Читать книгу Zwei Fantasy Sagas: Der Magier von Arakand/Die Schlangenmutter - Abraham Merritt - Страница 13

Viertes Kapitel

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Jeder Schritt erzeugte in den hohen, weiten Säulenhallen des Gottkaiserlichen Palastes ein Echo. Der Palastbezirk war für sich genommen schon größer als in manch anderem Reich die ganze Hauptstadt. Eine Stadt in der Stadt, abgetrennt durch hohe Mauern und in gewisser Weise ein miniaturisiertes Ebenbild der gesamten Metropole. Dieser Bereich umfasste die äußerste Spitze jener Halbinsel, auf der Stadt lag. Die Mauern erreichten zwar nicht ganz die gigantischen Ausmaße des arakandischen Bollwerks, waren aber immer noch mächtig genug, um für den Fall der Eroberung der eigentlichen Stadt, eine letzte Festung mit eigenem Hafen zu besitzen, in deren Schutz man sich zurückziehen konnte. Die Bevölkerung, die zurzeit noch in Arakand lebte, war inzwischen schon wohl so weit zurückgegangen, dass wahrscheinlich der Palastbezirk notfalls sogar ausgereicht hätte, um alle Einwohner zu beherbergen – inklusive der maragenuesischen und und karadizianischen Kolonisten aus Arep.

Khaaria di Baragenzo trug ein vornehmes, brokatbesetztes Kleid für diesen Palastbesuch. Es war eigens für diesen Anlass angefertigt worden, denn von ihrer eigenen Garderobe war ihr seit der Ausräucherung des Hauses in Arep ja nichts geblieben. Es war vornehm genug, um dem Anlass einer Gottkaiserlichen Audienz zu genügen, andererseits aber auch so schlicht, dass sich keine der Hofdamen in den Schatten gestellt fühlen musste oder sie gar den Unwillen der sehr mächtigen rechtgläubigen Geistlichkeit zu spüren bekam. Schlicht und doch edel, in Demut vor dem Gottkaiser und doch mit allem gebotenen Selbstbewusstsein einer Frau, die ein Handelshaus vertrat, dessen Begründer schließlich auch dazu beigetragen hatte, das regierende Gottkaisertum neu zu begründen.

Khaaria hatte durchaus noch durch die Gespräche ihrer Eltern im Gedächtnis, welcher Balanceakt der Diplomatie eine Audienz beim Gottkaiser sein konnte, dessen zur Schau gestellte Erhabenheit und Entrücktheit in einem immer krasseren Widerspruch zu seiner mehr und mehr schwindenden Machtfülle stand.

Das gute Verhältnis zum Gottkaiser war für das Handelshaus di Baragenzo von existenzieller Wichtigkeit. Ohne die Handelsprivilegien, die die Kaufleute aus Maragenua eingeräumt bekamen, wäre seine Position kaum haltbar gewesen. Und dasselbe galt natürlich für die karadizianische Konkurrenz. Aber auch wenn sich der Gottkaiser seinem Amt entsprechend stets so gebärdete, als sei diese Abhängigkeit einseitig, war sich der gegenwärtige Amtsträger mehr als viele seiner Vorgänger bewusst, dass sie in Wahrheit beiderseitig war und vielleicht sogar inzwischen die ausländische Kaufmannschaft sogar ein gewisses Übergewicht besaß.

Khaarias Herz klopfte wie wild, während sie an den erhabenen Säulen entlangschritt, an deren jeder ein Wächter stand – Söldner aus dem Reich an der Steinküste zumeist. Begleitet wurde sie von ihrem Bruder Arco, der sich sichtlich unwohl fühlte. Er trug einen Anzug nach der jüngsten Maragenueser Mode, angefertigt von einem Schneider, der früher in Arep seine Werkstatt gehabt hatte, nun aber eine der vielen antiken Villen erworben hatte, die in den Außenbezirken an der arakandischen Mauer langsam verfielen, weil die meisten von ihnen nicht mehr bewohnt, geschweige denn erhalten wurden. Inzwischen hatten sich in vielen dieser Villen Bauern einquartiert, da die Grundstücke, auf denen diese Anwesen errichtet worden waren, sich vorzüglich als Acker- oder Weideland eigneten. Man ließ diese Bauern im allgemeinen gewähren, denn die eigentlichen Besitzer dieser Anwesen hatten sich oft schon vor mehr als einer Generation Arakand den Rücken gekehrt und sich längst andernorts angesiedelt. Und durch die landwirtschaftliche Tätigkeit dieser Neusiedler wurde zudem dazu beigetragen, dass Arakand einer möglichen Belagerung länger widerstehen konnte und selbst eine ebenfalls nicht auszuschließende Seeblockade nicht ganz so verheerende Auswirkungen nach sich ziehen konnte.

Jener Schneider zählte inzwischen auch bei Hof zu den einflussreichsten und vor allem bestinformiertesten Persönlichkeiten. Sein Name war Kasilvestre Sarto, aber unter den Maragenuesern wurde er auch häufig hinter vorgehaltener Hand Kasilvestre der Fromme genannt.

Khaaria kannte Kasilvestre Sarto seit sie fünfzehn war. Ihre Eltern waren in der Villa des Schneidermeisters zu Gast gewesen – einerseits um Maß nehmen zu lassen für ein paar Kleidungsstücke, die anzufertigen waren, aber andererseits auch, um bei Kasilvestre die letzten Neuigkeiten darüber zu erfahren, wie am Hof gerade die Stimmung war, wer in Ungnade zu fallen drohte und wer gerade im Begriff stand, hoch emporzusteigen. Kasilvestre hatte einen so ungehinderten Zugang zu den Mächtigen der Stadt wie sonst kaum jemand. Und zudem hatte er den Vorteil, dass man ihn kaum wahrzunehmen schien und in seiner Gegenwart recht ungeniert Dinge zur Sprache brachte, die eigentlich für niemandes Ohren bestimmt waren. Es war sehr wahrscheinlich, dass sie ihn auch hier im Palast antreffen würde, denn die Audienz, zu der die Vertreter des Hauses di Baragenzo geladen waren, war natürlich nicht nur ihnen allein gewährt worden, sondern einer größeren Zahl von Würdenträgern, Kaufleuten und anderen Persönlichkeiten, die aus irgendeinem Grund für Wert befunden wurden, dass der Gottkaiser ihnen für ein paar Augenblicke seine Aufmerksamkeit schenkte.

Wenig später erreichten sie die Türen zum Audienzsaal. Manchem Stadttor andernorts wären sie ebenbürtig gewesen. Wächter standen davor. Außerdem einer der untergeordnete Logotheten des Gottkaisers, deren vornehmste Aufgabe es ursprünglich war, für den Herrscher Arakands das Wort an seine Untergebenen zu richten und umgekehrt die Anliegen der Untertanen und Bittsteller an den Herrscher zu übermitteln. Aber wie Khaaria wusste, hatte das Hofzeremoniell viel von seiner Strenge und Förmlichkeit verloren. Bisweilen war es sogar möglich, dass der Gottkaiser der Arakandier das Wort direkt an jemanden richtete, was früher zumindest in der Öffentlichkeit einer Audienz vollkommen undenkbar gewesen wäre.

Der untergeordnete Logothet hieß Soirat-Kenos. Khaaria kannte ihn als häufigen Gast im Haus ihres Vaters und er war ihr schon als Kind durch seine eigentümlichen Augen aufgefallen. Durch eine Laune der Natur war ein Auge grün und das andere blau, was aber nur auffiel, wenn man ihm geradewegs ins Gesicht sah.

Sein Einfluss war gering, aber dafür war bei Soirat-Kenos der Hass auf die Galbadoriner weitaus weniger ausgeprägt als bei vielen anderen Mitgliedern der erlauchten Gesellschaft aus Adel und Geistlichkeit, die am Hof den Ton angab.

„Seid über die Maße gegrüßt“, sagte Soirat-Kenos in einem sehr förmlich gehaltenem Hoch-Arakandisch, wie es unter den Beamten des Hofes üblich war.

„Es freut mich, Euch zu sehen, Soirat-Kenos“, erwiderte Khaaria und verneigte sich leicht.

„Es ist tragisch, was mit Euren Eltern geschah. Aber immerhin kann ich Euch sagen, dass der Gottkaiser Euer Leid ermessen kann.“

Soirat-Kenos sprach es nicht aus, aber Khaaria wusste nur zu gut, worauf der niedere Logothet anspielte. Schließlich war allgemein bekannt, dass seine Frau vor Jahren an der Pest gestorben war.

„Wir vertrauen auf den Herrn – und darauf, dass er für uns einen Weg weist, den wir gehen können und der uns nicht mehr Leiden abverlangt, als wir zu ertragen vermögen“, sagte Khaaria ruhig und mit dem Blick auf den Logotheten gerichtet.

Soirat-Kenos bekreuzigte sich. Dann erst führte er Khaaria, Arco und Edivad Schreiberling in den eigentlichen Audienzsaal, in dem sich bereits zahlreiche Männer und Frauen versammelt hatten, die alle zur Stunde in den Palast geladen worden waren.

Unter ihnen war auch Kasilvestre Sarto, der Edivad Schreiberling kurz zunickte und anschließend auch Arco und Khaaria begrüßte.

„Sieh ihn dir an, diesen scheinheiligen Fädenzieher, der glaubt, dass die Mächtigen Arakands nur Marionetten für ihn sind, die er nach Belieben zappeln lassen kann wie es ein Puppenspieler auf dem Jahrmarkt tut!“, flüsterte Arco seiner Schwester mit beißendem Spott zu. „Ich habe ihn immer schon verachtet. Unser Vater hat immer geglaubt, dass Kasilvestre ihm nützlich wäre, aber in Wahrheit war dieser Schneider doch derjenige, der die Fäden in der Hand behielt.“

„Er hat uns sehr geholfen“, gab Khaaria zu bedenken. „Und wenn du dich etwas mehr um die Belange unseres Hauses kümmern würdest, wie unser Vater das von uns eigentlich erwartet hat, dann wüsstest du, dass er das auch in letzter Zeit getan hat! Oder glaubst du, es ist selbstverständlich, dass wir heute hier sind?“

„Vielleicht hat Vater so etwas von dir erwartet, Khaaria. Von mir ganz bestimmt nicht. Das beweist doch schon die Tatsache, dass er seinen Schreiber zum Zünglein an der Waage bestimmt hat.“

„Arco, ich denke, im Moment ist nicht der rechte Zeitpunkt, um diese Dinge eingehend zu besprechen. Ich bitte dich, jetzt einfach das zu tun, was von dir erwartet wird...“

„...und wofür sowohl Edivad als auch du mich dankenswerter Weise eingehend instruiert habt“, vollendete Arco ihren Satz und der beißende Spott in seinem Tonfall kam jetzt noch deutlicher zum Vorschein. „Keine Sorge, Schwester, ich werde nichts tun, was dir schaden könnte! Aber ich sehe das alles inzwischen mit dem Blick eines Fremden, der aus irgendeinem Grund auf der Welt zurückgelassen wurde, obwohl er da eigentlich gar nicht mehr hingehört. Gott wird hoffentlich wissen, warum das so ist...“

Khaaria blieb keine Zeit, darauf zu antworten, denn mehrere Kaufleute, die ebenfalls maragenuesischer Abstammung waren, begrüßten sie nun. Die meisten waren im Haus di Baragenzo ein und aus gegangen. Und nicht wenige hatten während des letzten Pestausbruchs in Arep selbst Angehörige verloren und hatten ihren Hausrat in Flammen aufgehen sehen.

„Unsere Zahl ist zusammengeschmolzen“, sagte Artolomyo Maldyni, der bereits über achtzigjährige Sprecher der maragenuesischen Kaufleute, der über lange Perioden hinweg immer wieder auch noch zusätzlich die Funktion eines offiziellen Botschafters der Republik Maragenua am Hof innehatte. „Siebenmal habe ich die Pest nach Arakand kommen und wieder gehen sehen – und zweimal haben die Truppen des Königs die Stadt belagert – und die Stadt existiert immer noch... Sehen wir also in die Zukunft!“

„Etwas anderes wird uns wohl auch nicht übrig bleiben“, erwiderte Khaaria.

„Ihr sprecht von Zukunft, alter Mann?“, konnte sich Arco eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen. „Ihr seht doch, wie wenige von uns Maragenuesern noch da sind! Es gibt keine Zukunft – nur ein nie endendes Siechtum!“

Artolomyo Maldynis faltiges Gesicht, in dessen Mitte zwei hellwache, sehr aufmerksam wirkende blaue Augen Arco einen Moment musterten, ließ sich äußerlich nichts anmerken. Er hatte in den langen Jahren seiner diplomatischen Tätigkeiten für die Republik Maragenua gelernt, seine Gedanken zu verbergen und nicht für jedermann sichtbar auf der Stirn geschrieben zu tragen. „Euer Vater war mir ein teurer Freund und ich habe wiederholt seinen Rat gesucht, so wie er den meinen“, erklärte Maldyni dann sehr ruhig, wobei er Arcos Bemerkung vollkommen überging. „Und wenn Ihr meinen Rat braucht, junger Herr, dann werde ich Euch selbstverständlich jederzeit zur Seite stehen, wie ich es bei Eurem Vater und Eurem Großvater getan habe. Wir Maragenueser werden zusammenhalten müssen, wenn wir unseren Einfluss behalten wollen.“

„Gewiss“, nickte Khaaria.

„Wir alle wissen nicht, was die Zukunft für Arakand bringen wird und mit welchen Gegebenheiten wir uns noch zu arrangieren haben.“

„Was auch immer geschieht, werden wir in aller Demut anzunehmen haben“, gab Khaaria zurück. Sie wusste durchaus, worauf der alte Kaufmann anspielte, ohne es beim Namen zu nennen. Zwei Belagerungen durch die Etamiter hatte es in der letzten Jahrhunderthälfte gegeben und es war durchaus nicht gewiss, dass Arakand auch noch einer dritten Belagerung würde widerstehen können. Jemand wie Maldyni dachte schon seit langem darüber nach, wie sich die Maragenueser Kaufleute auf eine eventuelle Eroberung der Stadt durch die Truppen des baladistischen Ketzer-Königs von Etamia vorbereiten sollten. Khaaria hatte ihren Vater, Maldyni und andere Maragenueser oft genug darüber reden hören. Schließlich musste man sich im Notfall alle Optionen offenhalten und selbst wenn man während der eigentlichen Kämpfe die Stadt verließ, galt es ja nach einem eventuellen Sieg der Angreifer die zurückgelassenen Besitztümer zu bewahren. „Besser der Ketzer-König zieht ein, als nochmal die Karadizianer!“, hatte Khaaria noch Worte im Ohr, die Maldyni mehr als einmal ausgesprochen hatte, worauf die Anwesenden meistens mit einem verhaltenen Gelächter antworteten.

Edivad machte Khaaria auf einen bärtigen Mann aufmerksam, der der die Gewandung eines rechtgläubigen Mönchs trug. „Diesen Mann solltet Ihr im Auge behalten, Khaaria“, riet Edivad.

„Wer ist das?“

„Nasius Synkellos“, gab Edivad Auskunft. „Er ist der Privatsekretär und Stellvertreter des Oberpriesters und hat erst vor kurzem den Titel eines Protosynkellos bekommen.“

„Das heißt, er wird vermutlich der Nachfolger des Oberpriesters?“

„Ja. Und es ist bekannt, dass er nicht nur ein Feind der Galbadoriner, sondern auch ein Gegner der Kirchenunion ist!“

„Dann sollten wir im eigenen Interesse dem Oberpriester ein möglichst langes Leben wünschen“, mischte sich Arco ein, der Edivads Worte anscheinend doch mitbekommen hatte, obwohl er eigentlich nicht den Eindruck gemacht hatte, den Worten des Schreibers aufmerksam zuzuhören.

„Ihr könnt davon ausgehen, dass Oberpriester Georgios ihn nicht freiwillig zum Protosynkellos gemacht hat“, stellte der Schreiber des Hauses di Baragenzo fest. „Aber der Oberpriester hatte wohl keine andere Wahl. Die Kirche Arakands war in Bezug auf die Kirchenwiedervereinigung zwischen Galbadorinern und der Kirche des Gottkaisers ja von Anfang an tief gespalten, aber inzwischen sind deren Gegner wohl eindeutig in der Mehrzahl. Und sobald Nasius Oberpriester wird, werden wir das alle zu spüren bekommen!“

„Nun, Ihr gehört doch der Gottkaiser-treuen tarastanischen Kirche an“, erwiderte Khaaria. „Also dürfte sich seine Abneigung doch nicht gegen Euch richten!“

„Und ob!“, widersprach Edivad. „Je kleiner die Abweichungen in Glaubensfragen, desto größer der Hass aufeinander. Das klingt paradox, scheint aber ein Naturgesetz zu sein.“

„Das heißt, er würde euch Tarastaner am liebsten gleich nach den Galbadorinern aus der Stadt jagen“, meinte Arco. „Allerdings wäre Arakand dann wohl fast völlig entvölkert, denn von den sogenannten Rechtgläubigen gibt es hier doch kaum noch welche!“ Arco kicherte auf eine Weise, die in fast schon unverschämter Weise demonstrierte, wie gleichgültig ihm all das, was ihn im Moment an Gottkaiserlichem Prunk umgab, in Wirklichkeit war.

Nasius ließ den Blick schweifen. Er vertrat im Moment offenbar den Oberpriester, für den es undenkbar gewesen wäre, sich bei so einem Anlass unter die Bittsteller am Hof zu mischen. Schließlich nahm das Oberhaupt der Priesterschaft für sich in Anspruch, dem Gottkaiser eigentlich übergeordnet zu sein. Schließlich regierte der Gottkaiser durch die Gnade Gottes und nicht umgekehrt! Der Gottkaiser hingegen tat alles, um jegliche Unterwerfungsgesten unter die Zwänge zu vermeiden, die die rechtgläubige Priesterschaft ihren Geistlichen auferlegte.

Die bescheidene mönchische Erscheinung des Protosynkellos stand im krassen Gegensatz zum allgemeinen höfischen Gepränge. Aber genau diesen Gegensatz wollte Nasius vielleicht sogar noch betonen. Zehn Jahre war es her, dass der Gottkaiser den Bischof von Galbador besucht hatte, um mit ihm die letztlich wirkungslos gebliebene Kirchenunion zwischen Galbadorinern und Gottkaisertreuen zu beschließen. Dass der Gottkaiser gezwungen war, nach Galbador zu reisen und nicht umgekehrt der Bischof nach Arakand gekommen war, sprach natürlich Bände über die gegenwärtigen Machtverhältnisse. Dass der Gottkaiser dies getan hatte, nahmen ihm bis heute viele ebenso übel wie dem Oberpriester, der dabei eine noch entscheidendere Rolle gespielt hatte.

Khaaria fühlte ein Augenpaar auf sich gerichtet. In einiger Entfernung starrte ein grauhaariger Mann sie an. Er trug ein enganliegendes Wams nach karadizianischer Mode, das allerdings sehr abgegriffen wirkte. An manchen Stellen waren die Nähte grob und mit einem Faden in unpassender Farbe ausgebessert worden. Die lederne Weste, die er darüber trug, war fleckig. Darüber hinaus wirkte seine Kleidung zu groß, so als würde sie ihm entweder nicht gehören oder als wäre er hagerer geworden, seit man ihm diese Stücke angepasst hatte.

Das Gesicht des Grauhaarigen war aschfahl und leichenblass, so als hätte er schon lange nicht mehr das Sonnenlicht gesehen. Der dünne Knebelbart, der um das Kinn herum wuchs und ziemlich verfilzt wirkte, war im Gegensatz zum Haupthaar noch sehr dunkel. Dasselbe galt für die sehr buschigen Augenbrauen, die jeweils eine leicht nach oben gebogene Linie beschrieben. Dies gab seinem Gesicht zusammen mit dem kalt wirkenden, leicht spöttischen Lächeln einen beinahe diabolischen Zug. Und dann waren da diese eisgrauen Augen, deren Blick von einer durchdringenden Intensität war, der einen unwillkürlich frösteln ließ.

„Wisst Ihr, wer das ist?“, fragte Khaaria an Edivad gewandt.

„Nein tut mir leid. Ich bin nicht im Bilde.“

„Er hat mich gerade die ganze Zeit auf eine Weise angestarrt, die...“

„Was?“

„Die mir mehr als unangenehm war. Ich hatte das Gefühl, ihm schonmal begegnet zu sein.“

„Ich kann Euch nicht sagen, wer er ist. Unter den Maragenueser Kaufleuten habe ich ihn noch nie gesehen. Und um ein Kapitän oder Seeoffizier zu sein, ist er entschieden zu blass, würde ich sagen.“

„Jedenfalls scheinen seine Geschäfte nicht gut zu laufen, sonst würde er nicht in solchen Lumpen herumlaufen“, lautete Arcos gewohnt spöttischer Kommentar.

Khaaria vermied es zunächst, noch einmal in die Richtung des Grauhaarigen zu blicken. Als sie es schließlich doch tat, war er in der Masse der Bittsteller verschwunden. Sie konnte ihn nirgends mehr finden.

Fanfaren erklangen nun. Der Erste Logothet des Gottkaisers kam mit seinem Gefolge herein. Sein Name war Evanus Pantelis, ein dunkelhaariger Mann mit spitzer, leicht nach oben zeigender Nase und dunklen, sehr tief liegenden Augen. Soirat-Kenos, der Khaaria, Arco und Edivad am Tor empfangen hatte, war nur einer seiner untergeordneten Stellvertreter. Er beeilte sich nun, noch rechtzeitig seinen Platz einzunehmen, der sich links von Evanus Pantelis befand. Vor allem durfte er nicht den Blick auf den Herrscher verdecken, der seinen Platz noch nicht eingenommen hatte.

Endlich kam dann der Gottkaiser herein. Der Herrscher Arakands – namenlos wie der Gott, dem er diente - war ein gebeugt gehender Man von annähernd sechzig Jahren. Der Bart war grau, die Wangen hohl und eingefallen. Zu seinen Begleitern gehörte ein rothaariger Mann mit kantigem Gesicht. Er trug das Livree der Leibgarde. Seine behandschuhte Hand schloss sich um den Griff des Schwertes an seiner Seite. Sein Brustharnisch war messingfarben wie die Schulterstücke an seiner Lederweste.

Khaaria wusste wer er war. Er hieß Yasoon Argiris. Zumindest nannte er sich seit ein paar Jahrzehnten so - unter welchem Namen er geboren worden war, wusste niemand. Man munkelte, dass er ursprünglich aus einem Bauerndorf aus Olbadorea stammte. Andere wollten wissen, dass er sich als einfacher Söldner nach oben gedient hatte und entweder aus Reich an der Steinküste oder aus Khoonwall auf der Nordinsel stammte und seinen Namen dem Sprachgebrauch Arakands angeglichen hatte, als er die Offizierslaufbahn einschlug.

Khaaria erinnerte sich, Yasoon Argiris zum ersten Mal auf einem Empfang gesehen zu haben, zu dem die Maragenueser Kauffahrer geladen hatten. Er galt als eine der wichtigsten Stützen des dahinsiechenden Gottkaisertums, dem viele kaum mehr Überlebenschancen als einem Pestkranken gaben. Ohne die Loyalität von Yasoon Argiris' Garde wäre der Gottkaiser wohl schon längst einem der Attentatsversuche erlegen, die es immer wieder gegeben hatte und hinter denen vermutlich fanatische Gegner der Kirchenunion mit den Galbadorinern standen. Für sie war der amtierende Gottkaiser schlicht und ergreifend ein Verräter und die Einheit der Kirche nur ein anderes Wort für Ketzerei.

Gedanken, die wohl nur in jenen Zeiten gedeihen konnten, in denen die Zweite Sonne sehr fern und das Wetter sehr kühl und regnerisch war, sodass sich niemand vorzustellen vermochte, wie sehr die Welt sich vielleicht irgendwann wieder einmal danach sehnte, dass der Gottkaiser seine Macht zeigte, indem er die Welt vor der furchtbaren Glut eines sich nähernden Sonnenfeuers bewahrte.

So änderten sich die Zeiten.

Immer wieder.

*

Alle Anwesenden knieten nun nieder.

Der Gottkaiser, der seinen Namen bei der Inthronisierung abgelegt hatte, damit er dem Namenlosen Gott ähnlicher war, nahm auf dem Thron Platz. Sein Gesicht hatte die Strenge eines Heiligen, den man auf den in Arakand allgegenwärtigen Ikonen bewundern konnte. Einige quälend lange Augenblicke vergingen, ehe schließlich Evanus Pantelis sich erhob, zum Gottkaiser ging und mit ihm so leise sprach, dass man nicht mehr als ein Wispern im Raum zu hören vermochte. Durch den starken Widerhall wurde es zu einem Geräusch, dass kaum noch an menschliche Worte erinnerte.

Dann trat der Erste Logothet in gebeugter Haltung und immer dem Gottkaiser zugewandt zurück, ehe er sich schließlich aufrichtete, um ein paar Worte an die Versammelte zu richten. „O Gottkaiser von Gottes Gnaden in Arakand und Herrscher des Imperiums und der Welt! Der allergerechteste Verteidiger des rechten Glaubens, gewährt Euch in seiner Erhabenheit die Gnade, Euch anzuhören.“ Evanus entrollte ein Dokument. Es war ein dickes Pergament, auf dem eine Liste der Bittsteller zu finden war. Sie war von Soirat-Kenos erstellt worden und Khaaria wusste, dass Edivad Schreiberling dem niederen Logotheten dafür eine erkleckliche Summe hatte zahlen müssen, damit die Namen der Erben des Hauses di Baragenzo darauf überhaupt erschienen. Allerdings bedeutete dies nicht, dass sie auf der endgültigen Fassung der Liste immer noch zu finden waren – und schon gar nicht in so führender Position, wie es eigentlich dem Preis entsprach, den Edivad bezahlt hatte. Die letzte Fassung der Liste und natürlich auch die Reihenfolge, in der die Bittsteller ihre Anlagen dem Ersten Logotheten vortragen durften, war nämlich von Evanus Pantelis vorgenommen worden, wobei es erfahrungsgemäß vorkam, dass die Reihenfolge zu Gunsten von jenen Bittstellern verändert wurde, die das Privileg genossen, mit dem Ersten Logotheten gut bekannt zu sein und ihm Geschenke machen zu dürfen. Es gab nicht einen höheren Hofbeamten, geschweige denn einen Logotheten, der nicht käuflich gewesen wäre. Khaaria erinnerte sich daran, wie oft ihr Vater über deren schier unersättliche Habgier geklagt hatte.

Artolomyo Maldyni, der in Ehren alt gewordene Sprecher der maragenuesischen Kaufmannschaft, führte die Liste der Bittsteller offenbar an, denn er sollte nun als Erster vortreten. Artolomyo erhob sich aus seiner knienden Haltung, die man auch einem alten Mann wie ihm nicht erspart hatte. Ein Diener half dem alten Kaufmann auf, der dann zu dem Logotheten schritt. Vor den Treppenstufen, die zu dem etwas erhöhten Bereich um den Thron hinaufführten, blieb er stehen. Evanus Pantelis blickte auf ihn herab, während Maldyni sich nach vorn beugte und verneigte. „Herr, die Mauern von Arep sind an mehreren Stellen baufällig. Gestattet uns sie aus eigenen Kräften instand zu setzen. Es wurde uns zwar versprochen, dass die Gottkaiserlichen Baumeister sich den Schaden ansehen und ihn beseitigen, aber das ist bislang nicht geschehen. Inzwischen hat es mehrere Erschütterungen des Erdreichs gegeben und seit dem letzten Ausbruch der Pest haben wir kaum noch genug Wächter, um alle Türme wirklich bemannen zu können.“

Der Gottkaiser gab mit keiner Regung seines Gesichts zu erkennen, dass er den Worten des Kaufmanns überhaupt zugehört hatte. Wie eine regungslose Maske wirkten die Züge des Herrschers auf Khaaria – aber diesen Eindruck hatte sie schon als kleines Mädchen bei den wenigen Gelegenheiten gehabt, da sie dem Gottkaiser begegnet war. Zu hohen kirchlichen Festtagen beispielsweise pflegte er für jedermann sichtbar in der Kathedrale des Gottkaisers zum Ritual zu gehen. Khaarias Vater hatte stets Plätze aufgesucht, von wo aus man den Gottkaiser und seinen engeren Hofstaat jederzeit im Auge behalten konnte.

Der Erste Logothet ging zum Gottkaiser und sprach mit ihm sehr leise in gedämpftem Ton. Auch die Worte des Gottkaisers waren kaum zu hören. Das Echo machte es nahezu unmöglich, in diesen Lauten mehr zu sehen, als ein wisperndes Orakel, dessen Sinn sich nur dem Eingeweihten erschloss.

Dann kehrte der Logothet zu dem alten Mann zurück. „Die Kolonie in Arep ist der Republik Maragenua und ihren Kaufleuten zur freien Verfügung und Ausübung ihrer Handelsinteressen überlassen worden. Unser erhabener Gottkaiser meint, Ihr könntet dort tun, was immer Ihr beliebt, allerdings seid Ihr auch selbst für die Ausbesserung der Schäden in den Festungsmauern verantwortlich und habt dafür auch die Kosten zu tragen.“

„So richte Seiner Erhabenheit aus, dass es nicht darum geht, das Imperium mit Kosten zu belasten und uns sehr wohl bewusst ist, dass diese von den Bewohnern Areps selbst zu tragen sind. Allerdings erbitten wir die Erlaubnis, die Steine von nicht mehr bewohnten Gebäuden in Arakand nehmen zu dürfen, da es unmöglich erscheint, auf anderem Weg schnell genug eine genügend große Menge an geeignetem Gestein für die Bauarbeiten nach Arep zu schaffen! Aber bisher ist keines unserer diesbezügliche Gesuche beantwortet worden!“

Der Gottkaiser schien abwesend. Sein Blick wirkte leer und Khaaria hatte den Eindruck, als würde er ins Nichts blicken. In den letzten Jahren schien er vorzeitig gealtert zu sein. Tiefe Falten durchschnitten sein Gesicht, dessen Linien so hart waren, als wären sie mit einem groben Messer geschnitzt worden.

Der Erste Logothet schritt auf seinen Herrscher zu, blieb in respektvollem Abstand stehen und wartete ab. Er hätte es nie gewagt, den Gottkaiser anzusprechen, ohne dass der Herrscher der Arakandier seinen Blick auf ihn gerichtet hätte. So entstand nun ein quälend langer Augenblick des Schweigens, während die volle Aufmerksamkeit aller im Raum auf den scheinbar teilnahmslos dasitzenden Gottkaiser gerichtet war, dessen Gedanken unendlich weit entfernt zu sein schienen. Er wirkte müde – und die Blässe seines Gesichts ungesund. Die dunklen Ringe unter den Augen waren nicht zu übersehen. Er hob leicht die Hand und machte ein Zeichen. Daraufhin wandte sich der Logothet an Maldyni. „Seine Erhabenheit hat Euren Wunsch zur Kenntnis genommen und Ihr werdet über alles Weitere zu gegebener Zeit unterrichtet werden“, erklärte Evanus Pantelis.

Man sah Artolomyo Maldyni an, wie fassungslos er darüber war, dass diese wichtige Entscheidung einfach verschoben wurde und wohl damit in den nächsten Monaten nicht mehr damit zu rechnen war, dass es in dieser Sache voran ging. Der alte Handelsherr und Diplomat hatte normalerweise seine Gesichtszüge stets vorzüglich unter Kontrolle, sodass man ihm zwar ins Gesicht, nicht aber in die Seele blicken konnte. Aber in diesem Augenblick vergaß er sich für ein paar Herzschläge. Sein Kopf wurde dunkelrot.

*

Noch drei weitere Bittsteller mussten Khaaria und ihre Begleiter abwarten, dann waren die Erben des Hauses di Baragenzo an der Reihe. Evanus Pantelis wies sie an, vorzutreten. Die Knie schmerzten Khaaria inzwischen.

Der Blick des Gottkaisers ruhte zuerst auf Arco, dann auf Khaaria. Von Edivad Schreiberling schien er kaum Notiz zu nehmen, obwohl Khaaria aus den Erzählungen ihres Vaters wusste, dass dem Gottkaiser der Schreiber sehr gut bekannt sein musste.

Aber es ging hier wohl um die Einhaltung der Hierarchie. Wer weiter unten in der Ordnung stand, die angeblich der Herr selbst gefügt hatte, dem wurde dies bei einer Audienz des Gottkaisers auch in besonderer Weise verdeutlicht.

Der Logothet nannte die Namen von Arco und Khaaria di Baragenzo und stellte sie als Nachfahren des ruhmreichen Oloccin Aerdna vor, der einst geholfen hatte, die Boranier aus Arakand zu vertreiben. Evanus Pantelis wollte etwas sagen, aber auf ein Zeichen des Gottkaisers hin, schwieg er. „Euer Vater Lukkar di Baragenzo war ein guter Freund unseres Hauses“, sagte der Gottkaiser und sprach überraschenderweise Galbadorin dabei – für einige Jahrhunderte die Amtssprache Arakands, die allerdings schon vor langer Zeit im täglichen Gebrauch wieder vom Arakandischen abgelöst worden war. „Es tut mir leid, dass Euer Vater und seine Gemahlin dieser furchtbaren Seuche anheimgefallen sind, der auch meine Frau erlegen ist...“ Er wandte sich nun an Khaaria. „Sie war nach der Heiligen Mutter unseres ersten Gottkaisers benannt worden, genau wie Ihr, Khaaria di Baragenzo!“

„Wir sind dem Namenlosen Gott dankbar, dass der Schwarze Tod uns verschont hat“, gab Khaaria zurück und ahnte schon im nächsten Augenblick, dass sie vielleicht nicht den richtigen Ton getroffen hatte. Auch sie sprach nun Galbadorin und vielleicht lag es daran, dass ihre Worte nicht die gewohnte Geschmeidigkeit hatten und ihre Gedanken nicht mit jener Exaktheit widerspiegelten, wie es der Fall war, wenn sie ihr maragenuesischen Dialekt oder selbst jenes Arakandisch, wie es in den Straßen von Arakand heute üblich war, sprach.

„Ich bedaure jeden Tag, derjenige zu sein, der zurückgeblieben ist und ich frage mich, warum... Hat der Namenlose Gott noch einen Plan mit mir? Aber warum hat er alles, was ich seitdem versucht habe, letztlich scheitern lassen? Warum vermochte ich seit dem Abschluss der Kirchenunion in Errara nichts mehr einem Ziel zuzuführen?“ Ein mattes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Gottkaisers. Für einen kurzen Moment milderte es die harten Linien seiner Züge etwas auf, gab aber auch einen kurzen Blick auf das Seelenleben des Gottkaisers frei. Pure Verzweiflung schien sich darin zu zeigen. Dies war das Gesicht eines Mannes, der alles versucht hatte und nun ahnte, dass nichts davon noch dazu führen würde, dass sich das Blatt für ihn und sein zusammengeschmolzenes Reich noch einmal ändern konnte.

Khaaria schwieg nun. Der Gottkaiser lehnte sich zurück. „Ihr seid hier, um Eure Privilegien zu erneuern, nicht wahr?“

„So ist es“, sagte Khaaria fast tonlos und nickte dabei. Arco hingegen verengte etwas die Augen und wirkte auf eine eigenartige Weise teilnahmslos. Khaaria konnte sich darauf keinen Reim machen, aber es fiel ihr in letzter Zeit ja ohnehin schwer, noch zu verstehen, was in ihrem Bruder vor sich ging. „Verzeiht, mein Gottkaiser, aber es geht auch um die Erlaubnis, innerhalb Eurer Stadt Waren zu stapeln und Lagerhäuser zu betreiben.“

„Die Mauern von Arep sind eng, die von Arakand inzwischen so weit, dass sie wie ein zu großer Hut wirken, der seinem Träger deshalb bis zur Nasenspitze reicht. Warum sollte ich Euch dieses Recht also nicht auch fürderhin belassen, da Ihr doch von einem treuen Verbündeten Arakands abstammt?“ Er wandte sich an Arco. „Ich nehme an, dass Ihr es seid, in dessen Händen die Führung des Hauses di Baragenzo jetzt liegt!“

Arcos Gesicht verfinsterte sich etwas. Er kam nicht mehr dazu, dem Gottkaiser zu antworten. Der Blick des Gottkaisers veränderte sich plötzlich auf eine erschreckende Weise. Die Augen traten hervor. Ein röchelnder Laut kam über seine Lippen. Sein Blick erstarrte maskenhaft, dann sackte er plötzlich nach vorn. Noch ehe einer seiner Diener oder gar der Erste Logothet ihn hätte halten können, rutschte er zu Boden und blieb regungslos liegen.

Seine Augen blickten Khaaria so starr an, wie sie es nur von einem Toten kannte.

„Ein Arzt! Schnell! Ein Arzt!“, rief Evanus Pantelis auf Arakandisch.

Alle, die bis dahin gekniet hatten, waren längst aufgestanden und sahen entsetzt auf den Gottkaiser. „Lasst mich durch!“, sagte eine Stimme, die an das Zischen einer Schlange erinnerte. Sie war nicht laut, aber durchdringend. Die Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, dass seine Anweisungen erfüllt wurden. Er hatte Arakandisch gesprochen, allerdings mit einem Akzent wie man ihn von Karadizianern oder Maragenuesern kannte. Khaaria erschrak unwillkürlich, denn noch ehe der Grauhaarige, hagere und etwas ungepflegte Mann sich zwischen den Gästen hindurchdrängelte.

„Lasst mich vorbei! Ich bin Vaosdo Kallyari, der Medicus des Gottkaisers!“, rief er – und erst in diesem Moment fiel es Khaaria wie Schuppen von den Augen. Unter der Schnabelmaske hatte seine Stimme verändert und sehr viel dumpfer geklungen. Darüber hinaus sprach er jetzt Arakandisch und nicht sein angestammtes Karadizianisch, was den Klang zusätzlich veränderte.

Deswegen ist er mir so bekannt vorgekommen!, ging es Khaaria durch den Kopf.

Der unscheinbare hagere Mann in dem abgetragenen karadizianischen Wams war niemand anderes als jener Pestarzt, der sich ihr gegenüber bisher hinter seiner grotesken Schnabelmaske verborgen hatte und sein von mit ätherischen Ölen getränkte Tüchern umwickelter Anzug aus Drachenleder wie einen dämonischen Tiermenschen hatte aussehen lassen, der geradewegs einer jener Höllendarstellungen entsprungen zu sein schien, wie sie inzwischen von immer mehr Malern des Abendlandes auf die Leinwand gebracht wurden. Der Blick... Allein bei der Erinnerung daran überlief Khaaria ein Schaudern.

Vaosdo Kallyari beugte sich über den am Boden liegenden Gottkaiser. Yasoon Argiris beobachtete ihn dabei misstrauisch.

Dem Befehlshaber der Gottkaiserlichen Leibgarde schien es nicht zu gefallen, dass in diesem Augenblick alles von dem Arzt aus Karadig abzuhängen schien.

„Bringt ihn auf ein Lager!“, befahl Vaosdo Kallyari mit autoritätsgewohnter Stimme und akzentschwerem Arakandisch. „Schnell!“

Eine gespenstische Stille hatte sich sich ausgebreitet. Schreckensstarr standen alle, die an diesem Tag zur Audienz beim Gottkaiser geladen worden waren da – und selbst manch einer der schwer bewaffneten Söldner in Livree, Harnisch und mit einer Hand am Stiel der Hellebarde, mit der anderen am Griff des Seitschwertes, schien wie erstarrt zu sein. Vielleicht war es der Blick des Gottkaisers, der sie so entsetzte, denn der regungslose Gottkaiser starrte mit vollkommen leblosen Augen zur Palastdecke.

Auf Befehl von Yasoon Argiris kamen Wächter herbei, nahmen zögernd und erst auf einen weiteren, sehr viel barscher gehaltenen Befehl hin, den regungslosen Gottkaiser vom Boden auf und trugen ihn fort.

Khaaria bekam mit, wie Evanus Pantelis ein paar Worte mit dem Vertreter der Kirche wechselte. Nasius Synkellos nickte heftig, aber von dem, was ihm gesagt wurde, konnte Khaaria nichts mitbekommen, denn überall begann jetzt unter den Anwesenden das Geraune. „Der Erste Logothet des Gottkaisers und der Stellvertreter des Patriarchen – welch ein schönes Paar“, murmelte unterdessen Arco voller Spott. „Ich möchte nicht wissen, wessen Trauer falscher ist!“

„Schweig, Bruder!“, zischte Khaaria. „Um alles in der Welt, zügle nur dieses eine Mal dein Mundwerk, Arco!“

„Ist es etwa falsch, was ich gesagt habe?“

„Nicht jede Wahrheit muss ausgesprochen werden, Arco!“

Arco zuckte mit den Schultern. „Ja, das ist sicherlich auch eine Möglichkeit, die Dinge zu sehen.“

Ein kleiner Laufdrache, nicht größer als eine Katze, lief zischend daher und zog seine Leine hinter sich her. Irgendeinem der adeligen Gäste war das Schoßtier in der Aufgeregtheit der Situation entwichen.

Yasoon Argiris ergriff nun das Wort. Er zog sein Schwert mit einer schwungvollen Bewegung. Die Klinge wirbelte durch die Luft und zeigte schließlich auf einen der Ausgänge des Audienzsaals.

„Niemand verlässt diesen Saal“, rief er. „Nicht, bevor nicht aufgeklärt ist, was soeben geschah!“

Die Wachen riegelten sofort sämtliche Türen des Audienzsaals ab.

Überall standen jetzt die livrierten Krieger in ihren Harnischen vor den Ausgängen und kreuzten die Hellebarden. Hier und da versuchte tatsächlich der eine oder andere Edelmann oder eine Dame aus einem niederen Adelshaus, das über mehrere Ecken mit dem Haus des Gottkaisers verbunden war, noch zu entwischen, aber es blieb beim halbherzigen Versuch. Schließlich wusste jeder im Raum, wie unbarmherzig die Waffenknechte des Gottkaisers sein konnten. Und sie waren noch nicht einmal die schlimmsten.

Wirklich schlimm waren die unerkannt unter der Bevölkerung wandelnden Büttel, die der Gottkaiser angestellt hatte. Sie spionierten und mordeten im Geheimen und niemand war in der Lage, sie daran zu hindern. Die Assassinen, die einer eigenen Bruderschaft angehörten und für den Gottkaiser zu jedem Mord bereit waren.

„Alles muss genauestens untersucht werden“, verkündete nun Evanus Pantelis. Die Stimme des Ersten Logotheten war auch jetzt noch autoritätsgewohnt, obwohl er im Moment nicht den Willen des Gottkaisers, sondern nur in eigenem Namen sprach. Irre ich mich, oder ist er nur sehr wenig überrascht von den Geschehnissen?, ging es Khaaria durch den Kopf.

Yasoon Argiris wirkte ebenfalls sehr ruhig und gefasst – und die Tatsache, dass er sich zurzeit mit Nasius Synkellos intensiv unterhielt, war wohl auch nur mehr als ein Zufall. Der Stellvertreter des Oberpriesters nickte mehrfach und strich sich dabei den nach Art der rechtgläubigen Geistlichen fast bis zum Brustbein herabreichenden Bart glatt.

„Wir können nur hoffen, dass dies alles nicht das Ergebnis einer Verschwörung gegen die Kirchenunion mit den Galbadorinern ist“, raunte Edivad Schreiberling ihr zu. Es war kaum mehr als ein Flüstern und die Tatsache, dass er dabei Galbadorin sprach, zeugte davon, dass er offenbar nicht von jedem verstanden werden wollte.

„Haltet Ihr das denn für denkbar?“, murmelte Khaaria.

„Aber natürlich. Die Union war immer umstritten und hätte die Gläubigen in der Stadt fast in zwei völlig verfeindete Lager gespalten! Dasselbe gilt auch für die Priesterschaft... Ich glaube, diese Kräfte haben im Geheimen niemals aufgehört, ihr Spiel voranzutreiben!“

„Ein Spiel, das Arakand den Etamitern in die Hände würfeln wird!“

„Wenn man diese Stadt wirklich vor diesem Schicksal hätte bewahren wollen, dann hätte man schon vor Jahren anders handeln müssen!“, meinte Edivad. „Was auch getan wurde, es kam wohl alles zu spät.“

Khaaria sah ihn an. „So pessimistisch, Edivad?“

„Nein, nur klarsichtig.“

Augenblicke später kehrte Vaosdo Kallyari zurück in den Audienzsaal. Er sprach zunächst mit Yasoon Argiris, dann trat Evanus Pantelis hinzu.

Es war bezeichnenderweise nicht der Erste Logothet, der dann zu den im Saal versammelten Herrschaften sprach, sondern der Kommandant der Leibgarde. „Der Gottkaiser ist von uns gegangen. Ein Arzt, der über jeden Zweifel erhaben ist, hat seinen Tod festgestellt und als Ursache die natürliche Schwäche des Körpers im Alter postuliert. Seine Nachfolge ist geregelt und so gibt es keinen Anlass, das Vertrauen in das Gottkaisertum der Arakandier in Frage zu stellen!“

„Wie lange wird man uns hier noch festhalten?“, meldete sich nun Artolomyo Maldyni zu Wort. Niemand anderem als dem über achtzigjährigen Gesandten Maragenuas hätte ein solcher Zwischenruf zugestanden – und aus keinem anderen Mund wäre er geduldet worden.

„Ursprünglich war es meine Absicht, jeden hier im Saal zu verhören und durchsuchen zu lassen“, erklärte Yasoon Argiris. „Aber nachdem der Medicus Kallyari die Möglichkeit einer Vergiftung so kategorisch ausschließt, wie er dies getan hat, so besteht dafür keine Veranlassung mehr. Ihr seid frei zu gehen, wann immer Ihr den Palast zu verlassen wünscht, Gesandter!“

Ein Raunen ging nun durch die Anwesenden. Stimmengewirr brandete auf.

„Das ist doch lächerlich!“, meinte Arco in zynischem Tonfall. Er lachte rau auf. „Kein Arzt ist so gut, dass er in so kurzer Zeit so etwas zu erkennen vermöchte! Und von Giften, die sich nicht durch ihre Wirkungsweise verraten und keine verräterischen äußeren Zeichen hinterlassen, scheint dieser Arzt wohl auch noch nie etwas gehört zu haben!“

„Lasst uns gehen“, sagte Edivad düster. „Sonst zieht uns der Strudel, der sich gerade aufzutun beginnt, mit in die Tiefe.“

*

Sie hatten bereits den Audienzsaal verlassen und durchschritten eilig einen der hohen Säulengänge. Die Wachen standen regungslos auf ihren Posten und ließen sie ebenso passieren wie all die anderen, die jetzt aus dem Palast hinausdrängten.

Khaaria bemerkte hinter sich einen Tumult. Wächter stürzten sich auf einen Mann, der ebenfalls versucht hatte, im Strom der Audienzgäste den Gottkaiserpalast zu verlassen.

Khaaria erkannte sofort, wer es war.

„Evanus Pantelis!“, entfuhr es ihr.

Der Erste Logothet sandte ihr einen verzweifelten Blick zu, während die Wächter ihn packten.

„Ich habe niemandem etwas getan!“, rief er.

Aber die Wächter ließen nicht mit sich reden. Einer versetzte ihm einen Schlag, so dass er benommen in sich zusammensackte und keinen Widerstand mehr leistete. Dann schleiften sie ihn davon.

„Wir werden ihn so schnell nicht wiedersehen, denke ich“, sagte Edivad.

„Was geht hier vor sich, Edivad?“

„Evanus Pantelis scheint in Ungnade gefallen zu sein. Und wir können nur hoffen, dass in diesem Strudel nicht auch unsere Freunde am Hof mit in die Tiefe gerissen werden.“

„Ihr meint Soirat-Kenos?“, fragte Khaaria.

„Wir können nichts tun, als abzuwarten“, erklärte Edivad kalt. „Der Wind hat sich offenbar gedreht und wir werden genug damit zu schaffen haben, uns selbst zu retten. Der Gottkaiser hat unsere Privilegien zwar bestätigt und ich gehe davon aus, dass dies schon vor unsere Ladung zur Audienz schriftlich niedergelegt wurde – aber das heißt nicht, dass das für alle Ewigkeit so bleiben muss.“

Zwei Fantasy Sagas: Der Magier von Arakand/Die Schlangenmutter

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