Читать книгу Zwei Fantasy Sagas: Der Magier von Arakand/Die Schlangenmutter - Abraham Merritt - Страница 10
Erstes Kapitel
ОглавлениеSie standen auf dem höchsten Turm von Arakand. Von dort aus pflegte der Gottkaiser die Arme zu heben und das Ritual durchzuführen, mit dem die zweite Sonne fortgewiesen wurde. Und wenn dann der Gottkaiser die entscheidenden Worte sprach und die zweite Sonne sich daraufhin in den nächsten Tage entfernte, dann war damit die Bestätigung erbracht, dass der Gottkaiser noch immer die besondere Gunst des Namenlosen Gottes besaß und dass er nach wie vor die Macht hatte, die Welt vor der sengenden Hitze des zweiten Lichts zu schützen.
Der Gottkaiser blickte für einen Moment hinauf zum Himmel. Der Ring, der die Welt von Arakand auf Äquatorhöhe umgab, warf seinen Schatten. Und dieser Schatten zog sich quer durch die Stadt und traf exakt den großen Mittelturm.
Die erste Sonne stand beinahe im Zenit, sodass die Himmelsgrenze durch sie hindurch verlief und zum Teil überstrahlt wurde.
Aber die Zweite Sonne war momentan in der nördlichen Hälfte des geteilten Himmels. Und sie war weit weg. Sie wirkte kleiner als es schon langem der Fall gewesen war. Wie ein kleiner Bruder des Hauptgestirns. Und es gab nichts, was im Moment von diesem kleinen Gestirn, das zur Zeit von seiner Größe und Leuchtkraft her eher an den Mond erinnerte, auf die gewaltige Kugel aus purer Höllenglut schließen ließ, die das sogenannte Zweite Licht zu anderen Zeiten sein konnte.
„Man sagt, dein Name wäre Vaosdo Kallyari“, sagte der Gottkaiser, dessen Schädel vollkommen kahl und mit eintätowierten Zeichen übersät war.
„Unter diesem Namen bin ich bekannt“, sagte der andere Mann, der geduldig gewartet hatte, bis der Gottkaiser ihn angesprochen hatte.
„Du hast den Ruf, ein Magier zu sein.“
„Ich bin ein Magier.“
„Du solltest wissen, dass ich der Gottkaiser bin und als solcher nicht an die Macht der Magie glaube. Denn die einzige Macht, der wir vertrauen sollen, ist die Macht des Namenlosen Gottes.“
„Ich kann deine Stadt vor dem Ansturm der Barbaren retten, o Gottkaiser“, sagte Vaosdo Kallyari. „Und wer das vermag, der mag sich einen Magier nennen.“
„Du warst in Boranien. Und man hat dich fortgejagt.“
„Ich war in vielen Ländern. Nicht nur in Boranien.“
„Die Mauern meiner Stadt sind zehn Schritte dick. Warum sollte ich die Barbaren fürchten? Meine Vorgänger haben das auch nicht getan.“
„Eure Vorgänger hatten es mit Gegnern zu tun, die die Macht des Gottkaisers fürchteten. Aber die da draußen, das sind die Jünger des Gelähmten Propheten. Die werden nicht zögern, Arakand niederbrennen und Euch zu töten.“
Der Gottkaiser nickte.
Er kam auf sein Gegenüber zu. „Erkläre mir deine Magie, Vaosdo Kallyari“, verlangte er.
„Sie besteht letztlich nur aus der Ausnutzung der Naturgesetze“, sagte Kallyari. „Ich bin nicht ein Magier, sondern auch ein Heiler und Arzt.“
„Ich hörte, dass der König von Boranien deinetwegen seine Frau verlor.“
„Gerüchte.“
„Wirklich?“
„Wie ich schon sagte: Ich kann Euch Eure Stadt und und Eure Herrschaft retten. Meine Magie vermag das...“
„Ihr meint, Ihr könnt die Armeen der Ketzer-Barbaren vernichten?“
„Ja.“
„Dann kommen die Galbadoriner und machen mich zu ihrem Sklaven.“
„Auch sie kann ich Euch vom Leib halten. Denn mir steht die furchtbarste Waffe zur Verfügung, die sich denken lässt.“
Der Gottkaiser sah den angeblichen Magier mit einem skeptischen Gesichtsausdruck an. „Nun gut, ich will es mit Euch versuchen“, sagte er.
*
Ein paar Tage später zogen die Drachenvögel über Arakand. Große Flugreptilien aus dem hohen Norden und dem tiefen Süden.
Wenn die Drachenvögel den Schatten der Himmelsgrenze erreichten, der die Mitte der Welt anzeigte und parallel zur Hauptstraße Arakands verlief, dann bedeutete das nichts Gutes.
Es bedeutete, dass sich die Zweite Sonne schon sehr weit entfernt hatte.
Es bedeutete, dass das Wetter schlechter werden, dass der Regen zunehmen und die Ernte-Erträge zurückgehen würden. Und es bedeutete, dass die Ratten aus ihren Löchern kamen, um nicht zu ertrinken. Und dass mit ihnen der böse Hauch aus dem Boden stieg und Scharen unsichtbarer Insekten.
Und die Pestilenz.
Die durchdringenden Rufe der Drachenvögel waren eine Warnung. Die guten Zeiten, da die Zweite Sonne sich in einem Abstand zur Welt von Arakand befand, in der sie die Länder weder verbrannte, noch erkalten und mit Schnee, Regen, und Sturm schlagen ließ, waren vorbei.
Und manch einer würde sich die Zeiten herbeisehnen, in der das Glutfeuer des Zweiten Sonnenlicht so nahe war, dass es die Welt zu verbrennen drohte.
Dem überlieferten Glauben nach hatte der Gottkaiser die Macht, diesem Feuer Einhalt zu gebieten und es wieder fort zu weisen, auf dass es für viele Jahre in die Ferne des Kosmos entschwand, um in manchen Jahren dann am Himmel nicht größer als ein Mond zu erschienen.
Ein Winzling gegenüber der Ersten Sonne, ihrem Zwilling.
Um das Feuer abzuwehren hatte der Gottkaiser die ihm gegebene Macht.
Aber gegen den Hauch des Bösen, der aus dem Boden kroch, konnte selbst er nichts tun.
Wen kann es wundern, dass die Versuchung in diesen Zeiten groß war, sich einer Ketzer-Lehre anzuschließen....
*
Ein paar Jahre später...
Arep bei Arakand...
Auf den Dächern einiger Häuser hatten sich ein paar geflügelte Affen versammelt. Ouroungour wurden die Geschöpf genannt und die meisten von ihnen waren von den Dieben der Stadt dressiert worden.
Die geflügelten Affen schienen aufgeregt zu sein. Ein Schauspiel wie das, was sich nun in der enge Straße zu ihre Füßen abspielen sollte, bot sich auch ihn nicht alle Tage...
*
Das flackernde Licht Dutzender Fackeln ließ unzählige Schatten tanzen. Flammen loderten auf und dunkler Rauch quoll aus den Fenstern des zweistöckigen, herrschaftlichen Hauses an dem Weg der Steine in Arep, der maragenuesischen Kolonie bei Arakand.
Khaaria di Baragenzo zitterte und murmelte dabei ein Gebet. Das lange, kastanienbraune Haar fiel ihr unfrisiert und angegraut durch die Asche, die man ihr aufs Haupt gestreut hatte, über die Schultern. Die Lippen der jungen Frau bewegten sich flüsternd.
„Oh Herr, was haben wir getan!“, flüsterte ihr Bruder Arco, gerade 22 Jahre alt und damit anderthalb Jahre älter als Khaaria. „Der jüngste Tag ist nahe und das Tier des leibhaftigen Bösen wütet in Arakand...“
Die Pestknechte mit ihren schweren Umhängen und den Schnabelmasken riefen durcheinander und luden dabei zwei menschliche Körper auf den Karren. Es waren die bleichen, von Beulen gezeichneten Leiber von Khaarias Eltern, die der faulige Pesthauch befallen und innerhalb kürzester Zeit dahingerafft hatte. Getrocknetes Blut war ihnen aus Mund und Nase geronnen. Khaaria wollte sich dem Wagen nähern, aber einer der Pestknechte hielt sie auf und stieß sie grob zurück. Tränen rannen ihr über das Gesicht.
„Bleibt, wo Ihr seid und freut Euch der Zeit, die der Herr Euch noch gelassen hat!“
Der Blick hinter den Augenlöchern der Schnabelmaske wirkte unruhig.
Khaaria schluckte. Sie hätte schreien mögen und konnte es doch nicht. Ein dicker Kloß steckte ihr im Hals und schien sie daran zu hindern, auch nur einen einzigen Ton herauszubringen. Nicht einmal ein Gebet wollte jetzt mehr über ihre Lippen kommen.
Ein kühler Wind wehte über das Goldene Trinkhorn, jenen vor einer Generation künstlich angelegten Meeresarm, in dem der von einer gewaltigen Eisenkette geschützte gottkaiserliche Kriegshafen lag. Diese Kette wurde bei Gefahr hochgezogen, um fremde Schiffe an der Einfahrt zu hindern und die eigene Flotte zu schützen. Es gab noch eine zweite, ältere Kette, die seit Jahrhunderten Arakand mit dem auf dem etamitischen Meeresufer gelegenen Stadtteil verband, der deshalb auch 'das Kettenende' genannt wurde. Auf diese Weise konnte auf Befehl des Gottkaisers jederzeit die Meerenge von Arakand geschlossen werden. Die einzige Durchfahrt durch den weltumspannenden Kontinent, den man den Gürtel der Welt nannte.
Die Kette am Hafen des Goldenen Trinkhorns war erst später befestigt worden. Zu einer Zeit, da die Flotte Arakands nicht einmal mehr in ihrem eigenen Hafen sicher gewesen war und Plünderer aus Boranien versucht hatten, sich der Schiffe zu bemächtigen.
Aber das Wasser des Goldenen Trinkhorns, das Arep von der eigentlichen Stadt trennte, schützte keineswegs vor dem Miasma, dem Hauch des Bösen, der aus den Tiefen der Erde hervorquoll und so viel Leid und Verzweiflung über die Menschen brachte. Wenn irgendwo zwischen den rattenverseuchten Straßen Arakands mit ihren verwinkelten Häusern der Schwarze Tod umging, dann zogen die Wolken der Fäulnis und des Übels einfach über das Wasser und selbst eine Quarantäne war oft genug ohne Wirkung geblieben. Arakand war in den letzten hundert Jahren mehr als ein Dutzend mal von der Pestilenz heimgesucht worden. Manche sagten, dass der böse Hauch die Ratten im Schlamm der unterirdischer Kanäle wachsen ließ und unsichtbare Insekten nähre, die in Mund und Nase der Menschen eindrangen und sowohl Körper als auch die Seele verdarben.
Aus dem Halbdunkel waren Gesänge zu hören. Eine Prozession von Büßern zog durch die Straßen von Arep. Die Teilnehmer trugen graue Gewänder und flehten darum, vor dem jüngsten Gericht Gnade zu finden.
Die Flammen schlugen jetzt immer höher aus den Fenstern.
Die Luft war erfüllt von den scharfen, ätherischen Dämpfen. Es sollte nicht nur alles verbrennen, was sich im Haus befand, sondern es musste darüber hinaus auch ausgeräuchert werden. Die scharfen Dämpfe bestimmter Öle konnte das Übel vielleicht für lange Zeit zurück in die niederen Erdspalten und Sümpfe vertreiben, aus denen es gekrochen sein mochte.
Knarrend setzte sich der Wagen in Bewegung.
„Wir werden alle sterben und der Verdammnis anheimfallen“, murmelte Arco neben ihr. Seine Augen wirkten glasig. „Das Tier des Leibhaftigen Bösen ist mächtiger als der Namenlose Gott, sonst könnte das alles nicht geschehen!“
„Was redest du?“, fragte Khaaria entsetzt.
Arco sah sie an. Das Licht der Fackeln spiegelte sich in seinen dunklen Augen.
„Wie könnte es sonst sein, dass es kein Mittel gegen das Übel gibt, das uns heimsucht.“
„Du versündigst dich!“
„Der Gottkaiser wird uns nicht helfen. Und der Namenlose Gott selbst auch nicht.“
„Hör auf!“
„Wir sind auf uns allein gestellt. Ausgeliefert. Dem Hauch des Übels preisgegeben, das unserer Körper verfaulen lässt, noch ehe die Seelen ins Jenseits gelangen.“
Khaaria schlug ein Zeichen der Andacht. Einen Bogen, der den Himmelsbogen symbolisierte, mit dem der Namenlose Gott den Himmel der Welt von Arakand in zwei Hälften teilte. Die Heilige Zweiheit möge mir Glück in diesem Unglück bringen, dachte sie. Zwei Sonnen, zwei Hälften des Himmels, Gut und Böse, Glauben und Unglaube, Rechtgläubigkeit an die Macht des Gottkaisers und das Ketzertum des Gelähmten Propheten – die Welt schien in Gegensatzpaare geteilt zu sein.
*
Arco di Baragenzo neigte schon seit ein paar Jahren immer wieder zu Äußerungen, die der Ketzerei nahe kamen und in Maragenua vielleicht auch entsprechend verfolgt worden wären. Aber bis hier her, in den Herrschaftsbereich des Gottkaisers von Arakand, reichte die Macht der Kurie des galbadorinischen Bischofs nicht – allen Gerüchten um eine bevorstehenden Wiedervereinigung von galbadorinischer und Gottkaisertreuen Kirche zum trotz, die immer dann von Neuem aufkamen, wenn die Truppen des etamitischen Ketzer-Königs dem schrumpfenden Gottkaiserreich mal wieder irgendeinen Zipfel Land wegnahmen oder gar vor die Mauern der Stadt selbst vorrückten. Insgeheim hoffte so mancher, dass ein Heer der Vereinigten Rechtgläubigen Reiche Arakand vor den Etamitern rettete. Denn der König von Etamia war ein Anhänge der Ketzer-Leere des Gelähmten Propheten. Eine Leere, die bestritt, dass der Gottkaiser die Macht hatte, die Zweite Sonne fortzuweisen, wenn sie der Welt von Arakand zu nahe kam und sie zu verbrennen drohte und sich wie ein gewaltiger Glutball aufblähte, dessen Feueratem nichts mehr standzuhalten vermochte.
Allein der Gottkaiser, so der Glaube der Rechtgläubigen, hatte die Macht dazu.
Die Anhänger des Gelähmten Propheten hingegen behaupteten, dass der Gottkaiser von Arakand und seine Priesterschaft nur ihr Wissen um die Gesetze der Natur ausnutzten. Sie wüssten in Wahrheit, wie der Lauf der Welt von Arakand im Verhältnis zu ihren beiden Sonnen zu berechnen sei und daher wäre es dann auch möglich, im Vorhinein zu bestimmen, wann sich die Zweite Sonne wieder entfernen würde.
In Wahrheit sei es der Namenlose Gott selbst, der die Welt retten würde. Nicht der Gottkaiser.
Die Lehre des Gelähmten Propheten hatte sich in vielen Ländern des Gürtels der Welt ausgebreitet. Länder, die früher Teil des zerfallenen Reiches von Arakand gewesen waren. Länder, die aber auch nach dem Zerfall dieses Reiches immer noch an der geistlichen Anführerschaft des Gottkaisers festgehalten hatten. Länder, deren Menschen über Jahrtausende nach Arakand geblickt hatten, wenn die Zweite Sonne den Tageshimmel beherrschte und so hell strahlten, dass man die Himmelsgrenze, diesen Ring aus Staub und Geröll, der die Welt von Arakand in Äquatorhöhe umgab, selbst zur Mittagszeit nicht mehr zu sehen vermochte, weil das gleißendes Licht der Zweiten Sonne ihn überstrahlte.
Unter den abtrünnigen Ländern war eben auch Etamia, am Ostufer der Meerenge von Arakand gelegen. Einst war Etamia die letzte Provinz des Reiches gewesen – abgesehen von der Stadt selbst und dem sogenannten Kettenende, wie man den am Ostufer der Meerenge befindlichen Stadtteil nannte.
Doch nicht einmal die Fraktion der Rechtgläubigen war sich noch einig. Ausgehend von Maragenua und Galbador hatte sich eine abweichende Auslegung der Überlieferung verbreitet. Eine Auslegung, die sagte, dass man keine Ketzerei dulden dürfte und jeder Ketzer zu erschlagen sei. Der Bischof von Galbador galt als Anführer dieser Bewegung. Formal stand dieser immer noch in der Gefolgschaft des Gottkaisers. Tatsächlich aber sprach man längst von zwei Kirchen im Lager der Rechtgläubigen: Der Kirche von Galbador und der Gottkaisertreuen Kirche von Arakand. Die Kurie des galbadoreanischen Bischofs versuchte längst, die Vorherrschaft zu gewinnen. Ein Gottkaiser von ihrer Gnade wäre ihr recht gewesen.
Und ein Gottkaiser, der die Scheiterhaufen brennen ließ und Ketzer tötete. Nicht nur die Anhänger des Gelähmten Propheten, sondern vor allem die Abweichler in den eigenen Reihen. Die Angst, so ein Glaubenssatz der Galbadoreaner, macht gläubig. Die Freiheit erzieht zum Spott über das Höchste.
Der Gottkaiser von Arakand hatte allerdings ein gutes Augenmerk dafür bewiesen, was er den Bürgern im Inneren der dicken Mauern, die Arakand vor den Barbaren des Gürtels der Welt schützte, zumuten konnte und was nicht.
In letzter Zeit sprach man nun wieder öfter von einer Vereinigung aller Rechtgläubigen. Die galbadorinische Kirche und die des Gottkaisers von Arakand wollten sich gemeinsam gegen die Bedrohung wehren, die von der Ausbreitung der Leere des gelähmten Propheten ausging.
Aber diese Hoffnung schien genauso trügerisch zu sein wie jene, dass die Pestilenz die Stadt in Zukunft verschonte.
„Tut Buße! Das Tier des Unheils ist überall!“, rief Arco und übertönte damit sogar die Gesänge.
Khaarias Augen waren tränenblind. Sie murmelte ihre Gebete vor sich bin, so als würde eine geheime Kraft ihre Lippen bewegen und die Worte formen. Es schien von selbst zu geschehen.
Undeutlich hörte sie einen der Pestknechte etwas sagen, während sich der Zug, einem schaurigen Totentanz gleich, vorwärts bewegte. „Die Erben der Familie di Baragenzo haben Glück“, murmelte der Pestknecht unter seine Maske. „Das Haus ist aus Stein und wenn es ausgeräuchert ist, werden wenigstens die Mauern noch stehen...“
Ein leichter Regen setzte ein und sehr bald schon klebten Khaaria die Haare im Gesicht.
Ein Kreischen war zu hören.
Arco verscheuchte einen Ouroungour, der versucht hatte, ihn zu bestehlen. Der geflügelte Affe stob davon. Auch diese Geschöpfe starben an der Pest. Aber sie waren zu dumm, um sich vor ihr zu fürchten. Und so konnten die Diebe, die sie dressiert hatten, ihre geflügelten, flinken Diener auch zu solchen Gelegenheiten einsetzen.
Und sie taten es gerne.
Trauernde waren leichte Diebesopfer.
„In die Glut der zweiten Sonne mit dir, du Kreatur der Nacht!“, rief Arco wütend, während sich der geflügelte Affe halb fliegend halb kletternd an der Fassade eines Gebäudes rettete.
*
Khaaria folgte dem Wagen durch die Gassen. An viele Türen war ein Zeichen mit schwarzer Farbe aufgemalt worden – ein Kreuz, das ohne dabei abzusetzen mit einem einzigen Strich aufgetragen worden war. Ein Zeichen gegen den Schwarzen Tod, diese Geißel, die Gott einfach nicht von den Menschen Arakands nehmen wollte. Er allein musste wissen, weshalb. An manchen dieser Türen war nicht Farbe, sondern Blut verwendet worden. Schafblut. Ein alter Zauber. Aber dieser alte Zauber schien nicht mehr zu wirken. Khaaria kannte mindestens ein Dutzend Häuser, in die der Schwarze Tod trotz dieser schützenden Zeichen Einzug gehalten hatte. Der unsichtbare Todesbringer schlug scheinbar wahllos zu und holte sich, wen immer er wollte. Und es schien einfach keine Macht zu geben, die der Willkür seiner unberechenbaren Kraft hätte Einhalt gebieten können.
*
Der Regen war stärker geworden, als sie den Gebeinacker vor den Mauern von Arep erreichten, wo die Toten von den Pestknechten in Gruben geworfen wurden. Es gab keine Särge mehr zu kaufen und schon vor Wochen nahm man weder auf Konfession noch Stand Rücksicht. Selbst die mehrfach benutzbaren Pestsärge, an deren Unterseite eine Klappe angebracht war, sodass die Toten herausfielen, wenn man sie löste und der Sarg wieder aus der Grube hob, wurden nicht mehr verwendet. Ihr Holz war dunkel geworden vom blutigen, fauligen Auswurf, der den Toten noch aus dem Mund und anderen Körperöffnungen oder den aufgeplatzten Beulen rann, sodass die Pestilenz längst darin wohnte. Der Regen, der in diesem Jahr so stark wie selten war, hatte das Holz zusätzlich mit Fäulnis geschlagen und die häufig schon jahrelang verwendeten Pestsärge morsch und brüchig werden lassen, sodass die rostigen Nägel aus ihnen herausbrachen. Und es gab kaum noch Zimmerleute, die bereit und in der Lage gewesen wären, sie zu ersetzen. Die einen waren selbst vom Pesthauch geschlagen und lagen darnieder, die anderen hatte das Miasma der Furcht sich verkriechen lassen, denn manche Handwerker glaubten, dass ihnen das Anfertigen eines Pestsargs Unglück brächte und vielleicht sogar die Pestilenz erst anlockte.
Der Regen fiel jetzt in dicken Tropfen. Der Boden zu Khaarias Füßen war aufgeweicht. Das Wasser sammelte sich in Pfützen und trieb überall die Ratten aus ihren Löchern, die völlig die Furcht verloren hatten und wie trunken über den Acker schlichen – so wie man sie in den Straßen antreffen konnte.
Priester Armatteo da Creto versuchte diesem Augenblick einen letzten Rest von Würde zu geben. Er sprach ein Gebet, hatten doch die meisten der Toten schon keine heiligen Sakramente mehr empfangen können, bevor sie dahingeschieden waren. Armatteo war der letzte Priester der galbadorinischen Kirche, den es zurzeit in Arep noch gab. Alle anderen waren entweder geflohen, oder in Ausübung ihrer Pflichten gestorben. Armatteo war ein Mann in den Vierzigern. Sein Gesicht war fleckig und von Narben entstellt. Man sagte, er habe in seiner Kindheit als einziger eine Pestepedemie in dem Dorf Creto, unweit des gleichnamigen Berges bei Maragenua überlebt. Während der Schwarze Tod das ganze Dorf hinweggerafft hatte, war der Junge nach am leben gewesen. Reisende Mönche nahmen ihn mit – trotz der Tatsache, dass der kleine Armatteo jene Geschwüre trug, wie sie der Schwarze Tod häufig mit sich brachte. Aber die Mönche nahmen ihn dennoch zu sich und pflegten ihn. Dass er gesundete, werteten sie als ein Wunder. Es musste ein Zeichen sein, mit dem der Namenlose Gott ihre Menschlichkeit und Nächstenliebe belohnt hatte.
Seitdem, so verkündete es Armatteo da Creto immer wieder von der Kanzel, wenn er das Ritual durchführte, kannte er keine Furcht. Nicht vor dem Schwarzen Tod und auch nicht vor den etamitischen Ketzern, die der Lehre des Gelähmten Propheten folgten und deren Kanonenschläge selbst aus meilenweiter Ferne die Mauern Arakands erzittern ließen.
Und so stand Armatteo nun da und sprach unbeirrbar seine Gebete. Genauso unbeirrbar deckten die Pestknechte die Toten mit Erde zu, auf das mit ihnen das Böse dorthin verschwände, wo es hergekommen war.
„Der Beweis ist erbracht!“, hörte Khaaria ihren Bruder Arco mit schreckensbleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen sagen. „Der Leibhaftige Böse ist mächtiger als Gott es je war!“
„Hör auf, so zu reden!“, widersprach Khaaria.
„Es ist die Wahrheit, Schwester! Auch wenn du sie vielleicht nicht ertragen kannst! Wohin du auch siehst, siegt das Böse!“
Sie gingen jetzt um das Grab herum, während der Karren bereits wieder fortgerollt wurde und die Pestknechte aufs Neue ihrer schauerlichen Arbeit nachgingen. Von der anderen Seite der Begräbnisstätte hörte man lautes, hemmungsloses Wehklagen. Schreie, von Männern, Frauen und Kindern, die in ihrer Trauer nicht einmal mehr zu einem Gebet fähig waren und das Vertrauen in den Herrn offenbar verloren hatten wie es bei Arco der Fall war.
„Der Namenlose Gott hat das Übel geschaffen, um die Gläubigen zu prüfen“, sagte Armatteo da Creto, der Arcos Worte sehr wohl gehört hatte.
„Ach ja? Und im Moment prüft er wohl gerade uns?“
„Vertraue auf seine Führung, wie es dein Vater und deine Mutter getan hätten!“
„Man sieht, was ihnen das gebracht hat!“, rief Arco so laut, dass sich einer der unter seiner Maske wie ein unmenschliches, grauenvolles Fabelwesen der Hölle aussehender Pestknecht noch einmal umdrehte, bevor er den anderen folgte.
Armatteo legte Arco eine Hand auf die Schulter.
In diesen Tagen, da sonst so gut wie niemand es wagte, einen anderen zu berühren, aus Angst sich anstecken zu können, war Priester Armatteo eine Ausnahme. Ein menschgewordenes Zeichen der Furchtlosigkeit; jemand, der allein dadurch, dass er noch lebte, zu beweisen schien, dass der Herr auf seiner Seite sein musste und das, was er sagte, offenbar durch ihn inspiriert war.
Armatteos Blick ruhte für einige Momente nachdenklich auf dem jungen Mann.
„Du und deine Schwester, ihr braucht jetzt einander“, sagte der Priester schließlich. „Es wird schwer genug werden, das Handelshaus di Baragenzo zu erhalten...“
Arco lachte heiser. „Sorgt Ihr Euch um die Stiftungen, die mein Vater der Kirche überließ? Um das Krankenhaus von Arep, in dem die Armen von der Straße behandelt werden?“
Priester Armatteos von Narben übersätes Gesicht blieb unbewegt. Seine dunklen Augen musterten Arco eindringlich. „Für die Toten können wir nichts mehr tun. Sie sind in der Hand des Herrn. Aber ich sorge mich um dein Seelenheil, Arco!“
„Und um das Geld unserer Familie!“
„Ich kenne dich beinahe von Geburt an, mein Junge! Ich habe deiner Mutter geraten, dir den Namen eines Heiligen zu geben! Wenn du mir Geldgier unterstellst, bist du wirklich im Irrtum. Ich will euch nur helfen!“
„Ach, ja?“
„Arco!“, fuhr Khaaria dazwischen.
„Du bist zu arglos, Khaaria!“ Er drehte sich um und ging davon.
Khaaria sah ihm nach.
„Sieh nicht auf das, was ihr verloren habt, sondern auf das, was noch blieb“, sagte der Priester. „Denn nur letzteres führt dazu, dem Namenlosen Gott zu danken, anstatt ihn unbedachterweise zu verfluchen, was auf den ersten Blick so viel näherliegend zu sein scheint.“
„Ja“, flüsterte Khaaria. „Wenn ich in ein paar Wochen noch lebe, dann will ich das gerne tun...“
*
Tage später...
Eine Barkasse legte im Terios-Hafen von Arakand an. Gleichmäßig tauchten die Ruderblätter in das dunkle Wasser. Nebelschwaden hingegen in diesen letzten dunklen Stunden der Nacht über dem Wasser und quollen wie ein unheimlicher Hauch die Uferböschungen empor und hüllten die Schutzmauern ein. Die Lichter von Laternen waren nur als helle, verwaschene Flecke zu sehen.
Khaaria saß am Bug und blickte der Einfahrt zu diesem wichtigsten Hafen Arakands entgegen. Vor Jahrhunderten, als das Reich von Arakand noch existiert und größten Teil des Gürtels der Welt beherrscht hatte, war Terios der größte Handelshafen der Welt gewesen, aber auf diesen Glanz war ein immer größerer Schatten gefallen. Dass Arakand so viel häufiger als andere Städte von der Pest heimgesucht wurde, war dabei nur einer der Gründe. Ein noch entscheidenderer Umstand war wohl die militärisch zunehmend verzweifelte Lage. Eines konnte allerdings niemand der Stadt nehmen: ihre Lage an der Durchfahrt durch den Gürtel der Welt an der Meeresstraße von Arakand. Und der Schiffsverkehr zu den Ländern an den Küsten des nördlichen und des südlichen Meeres hatte nichts an Bedeutung verloren. Allerdings war Arakand inzwischen weit davon entfernt, den Schiffsverkehr dorthin noch allein kontrollieren zu können. Der größte Teil dieser Meerenge war längst im Besitz des etamitischen Königs.
*
Khaaria dachte darüber nach, ob es nicht vielleicht das Beste war, der Stadt den Rücken zu kehren. Seit Generationen waren die di Baragenzos hier ansässig. Vor fast zwei Jahrhunderten hatten Maragenueser dabei geholfen, die Stadt für die Anhänger des Gottkaisers zurückzuerobern und Oloccin Aerdna di Baragenzo, ein Vorfahre Khaarias, hatte sich mit seinem Schwert und seinem Geld an diesem Unternehmen beteiligt und war dafür reich belohnt worden. Das war die Grundlage für den Reichtum der Familie und den Aufbau des Geschäfts gewesen. Die Privilegien, die man Oloccin Aerdna gewährte, hatten das Handelshaus schnell wachsen lassen. Jede Generation hatte ihren Beitrag dazu geleistet, seinen Reichtum und seinen Einfluss zu mehren. Maragenua, die alte Heimat, blieb der wichtigste Herkunftsort der Waren, mit denen das Haus di Baragenzo handelte. Khaaria und Arco hatten beide ein paar Jahre bei Maragenueser Verwandten verbracht und dort den Unterricht von Hausgelehrten genossen. Aber als ihre eigentliche Heimat hatte Khaaria immer die Straßen von Arep empfunden und jenes Haus, das jetzt nur noch eine rauchende Ruine war.
Arco saß in der Mitte der Barkasse. Er wirkte völlig in sich versunken und blickte starr ins Nichts. Seitdem die Barkasse sie beide am Alata-Turm an Bord genommen und mit ihnen die Altstadt umfahren hatte, war er vollkommen schweigsam gewesen. Er brütete finster vor sich hin und schien die neue Situation einfach nicht annehmen zu können.
Eigentlich hatte Arco die Führung des Handelshauses übernehmen sollen. Khaaria klangen noch gut die Worte ihres Vaters im Ohr, die sein Bedauern darüber widerspiegelten, dass Arco sich nie mit jener Intensität für das Geschäft interessiert hatte, die sein Vater sich gewünscht hätte. Oft genug war deswegen Streit zwischen den beiden aufgeflammt. Schlussendlich aber hatte sich dann wohl die Erkenntnis durchgesetzt, dass Arco di Baragenzos aufbrausende, zur Unberechenbarkeit neigende Art die Zukunft des Handelshauses gefährdete. Nicht zuletzt deswegen war im Testament die alleinige Verfügungsgewalt nicht auf ihn übertragen worden. Arco sah darin eine nachträgliche Bestrafung dafür, dass er oft so unbotmäßig gewesen war, während sein Vater nichts anderes als die Bewahrung dessen im Sinn gehabt hatte, was mehrere Generationen von di Baragenzos mit Schweiß und Blut aufgebaut hatten. Dass der Handelsherr seinen letzten Willen bereits zu Lebzeiten und in bester Gesundheit öffentlich gemacht hatte, musste Arco als zusätzliche Schmähung empfinden. Nach Khaarias Eindruck war es dadurch zum endgültigen und nicht wieder gut zu machenden innerliche Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen.
Was jetzt werden würde, war nicht gewiss.
Fest stand nur, dass Khaaria und ihr Bruder zu gleichen Teilen das Vermögen und die Besitztümer ihrer Eltern geerbt hatten und dass es deren sehnlichster Wunsch gewesen wäre, wenn sich in der nächsten Generation dieser Besitz erhalten und mehren würde, sodass er die Lebensgrundlage ihrer Nachkommen sein konnte.
Die sechs kräftigen Ruderer, die die Barkasse jetzt mit ihren Ruderschlägen in die offene, durch Leuchtfeuer gekennzeichnete Einfahrt des Terios-Hafens trieben, waren arakandische Tagelöhner, die für ein paar Münzen angeheuert worden waren, um Arco und Khaaria di Baragenzo unter Umgehung aller Quarantäne-Bestimmungen in den Terios-Hafen zu bringen. Niemand, der aus Arep kam, hatte im Moment irgendeine Möglichkeit, den Meeresarm zu überqueren, den man das Goldene Trinkhorn nannte und dieses Viertel vom eigentlichen Arakand trennte. Jener Stadtteil, der von der Pest betroffen waren, sollten isoliert bleiben. Aber es gab nicht genug Kräfte, um das wirklich kontrollieren zu können. Und die wenigen Männer, die der Gottkaiser unter Waffen hatte, waren vorrangig für andere Aufgaben vorgesehen - zum Beispiel dafür, die große arakandische Mauer zu besetzen, die seit geraumer Zeit auch als letztes Bollwerk gegen die etamitischen Anhänger des Gelähmten Propheten diente.
Baladisten oder Baladusianer nannte man letztere auch, denn der Name des Gelähmten Propheten hatte Baladus gelautet.
Davon abgesehen verfügte das Haus di Baragenzo über beste Beziehungen zur Hafenverwaltung. Das war nicht nur in Zeiten der Pest eine Überlebensfrage für jeden, der in größerem Stil in jener Stadt, Handel treiben wollte.
Die Barkasse legte schließlich an. Einer der Seeleute sprang an Land und vertäute sie.
„Eure Fahrt ist zu Ende, Herrin“, sagte der Steuermann an Khaaria gerichtet. Er sprach Hoch-Arakandisch. Khaaria beherrschte diese Sprache ebenso gut wie ihren maragenueser Dialekt oder das galbadorinische Arakandisch, das sie in seiner reinen und klaren Form hatte erlernen müssen, da es das Hoch-Arakandische im Verlauf der letzten Jahrhunderte als Lingua Franca in einigen Teilen des Gürtels der Welt abgelöst hatte und seine Beherrschung daher unerlässlich für jeden Reisenden oder Handeltreibenden in diesen Gegenden war.
Khaaria stieg an Land. Sie fühlte sich so schwach wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ein flaues, drückendes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar. Sie hatte in den letzten Tagen nichts gegessen und sehr wenig getrunken. Dieses Fasten war noch nicht einmal Teil der Bußgebete gewesen, die sie in Kapelle des Namenlosen Gottes am Ende des Steinernen Weges in Arep absolviert hatte. Vielmehr hatte sich einfach keine Gelegenheit gefunden. Und davon abgesehen konnte jeder Laib Brot, jeder Schluck Wasser und alles, was sonst in den Körper drang, auch die Pestilenz mit sich bringen, von der bisher niemand wirklich wusste, was sie auslöste und verbreitete. Sie war wie die Pfeile eines Armbrustschützen, der im Hinterhalt lauerte. Nur er allein wusste, auf wen er zielte, aber für diejenigen, deren Körper von den Bolzen zerschmettert wurden, war es wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Etwas, gegen das es keine Verteidigung geben konnte. Das vor allem machte es so grauenvoll.
Arco folgte seiner Schwester.
In der Nähe der Kaimauer war der Schatten eines zweispännigen Wagens zu sehen, der sich aus dem aufkommenden Nebel abhob. Eine hochgewachsene Gestalt trat auf Khaaria und Arco zu. Eine der wenigen Öllaternen, die die ganze Nacht über den Bereich in unmittelbarer Nähe der Kaimauer erhellten, beschien das stark konturierte Gesicht eines Mannes von unbestimmtem Alter. Das Haar an seinen Schläfen war grau, ebenso der Bart, der sein ohnehin sehr spitz zulaufendes Kinn noch stärker hervorhob.
Er trug eine Lederkappe mit Fasanenfeder und einen langen Rock. An dem breiten Gürtel hing neben einer Geldbörse auch ein kurzes Seitschwert, wie es viele Händler und Kaufleute mit sich führten – zumeist mehr zur Zierde als um sich im Ernstfall tatsächlich damit zu verteidigen.
„Edivad!“, stieß Khaaria hervor.
„Kommt! Wir sollten hier kein unnötiges Aufsehen erregen!“
„Sind die Hafenwächter nicht immer mit ausreichenden Zuwendungen bedacht worden?“, fragte Arco höhnisch.
Edivad wandte den Blick an Arco. „Ihr könnt sicher sein, dass uns die Hafenwache treu ergeben ist. Trotzdem ist es besser, wenn man euch nicht im Bußgewand und mit Asche auf dem Haupt sieht.“
„Muss man sich jetzt schon für seine Bereitschaft zur Buße schämen?“, spottete Arco.
„Wo gebüßt wird, ist auch der Grund für die Buße zu Hause – und das ist die Sünde“, erwiderte Edivad ruhig. „Und die wiederum lockt das unsichtbare Fliegengeschmeiß an, das die Pestilenz verbreitet, in dem es in Nasen und Ohren hineinkriecht.“
„Ach so ist das!“
„Ja, so ist das!“
Nur mit Mühe schien Edivad den Ärger über Arcos herablassenden Tonfall beherrschen zu können. Vielleicht ahnte Edivad auch, dass Arcos Überheblichkeit gegenüber Bediensteten nach dem Tod der Eltern wohl vollkommen ungehemmt zum Vorschein kommen würde, sodass jeder, der für das Haus di Baragenzo arbeitete, schwierige Zeiten zu erwarten hatte.
Edivad führte die beiden Geschwister zum Wagen. Sie stiegen auf und der Kutscher trieb die Pferde voran. In halsbrecherischer Geschwindigkeit jagte der Wagen die Gassen entlang und erreichte wenig später die Mese, jene große Ost-West-Straße in Arakand, die vom Goldenen Tor am Südende der arakandischen Mauer über das Forum vorbei am ehemaligen Hippodrom führte, das inzwischen zu einem unkrautüberwachsenen Ruinenfeld und Steinbruch verkommen war. Zu Zeiten des Großreichs hatten hier die Gottkaiser dem Volk Vergnügungen und Spiele geboten. Aber diese Zeiten waren lange vorbei und nur noch Erinnerung. Die Mese endete schließlich vor dem Gottkaiserpalast.
Der Wagen nahm die Mese in westliche Richtung, während im Osten, jenseits der unübersehbaren großen Kuppelbauten und des gewaltigen Hippodroms das verwaschene Licht des neuen Tages im Nebeldunst heraufdämmerte.
„Ich habe die Gästeräume des Kontors herrichten lassen. Dort werdet ihr bis auf Weiteres wohnen“, erklärte Edivad in der ihm eigenen, ruhigen Art.
„Habt Dank, Edivad“, sagte Khaaria. „Wir wüssten nicht, was wir ohne Euch tun sollten!“
„Ich habe Eurem Vater und sogar noch Eurem Großvater treu gedient“, erklärte Edivad. „Und es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, jetzt dazu beizutragen, dass das Handelshaus di Baragenzo diesen schwersten Schlag seiner Geschichte überlebt... Es geht um die Zukunft, Khaaria!“
Ein mattes, schwaches Lächeln glitt über Khaarias Gesicht. „Das sind auch die letzten Worte, die Vater zu uns sagte, kurz bevor das Leben ihn verließ...“
„So sollten wir alles tun, um sein Vermächtnis zu bewahren! Und Euer Vater hat mir dazu die Vollmachten über seinen Tod hinaus gegeben.“
Edivad entstammte einer traditionsreichen Familie aus Tarastan, die ursprünglich in Exandrya ansässig gewesen war. Für das Haus di Baragenzo war er seit langem als Schreiber und Prokurist beschäftigt gewesen.
Edivad Schreiberling, so nannte er sich und so war er auch in Arakand, Maragenua und Karadig bekannt. Und selbst am Königshof von Boranien hatte man ihn bereits gesehen.
Für Khaaria war er von klein auf einfach nur 'Edivad' gewesen – ein Mann, der mehr als nur ein treuer Freund des Hauses war. Abgesehen von ihren Eltern vertraute sie allenfalls noch dem Priester Armatteo da Creto auf ähnliche Weise. Und was die Zukunft des Hauses di Baragenzo anging, würden dessen Erben auf die Hilfe und den Beistand des Tarastaners mehr angewiesen sein denn je.
„Ein Arzt wird Euch gleich nach Eurer Ankunft beide eingehend untersuchen“, erklärte Edivad.
„Ein Arzt?“, echote Khaaria und in ihrem Tonfall schwang durchaus mit, dass ihr diese Aussicht nicht allzu sehr behagte. „Oder ein Magier?“
„Gibt es da einen Unterschied? Ob Medicus oder Magicus – Hauptsache, es gibt eine Hoffnung auf Heilung“, sagte Edivad.
*
Wie hilflos hatte sie doch schon allzu oft die Ärzteschaft im Angesicht dieser furchtbaren Krankheit gesehen. Nicht einmal die fortgeschrittene Medizin der Tarastaner schien gegen die Pest ein Heilmittel zu kennen. Und vielleicht gab es das auch gar nicht. Vielleicht hatten alle diejenigen Recht, die in dieser Seuche eine Geißel des Namenlosen Gottes sahen, der man nur durch Frömmigkeit und ein gottgefälliges Leben, aber nicht durch Heilgetränke von beißendem Duft entgehen konnte, deren Dämpfe nur in den Augen brannten, aber das Übel nicht aus den Körper herauszubrennen vermochten.
„Es handelt sich um den fähigsten Pestarzt der ganzen Welt von Arakand. Angeblich hat sogar der große Acelsus von ihm gelernt und er soll die Stadt Wharau in Stromland mit seinen Maßnahmen vor einer drohenden Pestepedemie bewahrt haben. Der Admiralsregent von Karadig soll ihn angeblich als Berater zu halten versucht haben, aber nicht einmal die gut gefüllten Schatzkammern Karadigs waren ausreichend, um diesen außergewöhnlichen Mann weiter bezahlen zu können!“
„Wenn er Reichtum sucht – was will er dann in dem elend heruntergekommenen Arakand?“, fragte Khaaria. „Und in wessen Dienste steht er hier, wenn schon der Admiralsregent ihn nicht zu bezahlen vermag?“
Edivad lächelte nachsichtig. Er stieß ein Stoßgebet in tarastanischer Sprache aus. Diese Angewohnheit hatte er schon gehabt, solange Khaaria sich zurückerinnern konnte.
„Vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt“, erklärte er. „Wenn ich gesagt habe, dass Geld ihn nicht in seiner karadizianischen Heimat halten konnte, dann nicht, weil ich damit andeuten wollte, es käme ihm in erster Linie auf Reichtum und Profit an. Er ist Arzt und kein Kaufmann. Und er ist seit vielen Jahren von dem Gedanken besessen, die Pest zu erforschen. Und wenn man mehr darüber erfahren will, dann tut man gut daran, sich dorthin zu begeben, wo man dem Objekt der eigenen Wissbegier mit möglichst großer Wahrscheinlichkeit auch begegnet.“
„Er ist Karadizianer?“, wunderte sich Khaaria. „Wie heißt er?“
„Vaosdo Kallyari. Erschreckt Euch nicht, wenn er Euch gegenübersteht oder wenn er Euch auffordert, eigenartige Dinge zu tun. Er weiß sehr genau, was er tut. Der Gottkaiser vertraut ihm seit vielen Jahren.“
Khaaria sah Edivad fragend an. Eine Falte hatte sich auf ihrer glatten, aber von Ruß befleckten Stirn gebildet. „Ist es nicht ein Risiko, sich von einem Arzt des Gottkaisers untersuchen zu lassen? Edivad, was ist, wenn sich die Befunde bei Hof herumsprechen und sie von den falschen Schranzen benutzt werden, um Intrigen zu spinnen?“
„Ein gutes Argument, Schwesterlein!“, mischte sich nun Arco ein, der sich bisher zurückgehalten und so gewirkt hatte, als würde ihn weder das Gespräch, noch die bevorstehende Begegnung mit einem Arzt in irgendeiner Weise besonders interessieren. „Zumal er doch Karadizianer ist – und wir wissen doch beide, mit welch üblen Tricks uns die Karadizianer lieber heute als morgen aus dem Geschäft drängen würden!“
„Ihr habt nicht Unrecht“, gestand Edivad ein. „Aber was Vaosdo Kallyari angeht, so sind Eure Bedenken unbegründet, Arco. Wie gesagt, der Gottkaiser vertraut ihm seit vielen Jahren. Er berief ihn in seine Dienste, nachdem seine Frau an der Pest gestorben war.“
„Ein weiterer Beweis dafür, dass die Macht Leibhaftigen Bösen inzwischen überall zu Hause ist – auch und vor allem im Palast des Gottkaisers!“, meinte Arco.
„Du redest wirres Zeug, Arco!“, sagte Khaaria.
„Ach ja? Hast du den Tag nicht mehr in Erinnerung, als die Gemahlin des Gottkaisers starb? Jedem muss spätestens von da an doch klar gewesen ein, dass die Macht des Übels selbst die fugenlosen Wände des Gottkaiserlichen Palastes hindurchgedrungen ist!“ Arco schüttelte energisch den Kopf. „Ich werde mich von diesem Quacksalber nicht untersuchen lassen!“, entschied er. „Es besteht kein Anlass dazu!“
„Es ist unumgänglich, sich untersuchen zu lassen!“, erwiderte Edivad in einem Tonfall, der eine wohlwollende Bestimmtheit ausdrückte, die keinen Widerspruch duldete. „Nur, wenn Euch Meister Kallyari als jemand einstuft, der nicht in der Gefahr steht, die Krankheit zu verbreiten, werdet Ihr noch damit rechnen können, Eure Anliegen bei Hof vortragen zu dürfen. Und darauf sind wir angewiesen, wie ich Euch erinnern darf, Arco!“
„Ihr redet wie mein Vater!“, maulte Arco. „Aber bildet Euch nur nicht ein, dass Ihr dieselben Rechte mir gegenüber hättet oder dass nun alles beim alten bliebe, Tarastaner! Das Testament mag Euch die eine oder andere Befugnis über die Geschäfte geben, aber mehr nicht!“
„Arco, seid vernünftig! Sonst setzt Ihr alles aufs Spiel, was Generationen vor Euch aufgebaut haben! Und das könnt Ihr unmöglich wollen!“
Arco antwortete nicht.
Während der Wagen weiter die Straße entlang fuhr, die immer häufiger von Schlaglöchern unterbrochen wurde.
Edivad wandte sich an Khaaria. „Vielleicht habt Ihr den nötigen Einfluss auf Euren Bruder, um ihm zu erklären, weshalb ihm und Euch unbedingt eine völlige Freiheit von jeglichen Symptomen des Schwarzen Todes bescheinigt werden muss. Andernfalls wird man Euch auch geschäftlich auf eine Weise meiden, die den Ruin mit sich bringen kann.“
„Vielleicht überschätzt Ihr meinen Einfluss“, sagte Khaaria bescheiden und mit einem leicht resignierten Tonfall. Früher hatten sie sich sehr nahe gestanden und Arco hatte all die Zweifel mit ihr geteilt, die ihn innerlich zerrissen. Fragen nach dem Sinn des Lebens im Angesicht einer Welt, die aus den Fugen zu geraten schien, Fragen nach der Macht des Namenlosen Gottes, der doch angeblich allmächtig war und trotzdem das Leid und den allgemeinen Verfall nicht zu verhindern vermochte und seine Macht so schrecklich selten erkennen ließ, dass man darüber vom Glauben abfallen mochte. All diese Dinge hatten ihn zum Leidwesen seines Vaters immer schon mehr interessiert, als die Belange des Geschäftes und die Pflege guter Handelsbeziehungen. Geld und Gut bedeuteten ihm nicht viel, denn für ihn waren sie selbstverständliche Attribute seines bisherigen Lebens und stets im Überfluss vorhanden gewesen. Schon diese gleichgültige Haltung den materiellen Dingen gegenüber hatte ihn in einen schier unüberbrückbaren Gegensatz zu seinem nun der Pest erlegenen Vater gebracht. Am liebsten wäre Arco seinerzeit in Maragenua geblieben und einem Orden beigetreten, um sich ganz dem Studium der letzten Fragen widmen zu können. Aber sein Vater hatte dafür nicht das geringste Verständnis aufgebracht und es war immer deutlicher geworden, wie grundverschieden der alte Handelsherr Lukkar di Baragenzo und sein Sohn doch waren. Einzig die Tatsache, dass sie beide nach Heiligen benannt waren, schien sie zu verbinden. Oft genug hatte Khaaria mitangesehen wie ihre Mutter Atarina vergeblich versucht hatte, zwischen den beiden zu vermitteln. Letztlich hatte sich Arco scheinbar dem Willen seines Vaters gebeugt. Zumindest dem äußeren Anschein nach.
„Wir hätten niemals in diese verfallende Ruinenfeld zurückkehren sollen, Schwester“, murmelte Arco an Khaaria gewandt, während er auf die dunklen Schatten der großen Häuser und Türme sah, die entlang der Mese standen. „Wie spärlich ist die Beleuchtung in der Stadt inzwischen! Früher soll Arakand des Nachts einem Sternenmeer geglichen haben. Jetzt hausen in manchen Vierteln nur noch die verblassenden Schattengeschwister einer glorreichen und erhabenen Vergangenheit. Vielleicht ist es gut, dass die Straßen nicht mehr so hell erleuchtet sind, dass sich der Lichterschein in den goldenen Kuppeln der Tempel und Kathedralen spiegelt. Vielleicht ist es gut so, denn so sieht man mehr Schatten – und nicht das volle Ausmaß des Verfalls, wie es am Tag der Fall ist. Es ist ein langsamer, qualvoller Tod, den diese Stadt stirbt. Vielleicht ist sie sogar schon nichts weiter als ein großer, verwesender Leichnam und wir sind wie die Maden, die sich von seinen gerade noch genießbaren Überresten ernähren.“
„Was sollen diese Worte, Arco?“, fragte Khaaria. „Seien wir lieber froh, der Pest entronnen zu sein.“
Arco di Baragenzo schüttelte den Kopf.
„Es gibt hier keine Zukunft, Khaaria. Schon unser Großvater hätte seine Besitzungen am Goldenen Trinkhorn verkaufen sollen und dies vielleicht sogar noch mit Gewinn tun können! Und wie ist es jetzt? Eines Tages wird der etamitische König die Stadt erobern. Mag sein, dass seine Kanonen den Mauern von Arakand heute noch nichts anhaben können. Aber wenn es so weitergeht, werden diese Mauern irgendwann von selbst verfallen, so wie alles andere auch! Es gibt nicht genug Handwerker, die sie erhalten und von dem Moos befreien könnten, dass sich in ihre Fugen setzt. Die Fäulnis dieses Niedergangs hat sich überall eingeschlichen und die aufsteigenden Dämpfe des Bösen zerfressen die Gemäuer von innen heraus!“
Seine Augen waren weit aufgerissen, als er diese Worte sprach und Khaaria wusste, dass es sinnlos war, ihn jetzt anzusprechen. Immer öfter steigerte er sich in einen Redefluss hinein, der sie an die fanatischen Prediger und Geißler erinnerte, die man inzwischen an jeder Straßenecke antreffen konnte und die nicht müde wurden, vom baldigen Ende der Welt zu reden. Und davon, dass das zweite Sonnenlicht die Welt irgendwann verbrennen würde, wenn der Gottkaiser es nicht mehr fortzuweisen vermochte...
Der Tag des letzten Feuers sei nahe...
So furchtbar nahe...
Der Wagen erreichte das Außentor des Kontorgebäudes, das von einer hohen Mauer umgeben war. Immer zahlreicher wurde das Diebesgesindel, das die Straßen Arakands unsicher machte. Man konnte sich kaum auf Hilfe durch die Söldner des Gottkaisers verlassen, wenn es darum ging, sein Eigentum zu schützen. Und gegen die dressierten Ouroungour hatte ohnehin niemand eine Chance. Die geflügelten Affen waren so schnell und skrupellos, dass man seiner Habe schon verlustig gegangen war, ehe man sich hätte wehren können. Es kam sogar hin und wieder vor, dass Gardisten des Gottkaisers mit Dieben gemeinsame Sache machten und ihren Teil vom Erlös bekamen, den die Beute auf einem der wilden Hinterhofmärkte erbrachten, die von den Gilden der Kaufleute und Handwerker vergeblich bekämpft aber letztlich nie erfolgreich unterbunden worden waren.
Der Kutscher rief ein Losungswort auf Galbadorin. Ein Wächter öffnete daraufhin das Tor. Der Wagen fuhr in den Innenhof. Edivad hatte darauf geachtet, dass die Wächter, die für das Handelshaus di Baragenzo tätig waren, möglichst kein Wort Arakandisch verstanden. Die Gefahr, dass sie sich dann mit verbrecherischen Elementen aus den Gassen Arakands bestechen ließen, und für ein paar Silberstücke wertvolle Hinweise an Diebe und Einbrechergesindel herausgaben, war dann geringer. So zumindest hatte die Ansicht des alten Lukkar di Baragenzo gelautet. Natürlich lernten auch diese Männer, die zumeist von Edivad angeheuert worden waren, irgendwann die Sprache, die in dieser Stadt am meisten gesprochen wurde und sich auch als Amtssprache durchgesetzt hatte – zumal inzwischen der Hass auf die sogenannten Galbadoriner, worunter man sämtliche Angehörige der galbadorinischen Kirche ebenso zusammenfasste wie alle Sprecher eines der inzwischen recht zahlreich gewordenen Mundarten der galbadorinischen Sprache.
Der Wagen hielt nicht vor dem Hauptgebäude, sondern vor einem der Nebenhäuser. Edivad stieg aus und Arco wollte ihm folgen. Aber Khaaria hielt ihn zurück. „Ich bitte dich, tu was Edivad verlangt und lass dich von diesem Kallyari untersuchen! Du wirst sonst nur Misstrauen säen und womöglich werden sich selbst unsere Angestellten vor dir fürchten, weil sie glauben, dass auch du den Keim des Bösen in dir trägst!“
„Ach, Schwester, ist das nicht alles so furchtbar gleichgültig! Was spielt es schon für eine Rolle, was mit dem Handelshaus di Baragenzo oder sogar mit dieser Stadt wird? Wir sind doch alle nur Sandkörner, die durch übermächtige Hände rieseln, ohne sich dagegen wehren zu können. Wir haben geglaubt, dass es die Hände des Namenlosen Gottes sind, die das tun, aber vielleicht sind es nur die Hände achtlos spielender Kinder, die überhaupt nichts mit der Welt im Sinn haben, außer dass sie sie auf eine Weise verändern, die ihnen Abwechslung und Erlösung aus ihrer Langeweile verspricht...“
„Ich hoffe, dass du das nie einen Mann der Kirche hören lässt – ganz gleich welcher Kirche übrigens!“, gab Khaaria zurück. „Und im übrigen geht es hier zur Abwechslung um die kleinen, praktischen Dinge des Lebens und nicht um die Frage, wann der jüngste Tag anbricht und welche Kräfte die Welt in ihrem Innersten bewegen. Tu einfach, was jetzt notwendig ist!Tu es im ehrenden Gedenken an deine Eltern!“
Arco lachte heiser und Khaaria erschrak, als sie die Bitterkeit erkannte, die aus dem Tonfall ihres Bruders überdeutlich herauszuhören war.
„Hat Vater vielleicht jemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was wirklich wichtig ist? All das, was ihm wesentlich erschien - war es nicht nur hohler Tand? Was konnten sie nun davon mitnehmen, als die Pestknechte sie in die Dunkelheit ihres Grabes herabließen?“ Er schüttelte energisch den Kopf und gab die Antwort selbst. „Nichts, Khaaria! Gar nichts!“
„Dann tu es einfach, weil ich dich darum bitte, Arco“, erwiderte sie mit großem Nachdruck im Tonfall.
Ihre Blicke begegneten sich. Der flackernde Schein einer Laterne, die vor dem Eingang des Nebengebäudes brannte, spiegelte sich in seinen Augen, so dass es Khaaria vorkam, als wären sie von einem beinahe dämonischen Glanz erfüllt. Er atmete tief durch. „Also gut“, sagte er er schließlich. „Ich tu dir den Gefallen.“