Читать книгу Zwei Fantasy Sagas: Der Magier von Arakand/Die Schlangenmutter - Abraham Merritt - Страница 11
Zweites Kapitel
ОглавлениеKhaaria betrat wenig später einen von unzähligen Kerzen erleuchteten Raum. Stark riechendes Räucherwerk machte das Atmen schwer. Khaaria fühlte ein Kratzen im Hals. Ihr Herz schlug heftiger.
Auf einem hölzernen Stuhl hatte eine Gestalt platzgenommen, deren Anblick Khaaria zusammenfahren ließ. Auf den ersten Blick wirkte ihr Gegenüber wie eine Kreatur, die geradewegs dem Höllenschlund entwachsen oder sich ebenso im Schlamm der unterirdischen Abwasserkanäle der Stadt gebildet hatte, wie man es den Ratten nachsagte, da sie viel zu zahlreich geworden waren, als dass sie einem natürlichen Zyklus von Geburt, Vermehrung und Tod bei ihrer Ausbreitung folgten. Nein, andere Mächte mussten es sein, die sie aus dem Schlamm der Erde entstehen ließen und in erschreckenden Massen an sie Oberfläche trieben! Flackernde Schatten tanzten auf der an ein vogelähnliches Wesen gemahnenden Schnabelmaske nach Art der Pestknechte. Dumpf mischte sich der Atem ihres Trägers mit den Knistern des verbrennenden Räucherwerks, dessen freigesetzte Dämpfe Khaaria inzwischen Tränen in die Augen trieben. Der Körper jener Gestalt auf dem Stuhl war vollkommen von einer ledernen Kluft, die wie die runzelige Haut eines Drachens wirkte, wie sie es im Stromland gab. Khaaria hatte ihren Vater einmal auf eine Handelsreise nach Exandrya begleitet und dort die Tiere auf dem Markt gesehen – sowohl in ihrem furchteinflößenden lebendigen Zustand, als zu kostbarstem Leder verarbeitet, für das man in Maragenua ein Vermögen zahlen musste. Bisweilen wurden diese Geschöpfe aber auch als Mumien feilgeboten. Wie auch die Mumie von Menschen, Katzen und Vögeln, die man in Stromland vor langer Zeit mit inzwischen unbekannten Verfahren vor der Verwesung zu bewahren gewusst hatten, waren sie als Rohstoff für Heilmittel aller Art auf dem gesamten Gürtel der Welt beliebt, so als könne die geheimnisvolle Lebenskraft, die diesen Artefakten innewohnte, übertragen werden, indem man die Mumie zu einem Pulver zerrieb, das dann als Beimengung von Arzneien und Heiltinkturen diente. Das Haus di Baragenzo hatte sich über Jahre hinweg immer wieder auch am Handel mit Mumien beteiligt, wenngleich der Anteil am Handelsumsatz der Familie bei weitem nicht so bedeutend war, wie der von Zucker, Seide und Seife, die man vornehmlich aus den tarastanischen Küstenstädten bezog.
Damals in Exandrya hatte Khaaria zum ersten und einzigen Mal auch eine vollständig erhaltene menschliche Mumie zu Gesicht bekommen, deren Anblick ihr noch jahrelang in Form von Albträumen gegenwärtig gewesen war. Der Art und Weise, wie die Gestalt vor ihr auf dem Stuhl die Arme mit Binden umwickelt hatte, erinnerte Khaaria unwillkürlich an jenen Anblick. Unter diesen Binden, deren Sinn sich der jungen Frau in diesem Moment einfach nicht erschließen wollte, waren immer wieder freie Flächen zu sehen, die den Blick auf das eigentümliche Leder freigaben, aus denen der ganze Anzug bestand. Das erstaunlichste waren für Khaaria die Handschuhe, die bemerkenswert fein gearbeitet waren. Das Material schien fast hauteng anzuliegen und musste sehr dünn sein, denn die Konturen der Fingerglieder stachen deutlich hervor.
„Ihr seid Khaaria di Baragenzo?“, wisperte die Stimme unter der Schnabelmaske hervor. Er sprach Karadizianisch.
„Ja, die bin ich. Und Ihr müsst der berühmte Pestarzt Vaosdo Kallyari sein, dem selbst der Gottkaiser vertraut!“
„Beim Zwielicht beider Sonnen! Ja, das ist wahr. Wo ist Euer Bruder?“
„Er wartet draußen vor der Tür. Es hieß, wir sollten einzeln eintreten.“
„Zieht Euch aus“, forderte Kallyaris wispernde Stimme. „Legt alle Kleidung, die Ihr am Leib tragt, ab! Ich muss Euren Körper nach den Zeichen der Krankheit untersuchen!“
„Ich trage keine Pestbeulen! Dann wäre ich in Arep geblieben und hätte den stillen Tod erwartet, so wie er meine Eltern ereilte!“
„Tut, was ich sage!“, forderte Kallyari. Seine Stimme war nur ein leises, krächzendes Flüstern und schien doch eine geradezu unheimliche Kraft in sich zu tragen. Eine Kraft, deren Einfluss man sich kaum entziehen konnte. „Es geht mir nicht nur um die Pestbeulen, deren Anfangsstadium Ihr vielleicht selbst gar nicht bemerken würdet. Es gibt noch weitere Zeichen. Und nun ziert Euch nicht länger oder sucht Euch jemand anderen, der Euch die Pestfreiheit bestätigen könnte. Jemanden, dem der Gottkaiser vertraut, was ja nicht ganz unwichtig ist. Schließlich sollt Ihr ja einige wesentliche Geschäfte mit dem Hof und der Gottkaiserlichen Familie abmachen.“
Der Gedanke daran, sich vor Vaosdo Kallyari zu entkleiden, war ihr äußerst unangenehm. In seiner eigenartigen, ihn vollständig bedeckenden Kluft, wirkte er kaum noch wie ein Mann, sondern eher wie ein der Hölle entstiegener Tiermensch. Aber ihr war klar, dass sie keine andere Wahl hatte. Der Gottkaiser hatte seine Frau durch die Pest verloren und seitdem verfolgte ihn eine geradezu panische Furcht vor dieser Krankheit. Zugang zum Hof des Gottkaisers, ohne eine Bestätigung darüber, dass man frei von Zeichen des Übels war, schien undenkbar. Aber Geschäfte in Arakand zu machen, ohne eine gute Verbindung zum Gottkaiserhaus war ebenfalls nicht vorstellbar. Das Urteil eines Arztes, dem der Gottkaiser vertraute, war für den Fortbestand des Handelshauses überlebenswichtig, dass durch die Erkrankung und den Tod seines Herrn schon bis an den Rand seiner Existenzfähigkeit gebeutelt war. Es kam einer besonderen Gnade des Hofs gleich, dass dieser Arzt des gottkaiserlichen Vertrauens die Untersuchung durchführte. Und Khaaria war das sehr wohl bewusst. Es war ein Akt des Vertrauens, der von Generationen di Baragenzos verdient worden war – angefangen mit Oloccin Aerdna, der geholfen hatte, die Boranier und Galbadoriner zu vertreiben, bis hin zu ihrem Vater. Was war dagegen ihre Scham? Wie hätte sie sich angesichts dessen zieren können – zumal sie fest entschlossen war, das Handelshaus weiterzuführen. Und dem musste sich alles andere unterordnen. So soll geschehen, was zu geschehen hat, dachte sie. Der Namenlose Gott hat mich bisher beschützt, warum sollte er es nicht auch in Zukunft tun?
Khaaria ließ das graue Büßergewand herabgleiten und mehr hatte sie ohnehin nicht mehr am Leib getragen. Schließlich hatte sie ein aufrichtiges Zeichen der Buße zum Namenslosen Gott senden wollen, wie Armatteo es ihr geraten hatte. Unter all den Mitteln, deren tatsächliche Wirkung gegen die Pest höchst zweifelhaft waren, erschien es ihr noch am vielversprechendsten sich auf diese Weise direkt an die höchste Macht selbst zu richten.
Eine Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper, als der Arzt an sie herantrat und begann, sie zu untersuchen. Khaaria fühlte tiefe Scham, so den Blicken dieses Fremden ausgesetzt zu sein. Er kam ihr nahe genug, um die Farbe seiner Augen erkennen zu können. Sie waren eisgrau und der Blick wirkte so kalt, dass ihr Schauder über den Rücken jagte. Ein Blick, der alles zu durchdringen schien und vor dem man nichts verbergen konnte. Ein Blick aber auch, dem alles Menschliche zu fehlen schien. Khaaria schob diesen Umstand auf die optische Wirkung der Schnabelmaske, die Kallyari vielleicht so erscheinen ließ. Aber in ihrem tiefsten Inneren ahnte sie, dass es damit nichts zu tun hatte. Selbst wenn er ihren Körper mit Lüsternheit und Begierde gemustert hätte, wie sie zunächst befürchtet hatte, dann wäre darin zumindest eine Spur von Menschlichkeit zu finden gewesen. Die Art und Weise jedoch, wie diese grauen Augen sie betrachteten, war dermaßen unangenehm, dass sie keine Worte gefunden hätte, um es zu beschreiben. Die Tücher, mit denen seine Arme umwickelt waren, strömten den Duft ätherischer Öle aus, in die sie offenbar getränkt worden waren. Ein Geruch, der so stark war, dass Khaaria kaum noch atmen konnte und das Wasser aus Augen und Nase zu laufen begann. Kallyaris behandschuhte Hände tasteten unter ihre Achseln und an den Leistenbeugen. Er ging dabei ziemlich grob vor, sodass Khaaria beinahe schreiend zurückgewichen wäre. Aber sie beherrschte sich. So ähnlich musste es sein, wenn die nackte Menschenseelen in der Hölle von den tierhaften Dämonen gequält wurden. In Maragenua hatte sie Gemälde gesehen, die dies in aller drastischen Deutlichkeit darstellten. „Keine Schwellungen“, murmelte Kallyaris Stimme unter der Schnabelmaske hervor und der dumpfe, fast röchelnde Laut, der dann folgte, mochte vielleicht in Wahrheit ein Aufatmen sein. „Stellt Euch mehr ins Licht!“, verlangte er dann. „Hierhin!“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Position. Khaaria schritt ein paar Schritte zur Seite, der helle Schein des Kerzenlichts erfasste sie nun noch deutlicher. Kallyari hob ihr Gewand vom Boden auf, ging dann mit schnellen Schritten zum Kamin und warf es hinein. Knisternd begann es zu verbrennen. Dann kehrte er zurück. Aus einer Tasche an seinem Gürtel holte er ein Vergrößerungsglas hervor. Damit begann er nun, ihren gesamten Körper eingehend zu betrachten. Fingerbreit für Fingerbreit schritt er voran und er musste dabei den Schnabel seiner Maske stets gesenkt halten, um eine der Augenöffnungen seiner Maske näher an das Glas halten zu. „Habt Ihr Stiche oder Bisse kleinster Tiere an Euch bemerkt?“, erkundigte er sich. „Von Flöhen zum Beispiel?“
„Nein, Meister Kallyari. Allerdings habe ich auch nicht sonderlich darauf geachtet, denn wie Ihr wisst, sind Flöhe überall und man kann ihnen nicht entweichen.“
„So wie der Pestilenz“, ergänzte der Arzt, während er mit seinem akribisch ausgeführten Handwerk fortfuhr. Dass die Pest häufig auftauchte, nachdem vermehrt Ratten auf den Straßen zu sehen gewesen waren, wusste Khaaria natürlich. Die Nager waren daher als Boten der Krankheit berüchtigt. Boten, die das Miasma im Schlamm urplötzlich entstehen und an die Oberfläche kriechen und einem unbändigen Drang zur unaufhörlichen Wanderung folgen ließ. Aber Flöhe? Die unsichtbaren Insekten, von denen gemunkelt wurde, dass sie die Krankheit vielleicht verursachten, hatte sich Khaaria jedenfalls anders vorgestellt.
„Ich habe keine Flohbisse bemerkt“, erklärte sie. „Allerdings gibt es so vieles winziges Getier, das sticht und zwickt.“
„Aber nur Flöhe beißen mehrfach in einer geraden Reihe“, erklärte der Arzt.
„Verzeiht, wenn ich Euch dies frage, aber die Ansicht, dass Flöhe etwas mit der Pest zu tun hätten, höre ich zum ersten Mal. Ich dachte, die unsichtbaren Insekten fliegen einem in Mund und Nase, wenn man den Pesthauch einatmet.“
„Achtet darauf, Euch von allen Tieren und Menschen fernzuhalten, die Flöhe an Euch übertragen könnten“, sagte Kallyari, ohne weiter auf Khaarias Frage einzugehen. „Ich kann keine Zeichen der Krankheit an Euch erkennen, und auch keine frischen Flohbisse, was nicht heißt, dass Ihr nicht vor kurzem noch solche Bisse an Euren Körper getragen habt und das krankmachende Dämonengift dieser Kreaturen in Euren Leib gedrungen ist. Vierzig Tage werdet Ihr nicht sicher sein, ob Ihr die Seuche nicht in Euch tragt. Meidet in dieser Zeit alle Kontakte, soweit dies irgend möglich ist. Auch untereinander, was Euren Bruder betrifft. Denn schließlich ist es durchaus möglich, dass einer von Euch die Krankheit in sich trägt und der andere nicht.“ Er drehte sich um und ging zur Seite. Dort stand ein Bottich, den Khaaria bisher nicht bemerkt hatte. Er bückte sich und holte ein großes, dünnes Tuch hervor. Es wirkte feucht und schwer. Damit kehrte er zurück und schlang dieses Tuch um Khaarias Körper. Es strömte einen unfassbar scharfen Geruch aus, der wie Feuer in Nase und Rachen brannte. Ihre Augen begannen so stark zu Tränen, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. „Lasst dieses Tuch so lange Ihr es ertragen könnt auf Eurer Haut. In vierzig Tagen werde ich Euch erneut untersuchen. Und wenn Ihr dann ohne Befund seid, kann man davon ausgehen, dass Ihr nicht von der Krankheit befallen seid!“
Khaaria wollte antworten, aber der scharfe Geruch hinderte sie daran, auch nur ein einziges Wort herauszubringen.
„Und jetzt soll Euer Bruder zu mir kommen!“, fügte Kallyari noch hinzu. Er wandte sich in Richtung der Tür und rief plötzlich mit überraschender Stimmgewalt. „Bringt den anderen!“
*
Die nächsten Tage verbrachten Khaaria und Arco jeweils in der Abgeschiedenheit eines Zimmers, das man eigens hergerichtet hatte. Eine Dienerin brachte Khaaria die Mahlzeiten und frische Kleidung.
Sie kam nur bis zur Tür und legte alles auf den Boden und klopfte dann an.
Khaaria wartete dann, bis sie ein paar Schritte gehört hatte und öffnete schließlich.
Aber am zweiten Tag war die Dienerin an der Ecke des Korridors stehen geblieben. Sie hatte hatte blauschwarzes Haar und war sicher nicht älter als Khaaria selbst. Der Blick ihrer dunklen Augen senkte sich.
„Wie heißt du?“, fragte Khaaria. Eigentlich kannte sie jeden der zahlreichen Angestellten und die umfangreiche Dienerschaft, die im Dienst des Hauses di Baragenzo standen. Selbst viele der Tagelöhner, die nur für bestimmte Aufgaben und für die Dauern von ein paar Stunden angeheuert wurden, um Waren ins Kontor zu bringen, waren ihr zumindest dem Gesicht nach bekannt. Und von vielen wusste sie auch den Namen, denn die meisten dienten dem Handelshaus schon seit langem und wurden immer wieder angestellt. Früher, so hatte Khaaria noch die Erzählungen ihres längst verstorbenen Großvaters Ankesko di Baragenzo im Ohr, hatten sich tausende von Arbeitswilligen im Hafen gedrängt und darauf gewartet, dass man ihnen für ein paar Kupfermünzen Arbeit gab. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Manchmal war es inzwischen schon schwierig geworden, genügend Träger zu einem bestimmten Termin zu bekommen. All diese Veränderungen hatten wohl damit zu tun, dass die wiederholte Rückkehr des Schwarzen Todes die Stadt regelrecht hatte ausbluten lassen und ihre Bevölkerung auf ein Minimum geschrumpft war. „Nenn mir deinen Namen!“, wiederholte Khaaria ihre Aufforderung in sehr deutlichem Arakandisch, nachdem sie die junge Frau zunächst ganz selbstverständlich in ihrem Maragenueser Dialekt angesprochen hatte.
„Eriféa“, antwortete sie nun.
„Ich habe dich hier früher noch nie gesehen.“
„Euer Schreiber Edivad hat mich angestellt. Ich bin die Tochter seines Neffen Walid und erst vor einigen Wochen nach Arakand gekommen.“
„Und woher?“
„Aus einem Ort, der auf Arakandisch Rysopalis heißt. Ihr könnt ihn sehen, wenn Ihr über das Meer blickt. Ungefähr zwanzig Meilen südlich des Stadtteils 'das Kettenende'“
Natürlich kannte Khaaria Rysopalis. Es lag am östlichen Ufer und früher hatte es nicht nur eine Eisenkette gegeben, die den Zugang um Kriegshafen und dem Goldenen Trinkhorn versperrte, und eine, die zum Stadtteil 'das Kettenende' am etamitischen Ufer der Meerenge führte, sondern auch noch eine dritte, die sich von der innerhalb des gottkaiserlichen Palastbezirks gelegenen Säule bis zu dem Leuchtturm kurz vor dem etamitischen Ufer spannte – und von dort aus dann weiter bis nach Rysopalis. Der Gottkaiser hatte diese dritte Kette in den Jahren nach der Ermordung des Gelähmten Propheten und der damit einhergehenden Unruhen ziehen lassen, um seine Herrschaft über die Meeresstraße durch den Gürtel der Welt zu sichern. Auf diese Weise war es noch besser möglich gewesen, die Einfahrt für sämtliche Schiffe vollkommen abzusperren und damit eine der wichtigsten Handelsstraßen unpassierbar zu machen. Aber inzwischen gehörte Rysopalis zum Reich des Königs von Etamia. Er kontrollierte die Meeresstraße inzwischen mindestens genauso stark wie der Gottkaiser. Zwar vermochten die Etamiter nicht, es den Arakandiern gleichzutun und Ketten über das Wasser zu spannen. Aber die Zahl ihrer Kriegsschiffe war der Arakands überlegen und dasselbe galt für die Anzahl der Kanonen, die in den Festungen zu beiden Seiten der Meeresstraße durch den Gürtel der Welt stationiert waren. Denn auf den Bau dieser neuartigen Waffen verstand man sich am Hof des Königs von Etamia weitaus besser als in Arakand, wo man immer auf die Stärke der eigenen Mauern vertraut hatte. Arakand hatte schon lange kaum mehr die Macht, die Meeresstraße zu verschließen, denn die Kettenwinden im Stadtteil 'Kettenende' waren eingerostet und niemand wusste, ob sie noch einsatzbereit waren. Der König hingegen jederzeit die Macht, die Meerenge zu schließen. Schon allein mit Hilfe seiner Flotte. So hatten sich die Gewichte im Laufe der Zeit verschoben.
„Darf ich gehen?“, fragte Eriféa.
„Nein, warte noch einen Moment.“
„Ja, Herrin.“
„Was hat dir Edivad über mich und meinen Bruder gesagt?“
„Ich fürchte die Pest nicht“, sagte sie. „Sie schlägt den, den der Namenlose Gott damit schlagen will. Es liegt nicht in unserer Hand. Also habe ich nichts dagegen einzuwenden, Euch die Nahrung zu bringen. Davon abgesehen bin ich verschwiegen. Alles, was ich in Ihrem Haus höre oder sehe, bleibt in seinen Mauern.“
Anscheinend schien Edivad umfassender mit Eriféa gesprochen zu haben, als Khaaria es im ersten Moment angenehm war. Aber vielleicht war es auch gut so. Wenn sich Edivad Schreiberling durch eine besondere Eigenschaft auszeichnete, dann war dies neben seiner absoluten Loyalität ganz gewiss seine gute Menschenkenntnis. Und wenn er jemanden seines Vertrauens für Wert hielt, dann lag er damit normalerweise richtig. Immer wieder hatte er Khaarias Vater Berater und Helfer empfohlen, deren Tätigkeit sich im Nachhinein als äußerst wertvoll erwiesen hatte. Warum sollte ich ihm in dieser Sache also nicht auch trauen?, ging es Khaaria durch den Kopf.
„Erzähl mir etwas mehr über dich“, forderte Khaaria. „Dann weiß ich besser, ob und in wie weit ich dir trauen kann.“
„Meine Eltern und drei meiner Geschwister starben ebenfalls an der Pest, so wie es mit Euren Eltern geschah“, sagte Eriféa, ohne dabei den Blick zu heben. Sie sprach mit einer Stimme, die sehr gefasst und stark klang. Sie griff dabei mit einer schnellen Bewegung nach dem messingfarbenen Amulett, das sie an einem Lederbad um den Hals trug. Vielleicht war es die Kraft des Glaubens, die ihr angesichts dieser Schicksalsschläge die nötige Kraft verlieh, um weiterleben zu können, ohne die Hoffnung zu verlieren.
„In den Ländern des Königs wütet diese Krankheit anscheinend genauso wie innerhalb der Mauern unserer Stadt“, stellte Khaaria fest.
Eriféa nickte.
„Was wohl heißt, dass die Anhänger des Baladus und die Kirche des Gottkaisers dem Namenlosen Gott in gleichem Maße fern stehe müssen, denn sonst würde er sie nicht in derselben Weise geißeln!“ Ein Anflug von Bitterkeit klang jetzt in ihrem Tonfall mit. Aber davon ließ sie in ihren Gesichtszügen nichts erkennen.
„Es ist nicht so, dass ich über deine Dienste hier unglücklich wäre oder etwas daran auszusetzen hätte“, sagte Khaaria schließlich. „Aber ich weiß nicht, ob du dir wirklich einen Gefallen damit getan hast, in diese Stadt zu kommen, die langsam vor sich hin stirbt.“
„Ich hatte keine Wahl – und bin sehr froh, im Haus von Edivad untergekommen zu sein. Diese Geißel des Namenlosen Gottes ist wie ein unsichtbarer Krieger, der seine Opfer blindwütig und scheinbar ohne Wahl erschlägt. Also sollten wir dem Namenlosen Gott für jeden Tag danken, der uns bleibt.“
„Du scheinst dir viele Gedanken zu machen, Eriféa. Mehr, als ich dir zugetraut hatte.“
*
Tage waren in Abgeschiedenheit dahingegangen. Abgesehen von Eriféa suchte sie Edivad fast jeden Tag auf. Es gab viele Dinge für das Handelshaus zu entscheiden und manche waren von einer so großen Tragweite, dass Edivad sich dabei der Zustimmung der Erben sicher sein wollte. In dem letzten Willen, den Lukkar di Baragenzo lange vor seinem Ableben zu Papier in Anwesenheit seiner Kinder sowie Edivad Schreiberlings und des Priesters Armatteo schriftlich niedergelegt hatte, war unter anderem auch festgelegt worden, dass Edivad für seine langjährigen treuen Dienste einige Anteile an dem Handelshaus erbte. Anteile, die ihn zum Zünglein an der Waage machten und, falls es zwischen den Erben zum Zerwürfnis kam, kam ihm die ausschlaggebende Stimme zu. Khaaria hatte dagegen nichts einzuwenden gehabt, schließlich war Edivads Loyalität dem Haus und der Familie gegenüber außerhalb jeden Zweifels. Und dasselbe galt für seine Fähigkeiten als Geschäftsmann und Verwalter. Arco allerdings hatte an jenem Tag völlig die Fassung verloren. Diese Regelung war in seinen Augen nichts anderes als ein weiterer Beweis dafür, wie sehr sein Vater ihm und seinen Fähigkeiten letztlich misstraute und wie wenig er ihn verstand. Der heftige Streit, der dann folgte, war Khaaria bis zum heutigen Tag in lebhafter Erinnerung geblieben. Verletzende Worte waren dabei von beiden Seiten gefallen. Worte, die sich nicht mehr zurücknehmen und ungeschehen machen ließen.
*
Khaaria di Baragenzo saß kerzengerade vor dem aus dunklem Holz kunstvoll gedrechselten Tisch, der in ihrem Zimmer stand. Sie strich sich eine verirrte Strähne ihres kastanienbraunen Haares aus dem Gesicht, das sich irgendwie aus ihrer Frisur gestohlen hatte, nahm mit der Rechten den Stift aus Blei und trug damit sorgfältig Zahlen in die vorgezeichneten Spalten ein. Und hinter jeden dieser Beträge machte sie ein Zeichen, das für die jeweilige Münze stand – denn auf den Märkten und in den Häfen wurde in allen Währungen der Welt gezahlt.
Das Zwielicht beider Sonnen fiel in ihr feingeschnittenes Gesicht und ihre blaugrauen Augen erinnerten an die Farbe des Meeres. Und trotz ihrer zierlichen Figur wirkte sie keineswegs zerbrechlich, sondern strahlte eine innere Stärke aus, die wohl nur ein aufrichtiger Glaube verlieh. Die Zeit, da sie ein Büßergewand getragen hatte, war vorbei. Aber nichtsdestotrotz war ihre Kleidung schlicht geblieben. Schlichter, als es sonst unter den Kaufleuten Arakands üblich war - gerade wenn sie ihre Wurzeln in Maragenua oder Karadig hatten! Ihr erschien das in Anbetracht ihrer Trauer allerdings angemessen zu sein.
Sie hielt inne und ein leichter Zug von Wehmut trat in ihre Züge. Von draußen schien die über der Meeresstraße stehende und zurzeit viel größer als ihr Zwillingsgestirn wirkende Erste Sonne durch das Fenster, das mit echtem karadizianischen Glas versehen war. Die Himmelgrenze des weltumspannenden Rings zog eine dunkle Linie, sodass beides zusammen, die Erste Sonne und die Himmelsgrenze, wie ein übergroßes Auge wirkten.
Ein Auge mit dunkler, kräftiger Augenbraue – so wie es bei den Augen ihres Vaters der Fall gewesen war.
Das Gesicht ihres Vaters stand ihr plötzlich vor Augen, wie es so häufig geschah, wenn sie in Gedanken war. Ein Gesicht so bleich wie eine Totenmaske, die Augen von schwarzen Ringen umgeben und der Ausdruck so elend im Angesicht des sicheren Todes. So oft war der üble Hauch der Pest über Arakand gekommen – mehr als zehn Mal in den letzten hundert Jahren. Und der schmale Meeresarm, den man das Goldene Trinkhorn nannte und der diese große und einstmals so ruhmreiche Stadt von Arep trennte, hatte Khaarias Eltern nicht davor bewahrt, von diesem bösen Hauch hinweggerafft zu werden, sodass sie und ihr Bruder Arco nun allein dastanden.
„Du musst stark sein, Khaaria!“, hatte ihr Vater ihr auf dem Totenbett gesagt. Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben gewesen und auch ein ehemals am Hof beschäftigte arakandischer Schreiber und Übersetzer namens Bhétros Vorqias, war plötzlich gestorben. Er musste die Krankheit schon länger in sich getragen haben und war plötzlich Blut hustend während einem Treffen mit Händlern aus Saragon zusammengebrochen. „Du musst stark sein und das Erbe unseres Handelshauses bewahren“, so klangen ihr immer wieder die Worte ihres Vaters im Ohr. „Wir schaffen Reichtum nicht, um seiner selbst Willen, sondern um Gutes damit zu bewirken und das Leben künftiger Träger unseres Namens zu sichern...“
Wahrscheinlich war mein Vater der einzige, der diesem Gedanken in aller Ernsthaftigkeit folgte!, dachte Khaaria nicht zum ersten Mal. Es klopfte an der Tür.
„Herein!“, forderte Khaaria.
Edivad Schreiberling betrat im nächsten Moment den Raum. Er sah mit einem Blick, womit sie sich gerade beschäftigte und nickte zufrieden. „Wie ich sehe, widmet Ihr Euch den Dingen, die für unser Geschäft wichtig sind.“
„Ich bemühe mich darum, schnell zu lernen“, antwortete Khaaria. „Habt Ihr Neuigkeiten aus Arep?“
„Nach allem, was ich gehört habe, wütet die Seuche dort nicht mehr ganz so heftig. Und es gibt inzwischen auch schon gerüchteweise ein paar Pestleichen im Nordhafen. Es sollen saragonesische Seeleute gewesen sein!“
„Wer weiß, was davon wahr ist!“, meinte Khaaria. „Ihr wisst, wie wenig beliebt die Männer aus Saragon sind! Vielleicht hat man ihnen nur die Pest an den Hals gewünscht.“ Seit Jahren schon versuchte König Olfanso von Saragon in Arakand Einfluss zu gewinnen und konkurrierte darin mit den Karadizianern und Maragenuesern. Manche spotteten, der Gottkaiser hätte langfristig nur die Wahl, sich dem baladistischen Ketzer-König von Etamia oder dem König von Saragon zu ergeben. Und gerade in den Reihen der rechtgläubigen Kirche gab es nicht wenige, die es paradoxerweise vorgezogen hätten, sich den Baladisten zu ergeben, anstatt sich den Saragonesen unterzuordnen.
„Eigentlich müsste Euer Bruder an dieser Unterredung teilnehmen“, erklärte Edivad. „Es geht nämlich um wichtige Entscheidungen.“
„Entscheidungen?“
„Es gibt Schwierigkeiten mit einigen unserer Schiffe. Wie Ihr wisst, hat Euer Vater über einen Mittelsmann aus Rysopalis dafür gesorgt, dass unsere Schiffe nicht von etamitischen Kanonen beschossen werden, wenn sie die Meeresstraße verlassen. Der Mann, der diese Art Geschäfte für uns abwickelt, heißt Aerdnas Konidas. Ich habe Euren Vater stets vor ihm gewarnt, denn ich halte ihn für einen der größten Halsabschneider rund um den Terios-Hafen.“
„Welcher Art sind die Probleme, die es mit ihm gibt“, fragte Khaaria.
„Er will plötzlich die doppelte Summe haben. Dagegen habe ich allerdings nicht den Eindruck, dass er seine Aufgabe besonders gut erfüllt und seine Kontakte zu den Etamiter wirklich so gut sind, wie er behauptet...“
Khaaria wusste, worauf Edivad damit anspielte. Vor kurzem erst war ein dringend erwartetes Schiff aus dem Reich Rapezzun bei seiner Einfahrt in die Meeresstraße schwer beschossen worden. Nur mit Mühe hatte es schließlich noch den Hafen von Arakand erreichen können. Der Kapitän war ein Maragenueser gewesen, die Mannschaft hatte hingegen vorwiegend aus angeheuerten Olbadoreanern, Boraniern und Steinküstenmännern bestanden. Das Schiff war mehrfach getroffen worden und fast ein Drittel der Besatzung war umgekommen. Davon abgesehen hatte man auch einen Großteil der Ladung verloren. Stoffballen waren verdorben worden und Fässer mit Wein oder Seife mussten über Bord geworfen werden, weil das Schiff sonst zu schwer gewesen wäre. Einige der durch die Kanonentreffer geschlagenen Löcher waren nämlich so dicht an der Wasserlinie, dass unweigerlich Wasser in so großer Menge eingedrungen wäre, dass es gekentert wäre. Also hatte man es notgedrungen leichter werden lassen müssen. Ein herber Verlust für das Haus di Baragenzo. Das sorgenvolle Gesicht ihres Vaters, als er die Nachricht von den Geschehnissen erhielt, war Khaaria noch lebhaft im Gedächtnis.
„Haben wir eine Alternative zu diesem Aerdnas Konidas?“, fragte Khaaria.
„Genau das ist das Problem. Ich fürchte, wir werden in Ermangelung anderer Optionen auf eine Zusammenarbeit mit ihm angewiesen sein, auch wenn seine Mittelsmänner offenbar nicht in der Lage sind, Schiffen, die in unserem Auftrag unterwegs sind, auch tatsächlich eine reibungslose Fahrt durch die von den Etamiter beherrschten Gewässer zu gewährleisten.“
„Ist es nicht möglich, diesen Aerdnas Konidas als Mittelsmann zu umgehen und selbst mit Männern in Verbindung zu kommen, die Einfluss auf die Kanoniere des Königs haben?“, fragte Khaaria stirnrunzelnd. Das erschien ihr das Naheliegendste zu sein.
Edivad lächelte mild. „Das versuchte ich Eurem Vater seit längerer Zeit schon anzuraten. Doch das ist nicht ganz so einfach, wie Ihr Euch das vielleicht vorstellt. Zudem ist es sehr risikoreich.“
„In wie fern?“
„Angenommen jemand erführe von einer solchen Verbindung, dann wäre es jederzeit möglich Euch und alle die davon wussten des Verrats zu bezichtigen.“
Khaaria zuckte mit den Schultern. „Aber kann denn irgendjemand glauben, dass auch nur einer unter denjenigen, die in Arakand noch Fernhandel betreiben, dies tun kann, ohne sich auf irgendeine Weise mit den Etamiter zu arrangieren?“
„Nein, natürlich nicht. Das tun alle, auch wenn niemand darüber spricht. Aber wie gesagt, wenn wir Konidas übergehen, dann erhöhen wir das Risiko, das dies eventuell gegen uns verwendet wird. Euch wird doch auch bekannt sein, wie die Hofintrigen entstehen und wie sich hinter den erhabenen Mauern des Gottkaiserpalastes die unterschiedlichsten Gruppen bis auf das Messer bekriegen und vor nichts zurückschrecken.“
„Soweit mir bekannt ist, sind unsere Beziehungen zum Hof doch ausgesprochen gut“, erwiderte Khaaria. „Schließlich stammen wir von Aerdna Oloccin di Baragenzo ab, dem das Imperium einiges schuldet!“
Imperium – dieses Wort kam Khaaria in diesem Zusammenhang fast wie Hohn vor. Aber genau so sah sich dieser Staat, dessen Grenzen inzwischen nahezu mit den Mauern ihrer Hauptstadt identisch waren.
„Nur, weil Euer Urahn geholfen hat, die Galbadoriner zu verjagen, solltet Ihr Euch der Loyalität des Gottkaiserhauses nicht auf Dauer zu sicher sein“, warnte Edivad. „Das Haus di Baragenzo hat Konkurrenten, die ebenso gut auf den Saiten jener Laute zu spielen wissen, die man Hofdiplomatie nennt und die in Arakand wichtiger ist, als alles andere, um Erfolg zu haben.“
„Und was schlagt Ihr vor?“
„Zunächst werden wir die Bedingungen von Aerdnas Konidas akzeptieren müssen. Aber langfristig bleibt uns keine andere Möglichkeit, als das Risiko einzugehen und selbst nach zuverlässigen Verbindungen zu den Etamitern zu suchen. Aber Gnade uns Gott, wenn davon jemand erfährt, für den dieses Wissen nicht bestimmt ist!“
Khaaria nickte. „Was ist mit Arco?“
„Ja, das ist auch etwas, was mir Sorgen bereitet. Wie ich schon erwähnte, hätte er an diesem Gespräch eigentlich teilnehmen sollen, wobei ich mir inzwischen gar nicht mehr sicher bin, ob es nicht besser so ist...“
„Was meint Ihr damit?“
„Arco ist nicht in seinem Zimmer. Eriféa will gestern noch Schritte in einem Zimmer gehört haben, also gehe ich davon aus, dass er zu diesem Zeitpunkt noch dort war.“
„Wo ist er hin?“, fragte Khaaria.
„Ich hatte eigentlich gehofft, dass Ihr mir das sagen könntet, Khaaria. Er ist Euer Bruder und wie ich weiß, steht Ihr ihm so nahe wie sonst wohl kaum jemand anderes.“
Khaaria schluckte. „Ich weiß nicht, wo Ihr ihn suchen solltet“, meinte sie, während ihr mit einem Mal bewusst wurde, dass sie ihren Bruder vielleicht doch weniger gut kannte, als sie es bisher geglaubt hatte.
*
Zwei Tage später tauchte Arco wieder auf. Er trug ein ungewöhnlich schmutziges Lederwams und auch das Hemd darunter war besudelt. Khaaria stellte ihn zur Rede. Er sah sie nur an und schwieg.
„Rede mit mir! Wie kannst du einfach verschwinden, ohne zu sagen wohin und aus welchem Grund? Edivad und ich haben uns Sorgen gemacht. Und davon abgesehen wissen wir nicht, ob wir nicht doch die Krankheit in uns tragen und...“
„...wenn das der Fall sein sollte, so sind wir doch nur Werkzeuge in den Händen des Bösen, wenn wir den Tod in die Stadt tragen. Aber du kannst beruhigt sein. Dort ist er bereits. Auch wenn noch nicht viele davon wissen. Aber man munkelt davon in den Gassen am Terios-Hafen.“
„Arco!“, stieß Khaaria befremdet hervor. Er sah sie an und seine Augen wirkten dabei glasig. „Was redest du?“
„So ist es doch! Nicht einmal ein so frommer Mann wie unser Priester Armatteo da Creto kann sicher sein, ob er nicht in Wahrheit dem Bösen dient, obgleich er sicherlich das Gegenteil beabsichtigt!“
Khaarias Blick blieb stirnrunzelnd an der besudelten Kleidung haften. „Das - das sieht aus wie... Blut!“, stellte sie fest. „Was ist geschehen?“
„Nichts, worüber ich mit dir sprechen könnte, Schwester“, murmelte er. Und damit ließ er sie einfach stehen.
*
Die Tage gingen dahin und sehr sich Khaaria auch darum bemühte, etwas mehr darüber herauszufinden, wo Arco gewesen und was in jener Nacht mit ihm geschehen war, nach der er mit blutbeschmierter Kleidung zurückkehrte. Er schwieg darüber. Die Fragen, die die Zukunft des Handelshauses betrafen, schienen ihn nicht weiter zu interessieren.
Als sie ihn in seinem Zimmer aufsuchte, saß er in sich versunken auf dem Bett und las in einem kleinen Buch. Er wirkte sehr angestrengt. Arco hatte in der Vergangenheit immer wieder ganze Tage in den Bibliotheken Arakands verbracht und manchmal auf einem der Märkte Abschriften von Büchern erworben. Sein Arakandisch war perfekt, sein Galbadorin ebenfalls und er konnte sogar genug Tarastanisch und Boranisch, um auch Bücher lesen zu können, die in diesen Sprachen verfasst worden waren. Khaaria hatte das immer bewundert, denn obschon man in einer Stadt wie Arakand darauf angewiesen war, sich in mehreren Zungen zu verständigen, war Arco ihr in dieser Hinsicht immer voraus gewesen.
„Arco“, brachte sie vorsichtig seinen Namen über die Lippen. Dreimal schon hatte sie ihn angesprochen, ohne dass er sie beachtet hatte. Zu sehr schien er in die Lektüre des in Leder gebundenen Buches vertieft zu sein. Ein Ruck ging nun durch seinen Körper, bevor er aufblickte. Er bedachte sie mit einem sehr eigenartigen Blick. Seine Augen waren dabei weit aufgerissen und schienen nun plötzlich mit einem quälend intensiven Blick ausgestattet zu sein. Er klappte das Buch zu. „Du solltest diese Verse lesen!“, sagte er. „Sie geben Kraft und Halt!“
„Was ist es denn, was du da liest? Allem Anschein nach fesseln dich diese Zeilen ja ganz außerordentlich! Sind es die weisen Sprüche aus unserem Heiligen Buch?“
Arco schüttelte energisch den Kopf. „Da preist man eine Schrift als heilig und es wird dadurch nur um so offenbarer, dass alle anderen Schriften von nun an unheilig sind“, murmelte er ziemlich düster. Aber dafür war er nun plötzlich mit einer Entschlossenheit ausgestattet, die ihresgleichen suchte. „Alles kann sich im Handumdrehen ändern, werte Schwester. Dinge verkehren sich in ihr Gegenteil. Stärke verwandelt sich in Schwäche, Gutes in Böses, Wasser in Blut und Gott in den leibhaftigen Bösen.“
„Arco, du redest wirr!“
Er stand auf, kam auf Khaaria zu und reichte ihr das Buch. „Das alles steht hier drin.“
„Was ist das?“
„Eine Abschrift des Buches der Kharavim. Ich habe sie selbst angefertigt. Es ist nicht vollständig, aber leider gibt es dieses Buch nur in wenigen Exemplaren und kaum eine Abschrift ist wirklich vollständig erhalten geblieben... Es heißt, dass man selbst böse werden muss, um das Böse zu besiegen. Ein interessanter Gedanke, nicht wahr?“
Kharavim – das alt-arakandische Wort für unsichtbar.
Eine Bezeichnung, die einen schaudern ließ, denn in den alten Legenden wurden die Todesengel des Namenlosen Gottes so genannt.
„Das ist gewiss eine Ketzerschrift!“, stellte Khaaria stirnrunzelnd fest. Sie öffnete das Buch und sah die wohlgeordneten Reihen und Kolonnen arakandischer Buchstaben darin.
„Was heißt schon Ketzerei, Khaaria? Es waren vom Gottkaiser einberufene Konzilien, die bestimmt haben, welche Texte zum heiligen Kanon gezählt werden und welche nicht. Es sind Menschen, die bestimmen, welche Gedanken wahr sein dürfen und welche nicht! Nicht Gott, denn zu Gott selbst hat offenbar sowohl unsere als auch die galbadorinische Kirche schon längst jegliche Verbindung verloren. Es geht darum, die Macht von Wenigen zu erhalten – nicht die Wahrheit. Und diejenigen, die ihr bis auf den Grund gehen wollen, werden dann allzu leicht als Ketzer bezeichnet. Wenn du es so sehen willst, dann bin ich ein Ketzer.“
Er lachte und Khaaria gab ihm das Buch zurück. Sie hatte das Gefühl, es besser nicht länger als unbedingt notwendig in den Händen halten zu dürfen, so als würde sie sonst selbst Gefahr laufen, in den eigentümlichen Bann zu geraten, den es offenbar auf ihren Bruder ausübte.
„Wo warst du?“, fragte sie noch einmal.
Aber Arco schüttelte den Kopf. „Das kann ich dir nicht sagen“, erklärte er. „Ich darf es nicht.“
„Warum nicht?“
„Um dich nicht in Gefahr zu bringen.“
„Von was für einer Gefahr sprichst du?“
„Jedes weitere Wort ist zuviel, Khaaria. Sei unbesorgt, ich habe die Pest nicht, so wie du auch nicht. Noch nicht. Sonst würden wir die Symptome der Krankheit längst an unserem Körper spüren und dieser Quacksalber des Gottkaisers hat schließlich keine Zeichen an unseren Körpern entdeckt. Also kannst du unbesorgt sein, ich habe das Übel nicht in die Stadt getragen und nirgendwo Argwohn geweckt.“
„Arco! Edivad und ich brauchen deine Hilfe!“
„Mein Hilfe? Khaaria, niemand hat je meine Hilfe gebraucht. Du solltest voll und ganz auf Edivad vertrauen, das hat unser Vater auch getan. Und wenn auch ansonsten mehr entzweiendes als Gemeinsamkeit zwischen uns geherrscht haben mag, so wäre ich mit ihm in diesem Punkt ganz gewiss einer Meinung!“
Khaaria spürte in diesem Moment so deutlich wie selten zuvor, dass es offenbar unmöglich war, ihren Bruder innerlich zu erreichen. Die ketzerischen Lehren dieses sogenannten Buches der Kharavim schienen ihm auf irgendeine, für die junge Frau kaum nachvollziehbare Art und Weise innere Kraft zu geben. Kraft, um den Schrecken zu verwinden, der hinter ihnen lag und sie beide gewiss noch lange in ihren Albträumen verfolgen würde. Unter anderen Umständen hätte Khaaria vielleicht versucht, ihm diese ketzerischen Gedanken mit aller Macht auszureden, obgleich sie wusste, wie schwierig das hätte werden können. Aber dazu fehlte Khaaria in diesem Moment einfach die Kraft – Kraft, die sie brauchte, um nicht selbst zu verzweifeln.
*
Eines Nachts (es war eine Nacht, in der der Mond auf der nördlichen Seite der Himmelsgrenze stand, worin manche in Zeiten des abnehmenden zweiten Sonnenlichts ein gutes Omen erkannten) kam Vaosdo Kallyari zum zweiten Mal zum Kontor des Hauses di Baragenzo, um die Körper der beiden überlebenden Erben zu untersuchen. Wieder hatte man einen Raum so herrichten lassen, wie Meister Kallyari wünschte. Die Scham, die Khaaria diesmal empfand, war nicht geringer, als bei der ersten Untersuchung. Aber sie ließ es über sich ergehen, denn sie wusste, dass es keinen anderen Weg für sie ab. Schließlich bedeutete das Urteil diese Arztes zumindest ein wenig Gewissheit – sofern es diese im Zusammenhang mit der Pest überhaupt geben konnte. Schließlich konnte selbst dann, wenn festgestellt wurde, dass sie völlig frei von den Zeichen dieser Krankheit war, niemand ausschließen, dass sie nicht schon am Tag darauf das üble Miasma - den Hauch des Todes - einatmete, woraufhin sie dann dem Verderben anheim gegeben war.
Kallyari verrichtete seine Untersuchung wortlos und mit schmerzhafter Rohheit. Bei der ersten Untersuchung war er so grob gewesen, dass sich an einigen Stellen blaue Flecken gebildet hatten, von denen sie erst befürchtet hatte, diese Verfärbungen könnten frühe Stadien der Pestbeulen sein.
„Zieht Euch wieder an“, murmelte der maskierte Arzt unter seiner Schnabelmaske hervor.
„Diesmal ist es nicht nötig, die Kleider zu verbrennen?“, fragte Khaaria.
„Nein. Ihr seid frei von allen Zeichen der Pestilenz.“
„So sei dem Namenlosen Gott dafür Dank!“
Khaaria steifte sich ihre Kleider rasch wieder über. Der Arzt hatte sich bereits abgewandt. Im flackernden Licht der Kerzen und Öllampen schien er kaum etwas Menschliches an sich zu haben, sondern wirkte wie ein groteskes dämonisches Mischwesen aus Vogel und Mensch.
Ein Magier der Pestilenz.
Ein grauenerregendes Tier, das dem Glutofen des Feuers entstiegen sein mochte, aus dem die Zweite Sonne bestand und mit dem sie in mehr oder minder regelmäßigen Abständen Arakand und die Welt bedrohte. Die Geschichtenerzähler an den Ecken fabulierten von solchen Tiergestalten und schmückten die Geschichten darüber mit grausigen, farbenfrohen Bildern aus. Hier in Arakand war das nicht anders als in Maraguenua oder Karadig. Und die junge Frau erinnerte sich noch gut daran, diesen Geschichten in ihrer Kindheit immer aufmerksam gelauscht zu haben.
„Meister Kallyari“, sagte Khaaria dann mit fester Stimme.
Kallyari wandte den Kopf. „Ich habe meinen Dienst an Euch verrichtet. So werdet Ihr Zugang zum Hof bekommen, was für Euch ja wohl von großer Bedeutung sein wird, wenn Ihr das Wohlwollen und die Privilegien des Gottkaiserhauses behalten wollt. Alles andere soll mir gleichgültig sein. Schickt also Euren Bruder zu mir – und ich will hoffen, über ihn dasselbe sagen zu können wie über Euch!“
„Ich würde gerne Euer Gesicht sehen, Meister Kallyari – nun, da Ihr bereits zum zweiten Mal alles gesehen habt, was an mir verborgen war!“
„Nur Unwissenheit schützt vor Magie, heißt es“, sagte Kallyari.
„Und Ihr seid ein Magier?“
„So sagt man.“
„Dennoch – ich will Euer Gesicht sehen.“
Khaaria sprach mit sehr klarer Stimme, von der eine Stärke ausging, die sie selbst am meisten überraschte. Sie hatte einfach das Gefühl, unbedingt sehen zu müssen, was für ein Gesicht unter dieser Maske verborgen war und zu wem diese unsagbar kalten grauen Augen gehörten, deren Blick sie auf so unangenehme Weise gemustert hatten.
Kallyari wandte sich halb herum. Der Lichterschein ließ den eigentümlichen Anzug, den er trug, jetzt erst recht wie die Haut eines Reptils erscheinen. Die Augenlöcher in der Schnabelmaske lagen im Schatten. „Seid glücklich, wenn Ihr mein Antlitz niemals zu Gesicht bekommt!“, wisperte er auf eine Weise, die keinen Widerspruch duldete.
Ein kalter Schauder überlief Khaaria.