation machte ihn offenbar genauso verlegen wie sie.

»Hier. Die Sachen müssten dir ungefähr passen. Zumindest reichen sie zum Schlafen. Und dein Zeug können wir morgen ja waschen. Unter dem Dach gibt es eine Waschküche.«

Ethans Augen wurden groß. »Warum hast du Männerzeug hier? Muss ich Angst haben, gleich von deinem Verlobten verprügelt zu werden, oder ist der noch drei Tage auf Geschäftsreise?«

Abby konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Ich bin solo, du Dummkopf.«

»Also ist das von einem Verflossenen?« Ethan wirkte ein wenig skeptisch.

Abby nickte mit einem Seufzen. Wenn sie nicht zumindest ein bisschen was preisgab, würde er die Sachen wohl nicht annehmen. »Es ist okay, Ethan, wirklich. Sie haben meinem … letzten Freund gehört.« Das Wort »Ex« hatte ihr nicht über die Lippen kommen wollen.

»Warum hast du das alles dann noch?« Zögernd nahm Ethan die Kleidungsstücke entgegen und ließ sie dabei nicht aus den Augen.

»Lange Geschichte. Ich erzähle sie dir ein andermal, okay?« Abby wich seinem Blick aus.

Ethan betrachtete sie kurz, dann nickte er und das vertraute Lächeln, das Abby so gern an ihm sah, breitete sich wieder auf seinem Gesicht aus. »Kein Problem, Abby. Danke dir.«

»Gern geschehen, Ethan. Ich mach mich später frisch, geh du mal duschen. Ich schätze, den Luxus kannst du nicht so oft genießen?« Mit einem Grinsen legte sie den Kopf schief.

Er lachte und stand auf. »Da hast du recht, das ist nett von dir. Und übrigens … ich weiß ja nicht, was du hast, aber die Wohnung ist gut genug beheizt.«

Abby zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja? Warte, bis du aus der Dusche kommst. Du bist nach fünf Minuten ein Eiswürfel, versprochen.«

Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz sicher nicht, Abigail Baker! Dafür ist mir nämlich viel zu warm ums Herz, weil ich froh bin, einen so tollen Menschen wie dich zu kennen!« Ethan legte sich die Hand auf die Brust und zwinkerte ihr zu. Dann verschwand er im Badezimmer, bevor Abby etwas erwidern konnte.

Indiana Love - Sammelband

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