Читать книгу Zwei Fantasy Sagas: Der Magier von Arakand/Die Schlangenmutter - Abraham Merritt - Страница 12
Drittes Kapitel
ОглавлениеHavbeck, Jahr 1448 nach der Köpfung des Baladus.
Bornhart Raakheimer durchschritt das Stadttor von Havbeck, jener Stadt, die man insgeheim auch als Hauptstadt der Händlergilde bezeichnete. Der Schatten der Himmelsgrenze bildete zusammen mit dem Tor ein rechtwinkeliges Kreuz. Das Symbol Havbecks und des Reichs der Händlergilde. Wenn in Zeiten des nahenden zweiten Sonnenlichts dieser Schatten überstrahlt wurde und nicht mehr sichtbar war, galt das als ein Omen für Gefahr und schlechte Jahre.
Das geschäftige Treiben an den Wechselbänken erweckte heimatlich Gefühle und Erinnerungen. Fünfundzwanzig Jahre war Bornhart Raakheimer nun – und es war lange her, da er zum letzten Mal den Fuß in diese Stadt gesetzt hatte.
Genau wie der Drachenmarkt, auf dem erlegte Seedrachen gleich nach dem Fang zerteilt und verkauft wurden. Eine Delikatesse, die die havischen Schiffe auf ihren Fahrten zum Reich an der Steinküste mitbrachten.
Der ganz spezielle Geruch von Seedrachenblut verbreitete sich dann. Diese Geschöpfe waren manchmal nur handgroß, konnten aber bis zur doppelten Größe eines havischen Kriegsschiffs wachsen. Und wenn ein solcher Riese zerteilt wurde, dann floss das Drachenblut durch eigens dafür eingerichtete Rinnen zur Stadt hinaus und färbte manchmal noch den nahe Fluss rot.
*
Aufgebrochen war Bornhart einst zu Pferde und in edlen Kleidern, wie sie für einen Kaufmannssohn aus einer Familie angemessen war, die in der wechselvollen havischen Geschichte schon dreimal den Ältermann der Boranienfahrer gestellt hatte, einer der einflussreichsten Bruderschaften von Fernhandelskaufleuten. Jetzt kehrte er zu Fuß und in einfachen Gewändern zurück.
Das sackartige, gegürtete und knielange Wams, das er über Hosen aus fleckigem Leder trug, war mehrfach geflickt. Der grobe, dunkle Stoff erinnerte an die Kutten von Mönchen. Am Gürtel hing ein Langmesser wie es einem Bauern gut angestanden hätte – aber kein Seitenschwert. Das Langmesser hingegen war eigentlich für jemanden wie Bornhart nicht standesgemäß. Eine Bauernwaffe, die sich von einem richtigen Schwert vor allem dadurch unterschied, dass die Klinge nur eine Schneide haben durfte. Zweischneidige Waffen waren – gleichgültig in welcher Länge, den höheren Ständen vorbehalten. Das einzige etwas edlere Kleidungsstück, das Bornhart Raakheimer trug, war die Lederkappe auf seinem Kopf. Zwar fehlte ihr jeglicher Federschmuck und davon abgesehen zeigte sie auch Spuren starker Beanspruchung, aber immerhin war sie von gediegener Verarbeitung. Ergiebige Regengüsse hatten an ihr allerdings ebenso ihre Spuren in Form dunkler Flecken hinterlassen wie die bleichende Kraft der Sonnen. Aber jeder, der diese Mütze aus der Nähe betrachtete und auch nur ein wenig davon verstand, konnte ihr die gute Verarbeitung ansehen. Und wer noch genauer hinsah, bemerkte vielleicht sogar ein eingearbeitetes, verschnörkeltes Schriftzeichen Raak – das weit über Havbeck hinaus bekannte Zeichen der Familie Raakheimer. Diese Mütze war das einzige, was Bornhart aus der Fremde wieder zurück in die Stadt seine Vorväter brachte. Von allem anderen hatte er sich nach und nach getrennt, um es zu Geld zu machen. Aber bei dieser Mütze hatte er das einfach nicht übers Herz gebracht. Davon abgesehen war sie ohnehin nicht mehr in einem Zustand, der es möglich erscheinen ließ, mit dieser Mütze mehr als nur ein paar Kupfermünzen zu erzielen.
Bornhart drängte sich durch das Getümmel auf den Straßen. Marktschreier boten Stockfisch feil – getrockneten Steinküsten-Hai, der von den Steinküsten-Fahrern in den havischen Hafen gebracht und entladen wurde. Von Havbeck aus fand dieser lange haltbare Fisch seinen Weg bis nach Galbador, Maragenua und Arakand. Mit Stockfisch hatte auch das Handelshaus Raakheimer stets den größten Teil seiner Einnahmen verdient. Das Geschäft mit diesem lange haltbaren, fast unverderblichen Nahrungsmittel war so sicher, wie sonst kaum ein anderes Gewerbe. Auf jeder etwas längeren Seereise war Stockfisch unverzichtbar. Gaukler führten ihre Kunststücke vor. Ein Kutscher verlangte lautstark, dass man Platz für ihn machte. In all dem Trubel, sah Bornhart plötzlich Yanyaqub Odarsan, ein Mitglied der ehrenwerten Bruderschaft der Steinküstenfahrer. Bornhart war Odarsan oft im elterlichen Haus begegnet. Er kannte den Mann mit dem früh erblichenen Haar und dem gelblichen Spitzbart seit frühester Kindheit. Odarsans Blick blieb einen Moment an Bornhart haften, wobei sich eine tiefe Falte auf der Stirn des Boranien-Fahrers bildete. Es sah fast so aus, als würde er darüber nachdenken, ob er den jungen Mann in angerissener Kleidung nicht irgendwo her kannte. So stark hatte sich Bornhart Raakheimer doch nicht verändert! Zumindest dachte Bornhart das. Odarsan griff zu seiner karadizianischen Brille und hielt sich die beiden durch einen Metallbügel miteinander verbundenen geschliffenen Gläser vor die Augen. Die Brille hatte dazu eigens einen recht stabilen Griff an der Seite.
Ein hoher, völlig mit Stoffballen überladener Wagen verdeckte dann die Sicht des Boranien-Fahrers und Bornhart nutzte die Gelegenheit und machte ein paar schnelle Schritte. Er blieb für Odarsan zunächst hinter dem Wagen verborgen. An der nächsten Straßenecke blieb Bornhart noch einmal stehen und sah vorsichtig zurück.
Yanyaqub Odarsan wirkte etwas verwirrt und ließ suchend den Blick schweifen.
Vielleicht war es wirklich besser, dass er den jungen Kaufmannssohn nicht erkannt hatte! Schließlich kam Bornhart in einem schäbigen Gewand zurück hinter die Mauern seiner Heimatstadt. Es war besser, wenn der Boranien-Fahrer den Sohn des angesehenen Ältermannes Addham Raakheimer nicht so zerlumpt in die Stadt seiner Väter zurückkehren sah. Zerrissen wie ein verlorener Sohn, der mit viel Geld gegangen und als geflohener Schweinehirt zurückgekehrt war.
Aber diesen Gedanken verscheuchte er sofort wieder. War all das nicht irdischer Tand, auf den es gar nicht ankam? Wie bedeutungslos erschien all das, was ein Mensch an Besitz anhäufen konnte im Angesicht des tausendfachen Todes und des unsäglichen Leides, das man überall beobachten konnte. Der Namenlose Gott schien prüfen zu wollen, wie viel die menschliche Seele ertragen konnte. Wie anders war es zu erklären, dass er die Länder des Gürtels der Welt in den letzten hundert Jahren so oft mit dem Schwarzen Tod geschlagen hatte?
Alle zehn bis fünfzehn Jahre kehrte er über die Häfen zurück und so hatte es auch in Havbeck nicht eine Generation gegeben, die nicht mehrfach Berührung mit dieser Geißel gehabt und das unerklärliche Sterben miterlebt hatte. Nicht immer schlug diese Plage mit der gleichen, tödlichen Wucht zu. Manchmal war ein Ausbruch auch schon nach kurzer Zeit vorbei und verebbte bei ihrem Vormarsch zu Lande – mitunter sicher auch deshalb, weil es inzwischen weite, unbesiedelte Gebiete gab, in denen niemand mehr lebte, den die Seuche hätte treffen können.
Manche wollten erkannt haben, dass die Seuche mit Vorliebe in Zeiten der fortgehenden zweiten Sonne zuschlug.
Dann wurde das Klima kühler und feuchter. Die Ratten kamen aus ihren Löchern, suchten die Nähe der Menschen und ihrer Abfälle und verbreiteten die Krankheit.
Ob die Zweite Sonne sich näherte oder fortging – für die Menschen schien beides Gefahren zu bergen, auch wenn diese im ersten Fall weit offensichtlicher waren als im zweiten.
*
Zweimal hatte Bornhart erlebt, wie die Seuche in Havbeck gewütet hatte. Beim ersten Mal war er noch ein Kind gewesen und hatte mitansehen müssen, wie zwei ältere Brüder und eine Schwester blutspuckend und von schrecklichen Krämpfen geschüttelt der Seuche erlegen waren. Es hatte so viele Tote gegeben, dass sie tagelang in den Straßen liegen blieben – zusammen mit den Kadavern der Ratten, die das üble Miasma offenbar aus der tiefen Erde trieb, bevor sie ebenso elendig wie die Menschen an der Krankheit zugrunde gingen. Selbst Ouroungour, Laufdrachen, Hunde und Katzen waren vor dem Übel nicht sicher und man fand diese treuen Hausbewacher dann am Morgen in ihrem eigenen blutigen Auswurf liegen - oder in irgendeinem verborgenen Winkel, in den sie sich zum Sterben zurückzogen. Diese Erinnerungen hatten Bornhart niemals aus ihrem eisigen Schreckensgriff gelassen. Niemand war vor diesem unsichtbaren, blindwütigen Ungeheuer sicher, das die Reichen genauso in ihren reich ausgestatteten Patrizierhäusern tötete wie die armen Bettler und Tagelöhner, die sich täglich am Hafen verdingen mussten. Alte und Junge, Fromme und Heuchler, Barmherzige und Grausame – sie alle raffte der dunkle Schatten dahin. Weder die hohen Mauern von Patrizierhäusern und Fürstenpalästen, noch die inbrünstige Buße der sich selbst geißelnden Flagellanten aus irgendwelchen Sekten konnte einem Schutz vor dem Unheil bieten. Und auch die Lehre der Anhänger des Gelähmten Propheten stand diesem Übel ratlos gegenüber.
Der Gedanke, diesem Schrecken so vollkommen schutzlos ausgeliefert zu sein, hatte Bornhart schon als Kind kaum ertragen können.
Als die Pest zum zweiten Mal zu Bornharts Lebzeiten Havbeck erreichte, war er bereits ein junger Mann von 17 Jahren gewesen, der die örtliche Galbadorinschule besucht und dort vor allem in Arithmetik, in Lesen und Schreiben und in den Sprachen ausgebildet worden war. Denn das waren jene Fähigkeiten, die ein zukünftiger havischer Fernhandelskaufmann nach Ansicht der Familie haben sollte. Die Wissbegier hatte ihn erfasst und seine Lehrer hatten ihn als begabt angesehen. Bornhart hatte von den Magistern seiner Schule von den Universitäten in Arafurt, Arakolon und Maraprag gehört, an denen sich die gelehrtesten Köpfe der Zeit trafen, um nach Erkenntnis zu suchen. Männer, die galbadorinische und hoch-arakandische Grammatik lehrten und die alten Schriften zu deuten wusste wie niemand sonst. Theologen, die dem Willen des Namenlosen Gottes und dem verborgenen Sinn heiliger Schriften auf der Spur waren, Arithmetiker, die den Zahlen den Zauber ihrer inneren Gesetze und Eigenschaften zu entlocken versuchten und Rechtsgelehrte, die die Grundlagen des arakandischen Rechts ebenso kannten wie das havische Stadtrecht, das im gesamten Reich der Händlergilde galt – das alles gab es dort. Es war nicht leicht gewesen, Addham Raakheimer, den traditionsbewussten Patrizier, davon zu überzeugen, dass sein Sohn Bornhart für mehrere Jahre in eine ferne Stadt geschickt werden sollte, um sich einem Studium zu widmen. Aber er hatte wohl gespürt, wie drängend dieser Wunsch bei Bornhart gewesen war. Drängender als irgendetwas anderes, was ihn bewegte. Und so hatte Addham Raakheimer nachgegeben – unter der Voraussetzung, dass Bornhart sich dem Studium der Rechtskunde widmete.
„Es steht einem Kaufmann gewiss gut an, die Grundlagen des Rechts zu kennen und seinen Vorteil daraus zu ziehen!“, so hatte Bornhart die Worte seines Vaters noch im Ohr. „Und die paar Jahre werde ich schon auf dich verzichten können. Sie werden dich reicher an Erfahrung machen und dich zu einem noch besseren Kaufmann werden lassen.“
Jetzt war er zurück – mit einer Verspätung von fast fünf Jahren. Ein verlorener Sohn, der nur gekommen war, um sich auf eine noch weitere Reise zu begeben. Eine Reise, die vielleicht keine Wiederkehr kannte...
*
Bornhart Raakheimer erreichte schließlich das dreistöckige Haus seiner Familie. Die gezackten Giebel reckten sich stolz empor. Zusammen mit der Himmelsgrenze ergaben sie das Schriftzeichen Raak und wenn der Mond südlich der Himmelsgrenze stand, kam sogar noch ein Zeichen der Betonung und der Ausrufung hinzu.
Seht her, das Haus der Familie Raakheimer! So lautete die Bedeutung dieser architektonisch gewollten Anordnung, dieses Zusammenspiel aus göttlicher Himmelsarchitektur und menschlichem Hausbau.
Der Anblick war Bornhart so vertraut wie jene des havischen Domes, dessen Türme sich ganz in der Nähe erhoben und beim gegenwärtigen Stand beider Sonnen ihren übermächtigen Schatten genau auf das Raakheimer-Haus warfen.
Bornhart atmete tief durch. Der Bart war während seiner Reise von Arafurt nach Havbeck stark gewachsen, denn er hatte keine Kupfermünze für den Bader ausgeben wollen. Bei seinem Aufbruch war sein Bartwuchs nicht mehr als ein dünner Flaum gewesen, der kaum hatte erahnen lassen, wie sein Bart einst aussehen würde. Von dem Geld, das ihm sein Vater einst mitgegeben hatte, war ohnehin nichts mehr übrig. Das wenige, was er zur Zeit besaß, stammte einerseits aus dem Verkauf seiner letzten Habseligkeiten und andererseits durch seine Verdingung als Schreiber und seine Beteiligung am Chorende-Gesang, wie er bei den Studenten Arafurts üblich war. So singen zu lernen, dass man dafür auch tatsächlich ein paar Münzen in die ausgelegte Lederkappe legte und nicht mit faulen Eiern oder schlechtgewordenem Obst nach ihm warf, hatte ihn viel Mühe gekostet. Und eine wirkliche Begabung hatte er auf diesem Gebiet an sich selbst wohl auch nicht feststellen können.
Aber immerhin hatte diese Tätigkeit dazu beigetragen, ihm die Fortsetzung seiner Studien weit über den vom Vater eigentlich festgesetzten Zeitpunkt hinaus fortzusetzen.
Bornhart zögerte, ehe er die Straße überquerte, um auf das Hauptportal des Raakheimer'sche Hauses zuzugehen und mutig dessen Stufen zu betreten.
Ein vierspänniger Planwagen, der bis unter das stockfleckige Leinentuch mit Stoffballen beladen war, rumpelte an ihm vorbei und gab Bornhart einen Vorwand, die wenigen, entscheidenden Schritte noch hinauszuzögern. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er sich mit einer Reihe unruhiger Gesten den Staub von den Kleidern schlug.
Damals, als er die Stadt verlassen hatte, war der Schwarze Tod umgegangen. Ein Bediensteter seines Vaters hatte Bornhart auf dem Weg nach Arafurt begleitet. Bornhart erinnerte sich noch so lebhaft daran, sich im Sattel umgedreht und auf die Rauchsäulen der Pestfeuer gestarrt zu haben, die sich dunklen, übermächtigen Schatten gleich über die Stadt erhoben hatten. Die Erinnerung an dieses zweite Auftreten des Schwarzen Todes in Havbeck zu Bornharts Lebzeiten, lastete noch viel schwerer auf seiner Seele als die furchtbaren Erlebnisse, die er in seiner früheren Kindheit mit dem Dämon dieser Krankheit gehabt hatte. Das lag vor allem daran, dass er sich insgeheim bis heute schämte, Havbeck und alle die ihn lieb und teuer gewesen waren, genau in jenem Moment verlassen zu haben, in dem sie von dieser übermächtigen und völlig unkalkulierbaren Gefahr bedroht wurden. Gleichzeitig war aber auch das Gefühl einer großen Erleichterung darüber in ihm gewesen, diesen Ort hinter sich lassen zu können und so nicht das bösartige Miasma einzuatmen, das jetzt all überall aus dem Boden hervorquoll und den Pest-Dämon verbreitete.
Vielleicht war es tatsächlich so, dass der Namenlose Gott diese Geißel auf die geschundenen Körper der Menschen herniederzucken ließ, um ihren Widerstandsgeist zu wecken! An eine solche Prüfung schienen die wenigsten zu denken, die davon überzeugt waren, dass der Herr diese Plage nur deswegen geschickt hatte, um sich erweisen zu lassen, ob ihr Glaube stark genug war.
Man musste etwas tun gegen diese schreckliche Krankheit – und vor allem durfte man die von ihr Geschlagenen nicht einfach sich selbst überlassen. Jedenfalls konnte sich Bornhart nicht vorstellen, dass es der Herr so bestimmt hatte, dass man die Hände in den Schoß legte und geduldig sein Ende erwarten sollte. Es musste doch irgendein Mittel gegen diese Seuche geben!, so hatte er damals gedacht und dieser Gedanke ließ ihn bis heute nicht los. Es mochte ja sein, dass der Namenlose Gott es war, der dieses Unheil zur Welt gesandt hatte – aber es sprach auch einiges dafür, dass dieser Dämon ganz und gar den Gesetzen der Natur folgte, sobald er einmal auf der Welt freigesetzt worden war. Und diese Gesetze zu erfassen, war vielleicht der erste Schritt, um das Leid endlich bekämpfen zu können, dass der Schwarze Tod verursachte.
Bornhart Raakheimer ging nun geradewegs auf jenes Haus zu, in dessen zweitem Geschoss das Zimmer lag, in dem seine Mutter ihn einst mit der Hilfe einer erfahrenen Hebamme zur Welt gebracht hatte.
Bornhart schritt die Stufen des Portals empor. Er zögerte noch einmal einen kurzen Moment, ehe er dann den schweren Messingring gegen das Türholz schlug.
Bornhart schluckte bei dem Gedanken daran, wie man ihn wohl empfange würde.
*
Ein hagerer Mann in den mittleren Jahren öffnete die Tür. Er trug ein blaues Livree und sah Bornhart mit einem ungläubigen Stirnrunzeln an.
„Ja, schaut nicht so, Yjoobh von Großhausen!“, rief Bornhart. „Ich bin es wirklich! Bornhart Raakheimer! Erkennt Ihr mich denn nicht?“
Yjoobh von Großhausen war der Hausverwalter der Raakheimers. Der Namenszusatz 'von Großhausen' war dabei keineswegs ein Adelstitel, sondern bezog sich lediglich auf das Dorf, aus dem Yjoobh stammte. Die Gewohnheit, Familiennamen zu führen, hatte sich zwar in den Städten schon sehr verbreitet, war aber gerade in den havländischen Dörfern oft noch eher die Ausnahme. In den alten Zeiten, als auch die Havland-Küste und der gesamte Reich der Händlergilde zum Imperium von Arakand gehört und vom Gottkaiser regiert worden waren, war das anders gewesen. Damals hatte das arakandische Namensrecht gegolten und jedermann hatte einen Vor- und Familiennamen zu führen gehabt, damit in den Steuerlisten keine Verwechslungen vorkamen.
Aber diese Zeiten waren lange her und so gut wie vergessen. Ein Mythos wie die Geschichten von der Ankunft der ersten Menschen in Sternenschiffen. Legenden, von denen niemand sicher sein konnte, ob sie nicht nur erfunden waren.
So wie die Geschichte des gedungenen Mörders, der Dolch (wie sein Werkzeug) geheißen und einst den Auftrag bekommen hatte, den Gelähmten Propheten Baladus zu töten. Nachdem er dem Gottkaiser den Kopf des Gelähmten Propheten gebracht hatte, erkannte er jedoch die Wahrheit seiner Worte. Er setzte sich selbst an die Stelle des Gottkaisers...
Eine Geschichte, die deutlich machen sollte, dass seit langer Zeit in Wahrheit Ketzer auf dem Thron in Arakand saßen.
In Havbeck hatte sich diese Geschichte immer großer Beliebtheit erfreut und es den Menschen erleichtert, in ihren Flüchen dem Gottkaiser die Schuld an schlechtem Wetter und der zu großen Nähe oder Ferne der Zweiten Sonne zur Welt zu geben.
„Bornhart!“, stieß Yjoobh hervor.
„Anscheinend habe ich mich mehr verändert, als ich es umgekehrt von Euch sagen kann, Yjoobh!“
Yjoobh musterte Bornhart von oben bis unten. „Nun, ich kann mich noch daran erinnern, wie Ihr die Stadt verlassen habt, um in Arafurt Euren Studien nachzugehen – so elende Kleider wie Ihr heute tragt, hatte Euer Vater Euch nicht mitgegeben!“
Yjoobh kannte Bornhart seit seinem zehnten Lebensjahr und so konnte er es sich erlauben, so mit dem jungen Raakheimer zu sprechen. Im übrigen war Yjoobh von Großhausen ohnehin dafür bekannt, dass er sein Herz auf der Zunge zu tragen pflegte und im Allgemeinen sehr direkt sagte, was er dachte. Genau diese Eigenschaft schätzte auch Bornharts Vater an ihm. „Eure Eltern werden sich freuen, dass Ihr endlich wieder den Weg zurück nach Havbeck gefunden habt! Die Nachrichten, die Ihr ihnen habt zukommen lassen, waren ja schließlich nicht gerade zahlreich.“
„Ich weiß“, murmelte Bornhart.
„Ihr habt Glück. Euer Vater ist gestern von einer Reise nach Ondhwerpen zurückgekehrt, sodass Ihr ihm begegnen könnt! Wie ich gehört habe, hat er gute Geschäfte machen können...“
„Stockfisch dürfte sich überall verkaufen lassen, wo es Reisende gibt, die auf gut haltbaren Proviant angewiesen sind.“
„Na, wenigstens das habt Ihr nicht vergessen, Bornhart!“ Yjoobh bedachte den jungen Mann mit einem nachdenkliche Blick und rümpfte die Nase. „Ich sage es gerade heraus: Ihr braucht so schnell wie möglich einen Bader, der nicht an Seife spart und sich darüber hinaus auch darauf versteht Euch den Bart so zurechtzustutzen, dass Ihr nicht wie ein Mannwolf ausseht!“
Bornhart fasste sich an das dicht bewachsene Kinn. „Ist es so schlimm?“
Yjoobh von Großhausen seufzte hörbar.
„Schlimm genug, um Euren Eltern peinlich zu sein, wenn man Euch so in der Öffentlichkeit sieht!“
„Wo sind sie? Im großen Zimmer?“
Bornhart ging durch die Eingangshalle, geradewegs auf die Tür zu, die zum sogenannten 'großen Zimmer' führten. Bornhart hatte die Tür mit wenigen Schritte erreicht und Yjoobh hinter sich gelassen. „So wartet!“, rief der Verwalter ihm hinterher – aber sollte er sich wie ein Gast verhalten? Auch wenn er lange fort gewesen war, so war dies doch sein Elternhaus, der Ort, an dem er zu Hause war. Ungestümer, als er beabsichtigt hatte, riss er die Tür auf und blieb dann wie erstarrt stehen. Licht flutete durch die hohen, aus karadizianischem Glas bestehenden Fenster. Die Raakheimers waren hier schon lange ihrer Zeit voraus. Während die Fenster des Rathauses noch mit Alabaster verhängt waren, um die Zugluft abzumildern, aber das Tageslicht hereinzulassen, so war man im Hause Raakheimer hier schon lange viel weiter. Es gehörte zu den ersten Gebäuden in Havbeck, dessen Fenster vollständig verglast waren. Nun starrte Bornhart auf die vom gleißenden Licht der tiefstehenden Sonne angestrahlte Gestalt, die dadurch etwas Traumhaftes, Unwirkliches bekam.
Bornhart nahm die Lederkappe vom Kopf und strich sich das viel zu lang gewordene dunkelblonde Haar zurück. Bornharts schaute auf seine Mutter, die ihm nun gegenüberstand. Sie war eine Frau in den mittleren Jahren und verkörpert den ganzen Stolz ihres Patrizierstandes. Das Kleid war aus schwerem Brokat, die Taille sehr eng geschnürt. Das braunblonde Haar trug sie in einer kunstvollen Frisur. Um den Eindruck einer hohen Stirn zu verstärken war der Haaransatz ausrasiert, so wie es unter den vornehmeren Frauen üblich war. Sie trug eine goldene Brosche.
Mhagherete Raakheimer starrte ihren Sohn zunächst fassungslos an, dann löste sich die Anspannung in ihren Zügen und sie breitete die Arme aus. „Bornhart! Du bist zurück!“
Im nächsten Moment nahm Bornhart seine Mutter in die Arme. „Ich weiß, dass ich nicht gerade standesgemäß aussehe und gewiss habt Ihr mich früher erwartet!“
Mhagherete fasste ihren Sohn am Oberarm. „Das ist doch jetzt ganz gleichgültig!“, fand sie. „Du bist zurück, und das ist das einzige, was zählt.“ Ein Schatten fiel in ihr feingeschnittenes Gesicht. Die Augenbrauen waren ebenso ausrasiert worden, wie der Haaransatz. Um so deutlicher war zusehen, wie sich genau dort nun eine Falte bildete. Für einen Moment blitzte all das Leid auf, das hinter ihr lag. Der Schmerz einer Mutter, die mehrere ihrer Kinder an den Schwarzen Tod verloren hatte, zeigte sich in aller Deutlichkeit. Bornhart kannte diesen Ausdruck sehr gut. In der Zeit, die auf die erste Epidemie gefolgt war, die Bornhart schon selbst miterlebt hatte, war er recht häufig in ihrem Antlitz sichtbar gewesen. Der Schmerz war damals noch frisch gewesen und Bornhart hatte sehr wohl gespürt, wie viel Kraft es seine Mutter gekostet hatte, dies nur ab und zu und sehr verhalten nach außen dringen zu lassen. Mit der Zeit hatte sie das immer besser geschafft und nur noch manchmal war dem Tonfall in ihrer Stimme eine unterschwellige Härte, die an Granit erinnerte.
„Addham!“, rief sie laut und wandte sich im nächsten Moment an Yjoobh von Großhausen. „Ich bitte Euch, holt meinen Mann!“
Aber das war gar nicht mehr notwendig, denn in diesem Augenblick öffnete sich auf der anderen Seite des großen Zimmers knarrend eine Tür. Ein breitschultriger Mann, dessen Haar an den Schläfen bereits grau durchwirkt war, trat ein. Er trug ein Wams aus bestem dunklen Tuch, das mit silbernen Knöpfen besetzt war. Ein weißer Fächerkragen bildete einen farblichen Kontrast und ließ den exakt begrenzten Spitzbart ein wenig dunkler erscheinen, als er in Wahrheit war. Die Augenbrauen waren kräftig und der Blick der meergrünen Augen, die Bornhart von seinem Vater geerbt hatte, drückte Entschlusskraft und einen sehr starken Willen aus – Eigenschaften, die Bornhart schon immer nachgesagt worden waren und die sein Vater so lange an ihm geschätzt hatte, wie sie seinen eigenen Zielen und Plänen nicht in irgendeiner Weise zuwider liefen.
„Vater!“, stieß Bornhart hervor.
Er ging auf Addham Raakheimer zu und dann umarmten sich beide kurz. „Es ist schön, dass du wieder in Havbeck bist, mein Sohn! Es warten hier viele Aufgaben auf jemanden, der sich in den Rechten auskennt!“
Ein dicker Kloß saß Bornhart im Hals. Er wollte etwas sagen und brachte doch nicht einen einzigen Ton hervor. Aber hätte er jetzt etwa seinem Vater eröffnen können, dass er keineswegs vorhatte, länger in Havbeck zu bleiben und dass er eigentlich nur gekommen war, um sich zu verabschieden – diesmal wohl für eine noch viel längere Zeit, vielleicht sogar für immer? Addham Raakheimer sah an seinem Sohn herab und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du wirst müde und hungrig sein! Und was du am Leib trägst, ist auch nicht gerade die Gewandung, wie sie einem Raakheimer in Havbeck geziemt!“
„Vater...“
„Yjoobh, lass ein Bad herrichten und ein paar Gewänder heraussuchen, die ihm passen könnten. Und mein Sohn soll an Speise und Trank alles bekommen, was sein Magen verlangt!“
„Jawohl, Herr“, sagte Yjoobh von Großhausen und verneigte sich dabei etwas.
„Macht um meinetwillen keine Umstände!“, versuchte Bornhart die Bemühungen seines Vaters etwas einzuschränken.
„Umstände? Da bist du endlich zurückgekehrt, wo ich schon kaum noch Hoffnung hatte, dass dein Wissensdurst jemals gestillt sein könnte und und da soll ich keine Umstände machen? Sei nicht albern, mein Junge! Ich bin froh, dass du da bist und für deine Mutter gilt dasselbe.“
„Nach drei Jahren hatten wir dich zurück erwartet - und es sind insgesamt sieben geworden!“, stellte Mhagherete Raakheimer fest. „Aber ich will dir keine Vorhaltungen machen. Wie Addham schon gesagt hat, es ist wunderbar, dass du wieder hier ist. Die Verpflichtungen, die dein Vater als Ältermann hat, nehmen doch viel mehr von seiner Zeit in Anspruch, als dies den eigenen Geschäften gut tun kann und daher kann er jede Entlastung gut gebrauchen!“
„Khamartin ist ja erst zwölf und einfach noch nicht so weit, als dass man von ihm wirklich eine Hilfe erwarten könnte – wenngleich er ein gelehriger Schüler ist, schon besser mit dem Abakus zu rechnen versteht als ich!“
Khamartin war Bornharts jüngerer Bruder. Mit ihm war Mhagherete Raakheimer ein paar Jahre nach jener Pest schwanger geworden, die Bornhart in seiner Kindheit miterlebt hatte und die beinahe alle seine anderen Geschwister hinweggerafft hatte. Alle, bis auf Agghnes, die jetzt neunzehn sein musste und seit den Tagen des Schwarzen Todes zu sprechen aufgehört hatte. Nur hin und wieder war ihr Wimmern im Schlaf zu hören, aber ansonsten hatte sie das Grauen völlig verstummen lassen. Sie schien dem Wahnsinn verfallen und in der Welt ihrer eigenen Gedanken und Ängste gefangen zu sein. Ein befreundeter Priester hatte den Raakheimers geraten, es mit einem Exorzismus zu versuchen, denn offenbar sei sie seit den Tagen des Schwarzen Todes von einem Dämon besessen. Bornhart erinnerte sich noch genau an den Anblick des kleinen Mädchens, das von Pestbeulen völlig entstellt gewesen war, die Krankheit aber wie durch ein Wunder überlebt hatte. Doch dieses Wunder schien eine grausame Kehrseite zu haben, denn obschon ihr Körper dem Schwarzen Tod entronnen war, schien ihre Seele auf immer in die Gefilde der Schatten entführt worden zu sein, ohne Aussicht darauf, jemals von dort zurückzukehren.
Dreimal hatte Addham Raakheimer eine Dämonenaustreibung bei seiner Tochter durchführen lassen. Ohne Erfolg. Ihr Zustand hatte sich nicht verbessert und es gab sogar hinter vorgehaltener Hand lautgewordene Stimmen, die mutmaßten, dass vielleicht ein übler Fluch auf der Familie lastete und man sich vielleicht besser von ihr fernhielt.
Gutmeinende Freunde hatten Addham Raakheimer geraten, seine Tochter außerhalb der Stadt in einem Kloster barmherziger Schwestern unterzubringen. Dies sei für alle Beteiligte das Beste. Doch Addham Raakheimer hatte dies ebenso kategorisch abgelehnt wie Mhagherete.
„Heute Abend haben wir Gäste und geben ein Bankett“, erklärte die Herrin des Hauses. „Und natürlich laden wir auch die Armen der Stadt dazu ein, wie es sich für das Haus eines Ältermanns gehört. Dann werden dir sicher viele Ohren gespannt lauschen.“
„Ja, und bis dahin ist noch viel zu tun“, ergänzte Addham Raakheimer die Worte seiner Gemahlin. Er atmete tief durch und sah Bornhart geradewegs in die Augen. „Fast sieben Jahre, das ist eine lange Zeit!“
„Vater, ich muss Euch etwas sagen“, begann Bornhart.
„Später!“
„Nein, es muss jetzt sein, denn ich werde nicht lange in Havbeck bleiben. Um genau zu sein, so bin ich gewissermaßen auf der Durchreise, obwohl Havbeck von Arafurt aus gesehen nicht gerade auf dem Weg nach Arakand liegt.“
Addham Raakheimer wechselte einen stirnrunzelnden Blick mit seiner Frau und sah dann Bornhart verständnislos an. „Was redest du da? Bei den beiden Sonnen und der Macht des Gottkaisers! Ich habe dich die Rechtswissenschaften studieren lassen, damit du die Interessen unseres Handelshauses wahrnehmen und mir helfen kannst, wenn ich schwierige Verhandlungen zu führen habe!“
„Und was willst du denn in Arakand?“, fragte seine Mutter. „Willst du eine Pilgerreise ins heilige Land unternehmen?“
„Wir hätten ihn nicht auf die Galbadorinschule gehen lassen sollen! Sonst hätten ihm diese verfluchten Mönchsbrüder nicht solche Gedanken in den Kopf gepflanzt, die ihn jetzt wirr daherreden lassen! Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie weit Arakand entfernt ist? Ich schon! Denn ich beziehe Waren von dort!“
„Hört mich an Vater! Und auch Ihr, Mutter! Ich habe Euch noch mehr zu berichten.“
Für einen Moment herrschte angespanntes Schweigen. Addham Raakheimers Körper straffte sich. Den Daumen der linken Hand klemmte er hinter den Gürtel und krampfte anschließend die Hand zusammen. Er wandte sich an Yjoobh von Großhausen. „Lass uns allein, Yjoobh. Dies ist eine Angelegenheit, die wir ausschließlich innerhalb der Familie zu besprechen haben!“
Yjoobh neigte den Kopf. „Ganz wie Ihr wünscht“, murmelte er kaum hörbar und verließ dann das große Zimmer. Addham Raakheimer wandte sich nun an seinen Sohn. „Und jetzt will ich wissen, was du mir zu sagen hast, Sohn!“
*
Tausend Gedanken gingen Bornhart in diesem einen Moment durch den Kopf. Während des langen Weges hatte er Zeit genug gehabt, sich genau diesen Moment, in dem er seinem Vater erklären musste, dass der Plan, den er für sein Leben hatte, vollkommen im Gegensatz zu dem stand, was seine Eltern sich von ihm wünschten, immer wieder vorzustellen. Er hatte in Dutzenden von Nächten davon geträumt – seit dem Moment, da sein Entschluss gefallen war und er erkannt hatte, dass seine Bestimmung nicht darin lag, mit einem Abakus die Preise von Stockfisch, Bier, Wein und Zucker zusammenzurechnen, seine Tage damit zu verbringen, gute Geschäfte zu machen und die Nächte damit, sie in doppelter Buchführung festzuhalten, damit man einen ständigen Überblick über Einnahmen und Ausgaben hatte.
„Ich habe in Arafurt die Rechtslehre studiert, so wie Ihr es mir ermöglicht habt, Vater. Und dafür bin ich Euch sehr dankbar.“
Addham hob die Augenbrauen.
„Was spricht dann dagegen, dass du dein Talent nun im Sinne unseres Hauses einsetzt?“
„Mein Durst nach Wissen war noch nicht befriedigt. Ich wollte mehr. Mehr Erkenntnis und den Dingen auf den Grund gehen. Nicht nur den Gesetzen der Menschen, sondern auch denen Gottes und der Natur!“
„Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinaus willst, mein Sohn!“
„Ich bin bei Ärzten in die Lehre gegangen und habe neben meine Studium der Rechtslehre auch die Magie der Heilkunde zu verstehen versucht, sodass ich inzwischen ein passabler Arzt geworden bin und sogar in der Lage wäre, eine Apotheke zu betreiben!“
„Du weißt, dass ich immer auch mit Arzneien gehandelt hab, die uns aus den Ländern der Tarastaner erreichen. Den Zucker müsste ich eigentlich dazurechnen, denn es ist noch gar nicht so lange her, dass man ihn nur in Apotheken kaufen konnte. Aber das ist vorbei! Nicht einmal Karadig hat sein Zuckermonopol aufrecht erhalten können.“
„Vater! Ich werde kein Krämer! Ich werde niemals jemand sein, der mit irgendetwas Handel treibt, und wenn es auch noch so viel Gewinn verspricht!“
„Wie kannst du so etwas sagen!“ Addham Raakheimer wich einen Schritt vor seinem Sohn zurück und schüttelte fassungslos den Kopf. Er schien sich noch immer regelrecht zu weigern, Bornharts Worte zur Kenntnis zu nehmen.
„Ich will ein Pestarzt werden und dem Geheimnis auf die Spur kommen, das den Schwarzen Tod bis heute umgibt. Ich will ein Mittel gegen dieses Leid finden, das die Menschen in allen bekannten Ländern immer wieder in so abgrundtiefe Verzweiflung stößt.“ Als er sah, dass sein Vater den Kopf zur Seite drehte und sich damit deutlich von ihm abwandte, sah Bornhart nun zu seiner Mutter, die beide Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Langsam waren diese Hände nun herabgerutscht, sodass der entsetzte Blick sichtbar wurde. „Jeder, der etwas Verstand hat, nimmt vor der Pest Reißaus und flieht, soweit er kann! Du willst dich ihr entgegenwerfen wie es ein Wahnsinniger tun mag, der sich mutwillig ins Meer stürzt?“
„Mutter!“
„Jeder, der mit der Pest zu tun hat, zieht das Unheil auf sich. Kaum ein Priester, der seine Aufgaben noch ernst nimmt und bei den Sterbenden die Sterberituale durchführt, überlebt; und selbst von den Pestknechten, die die Leichen fortschaffen, bezahlen viele ihren Einsatz mit dem Leben!“
Addham Raakheimer konnte das nur bestätigen. „Beim letzten Ausbruch der Epidemie war es kaum noch möglich, genug Knechte für diesen Dienst zu gewinnen. Der Rat musste sie in weit entfernten Dörfern anheuern und ihnen so viel Silber dafür zahlen, dass jeder von ihnen mehr verdiente als der Kommandant der Stadtwache oder so mancher Kapitän für eine erfolgreiche Fahrt!“
Mhagherete Raakheimer ging auf ihren Sohn zu und noch ehe der weitgereiste Rückkehrer auch nur ein einziges Wort erwidern konnte, hatte sie ihn an den Oberarmen gefasst und redete weiter geradezu beschwörend auf ihn ein. „Wie kommt es, dass du etwas freiwillig tun willst, wozu man selbst diese ungebildeten Einfaltspinsel vom Lande kaum noch mit viel Silber überreden kann? Sei doch kein Narr, Bornhart und verschwende dein Leben nicht!“
„Mein Leben wäre nicht verschwendet!“, erwiderte Bornhart.
Aber Mhagherete ließ ihrem Sohn kaum Gelegenheit dazu, seinen Gedanke auszuführen. „Habe ich nicht schon genug Kinder durch die Seuche verloren! Khamartin ist mir geblieben – und du! Agghnes ist nicht mehr dieselbe, seit der Dämon der Pestilenz in sie gefahren ist und manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich denke, der Namenlose Gott wäre barmherziger gewesen, wenn er sie damals zu sich genommen hätte, anstatt nur ihre Seele zu nehmen und ihren Leib als leere Hülle zurückzulassen...“
„Aber irgendjemand muss sich doch dem Schrecken entgegenstellen. Es kann doch nicht sein, dass man sich von der Furcht regieren lässt, anstatt nach Mittel und Wegen zu suchen, den Schrecken zu besiegen!“
„Die meisten derjenigen, die diesen Mut hatten, sind bereits nicht mehr am leben“, gab seine Mutter zu bedenken. Sie ließ Bornhart los. „Der Namenlose Gott bestimmt unser Leben und unseren Tod und wir sollten demütig hinnehmen, was seinen Ratschluss bestimmt. Alles andere führt uns nur in die Irre und lässt uns verzweifeln.“
Für einige Augenblicke herrschte Schweigen. Keiner der Anwesenden schien im Moment in der Lage zu sein, noch etwas zu sagen. Die Standpunkte waren so unversöhnlich, wie Bornhart es befürchtet hatte. „Ich habe in Arafurt von einem Mann namens Vaosdo Kallyari gehört. Er lehrte einst dort für kurze Zeit als Magister, bevor es ihn weiter in die Ferne zog. Dieser Mann gilt als der größte Arzt und Gelehrte, der sich jemals mit der Natur des Schwarzen Todes beschäftigt hat. Er soll den boranischen König und den König in Maraprag beraten haben und selbst der Bischof von Galbador soll auf Grund der Beratung durch Meister Kallyari der Pest entronnen sein, obwohl sie die zahllosen Pilger dorthin gewiss genauso oft einschleppen wie es die fremden Schiffe in Havbeck tun.“ Bornhart atmete tief durch. Er fühlte sich erleichtert, jetzt das eigentliche Ziel endlich ausgesprochen zu haben, dass er sich gesteckt hatte. „Ich will nach Arakand gehen, weil ich mich Meister Kallyari als Schüler anbieten möchte. In meiner Tasche habe ich ein Empfehlungsschreiben von Magister Mynsonios aus Arafurt, der Meister Kallyari sehr gut kennt und dessen Hochachtung genießt. Damit ausgestattet wird er mich sicherlich annehmen, denn die Furcht davor, selbst dem Pestdämon zu erliegen, dürfte in Arakand nicht geringer sein, als andernorts. Daher wird er nicht gerade von einer Vielzahl von Interessenten bedrängt werden, die sich nichts sehnlicher Wünschen, als alles über den Schwarzen Tod zu erfahren! Ich rechne mir also gute Chancen aus.“
„Eine so weite Reise auf die vage Aussicht, bei einem offenbar recht bekannten Arzt zu lernen?“, fragte Addham Raakheimer zweifelnd.
„Seid Ihr nicht auch schon auf die zweifelhafte Aussicht auf einen großen Gewinn und gute Geschäfte ins Ungewisse aufgebrochen, Vater? Seid Ihr nicht sogar nach Arakolon und schließlich bis Karadig gezogen, um Eure Geschäfte auszuweiten und hat Euch nicht zuvor fast jeder unter den Steinküstern-Fahrern einen Narren geschimpft?“
„Nun, das will ich nicht abstreiten ...“
„Und hat man Euch nicht später gerade um Eurer Erfolge in der Ferne willen zum Ältermann gewählt? War nicht letztlich das, was erst als Narrentum verunglimpft wurde, plötzlich ein Zeichen für Euren Weitblick?“
„Du kannst das nicht vergleichen“, stellte Addham Raakheimer harsch fest. „Es ist schon bitter für mich, dass ich nun ein weiteres Kind an die Pest verlieren werde – wenn auch dadurch, dass es sich freiwillig wie in einem Wahn an diese Seuche hingibt!“ Er schüttelte mit düsterem Gesicht den Kopf.
„Vater, ich denke schon sehr lange daran. Schon, als ich in jungen Jahren erleben musste, wie meine Geschwister und viele, die ich kannte, vom Schwarzen Tod dahingerafft wurden, hat mich der Gedanke nicht mehr losgelassen, dem Geheimnis dieses Schreckens auf die Spur zu kommen, denn ich wollte einfach nicht glauben, dass man dagegen machtlos sein sollte!“
„Es reicht, wenn du unvorsichtig und ein Narr bist!“, mischte sich nun seine Mutter ein. „Es ist nicht notwendig, dass du dich auch noch in Blasphemie übst und den Namenlosen Gott verspottest!“
„Er wird es sich vielleicht noch einmal überlegen“, sagte nun Addham, wenngleich in seinem Tonfall nur ein sehr geringes Maß an Zuversicht mitschwang. „Und ich hoffe, dass er sich an seine Verpflichtungen erinnert, die ihn an dieses Haus und an diese Stadt binden!“
*
Am Abend war im Haus der Raakheimers zum Festbankett geladen worden. Die Tische bogen sich beinahe unter all den Speisen, die aufgetragen wurden. Die vornehmsten Patrizier der Stadt waren gekommen, denn eine Einladung von Addham Raakheimer schlug niemand aus. Im Innenhof des Hauses waren weitere Tische und Bänke aufgestellt worden, wo die Armen abgespeist wurden. Auch sie waren zahlreich gekommen. Dieses Zeichen mildtätiger Barmherzigkeit, das sich immer weniger Adelige noch leisten konnten, die von den Erträgen ihrer Landgüter lebten, hatten sich längst auch unter den angesehenen Kauffahrerfamilien in den Städten verbreitet. Die hohen Herrschaften zeigten, was sie hatten und teilten zumindest einen Bruchteil davon mit den Mittellosen. Schließlich wusste niemand, ob es dem Namenlosen Gott nicht gefiel, ein weiteres Mal den Schwarzen Tod zurückkehren zu lassen und wer dann darauf verweisen konnte, in der Vergangenheit selbst gnädig mit anderen gewesen zu sein, konnte vielleicht eher auf die Gnade Gottes hoffen. Zumindest war das eine stille Hoffnung, die viele hegten und Bornhart erinnerte sich noch gut daran, wie seine Mutter die Durchführung solcher Armenspeisungen ihm gegenüber einst genau auf diese Weise begründet hatte. Denn auch wenn sie es vermied, dies nach außen allzu häufig sichtbar werden zu lassen, so war doch auch Mhagherete Raakheimer zutiefst von dem Erlebnis jener Schrecken geprägt, die der Schwarze Tod für sie und ihre ganze Familie mit sich gebracht hatte.
Während es im Hof lärmend zuging, speiste man im großen Zimmer weitaus gesitteter. Und es gab nicht wenige unter den Gästen, die es bereits vorzogen, das Fleisch mit dafür hergestellten Werkzeugen zum Mund zu führen und dies nicht einfach praktischerweise mit den Händen zu tun.
Wein wurde gereicht. Und schließlich erhob sich Addham Raakheimer, um die Rückkehr seines Sohnes zu verkünden.
Bornhart hatte inzwischen ein Bad hinter sich. Sein Bart war zurechtgestutzt und er saß in Kleidern da, die ihm zwar eine Nuance zu groß waren, da sie von seinem Vater stammten und er noch nicht dessen breite Schultern besaß. Aber sein Aufzug war eines havischen Kaufmannssohnes auf jeden Fall würdig.
„Mein Sohn ist nach langen Lehrjahren zurückgekehrt und ich hoffe, dass dieses Haus und alle von den Fähigkeiten profitieren wird, die er in der Fremde erworben hat“, sagte Addham Raakheimer.
Man hatte Bornhart neben seinen Vater gesetzt – dort wo bis dahin wohl in den letzten Jahren der Platz des jungen Khamartin gewesen war, der jetzt einen Stuhl weiter hatte rücken müssen. Seit seiner Rückkehr war noch kaum eine Gelegenheit für Bornhart gewesen, mit seinem jüngeren Bruder zu sprechen. Er war erst kurz vor Beginn des Banketts von seinem Unterricht in der Galbadorinschule zurückgekehrt. Die Begrüßung war verhalten gewesen. Vielleicht befürchtete er, dass Bornhart in Zukunft wieder die Rolle einnehmen würde, für die er als Älterer eigentlich geboren zu sein schien.
„Die Lehrer an der Galbadorinschule reden immer noch von dir und davon, wie verständig du warst!“, sagte Khamartin.
„Und wie geht es dir beim Lernen?“
Khamartin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Frag mich nicht! Ich werde wohl kaum so lange auf der Schule verbringen wie du! Wer Geld genug hat, kann sich einen Schreiber leisten und braucht keine formvollendeten Buchstaben zu Papier bringen zu können!“
„Aber wer sich auf andere beim Rechnen verlässt, wird schnell übers Ohr gehauen!“, gab Bornhart zu bedenken.
Khamartin lachte. „Ja, das mag sein. Aber so gut bekomme ich es dann doch hin! Vater sagt immer, dass es auch seine Vorteil hat, dass ich nicht so klug bin wie du.“
„So?“
„Ja – denn dann bestünde nicht die Gefahr, dass es mich zu den Magistern an die Universität zieht, anstatt damit zufrieden zu sein, hier als ehrlicher Kaufmann dem Namen des Hauses Raakheimer alle Ehre zu machen!“
„Aus seiner Sicht mag er wohl Recht haben.“
„Bleibst du denn nun hier in Havbeck?“
„Nein. Ich werde die Stadt schon sehr bald wieder verlassen. Und wer weiß, ob es je wieder eine Weg zurück gibt...“ Bornhart erzählte Khamartin von seinem Plan, nach Arakand zu ziehen und bei Meister Kallyari zu lernen. „Magister Mynsonios in Arafurt war vor langer Zeit einmal in dieser Stadt, deren goldene Kuppeln man schon von Weitem sehen kann und deren Bibliotheken noch größer sind, als bei uns die Kornspeicher, so viele Bücher von berühmten Weisen – Arakandier, Tarastaner, Boranier und mag der Namenlose Gott wissen, woher sie noch alle stammten. Selbst wenn Meister Kallyari nicht bereit wäre, mein Anliegen auch nur anzuhören und wenigstens einen Blick auf mein Empfehlungsschreiben zu werfen, so würde doch allein schon der Besuch einer dieser mit Büchern gefüllten Hallen den Besuch lohnen.“
„Dir scheint Großes bestimmt zu sein“, meinte Khamartin. „Bei mir ist das nicht der Fall. Zumindest was letzteres betrifft sind sich meine Lehrer und mein Vater einig. Aber ich will mich nicht beklagen. Schließlich gibt es Schlimmeres.“ Während er das sagte, wirkte Khamartin sehr nachdenklich und sein Blick glitt zur gegenüberliegenden Seite des Tisches. Dort hatte man Agghnes Raakheimer Platz nehmen lassen. Stumm und mit einem stieren Blick saß sie da und wirkte so, als würde sie etwas anstarren, dass allen anderen vollkommen unsichtbar blieb. Ihr Haar war zu einem einfachen Knoten zusammengefasst und sie trug ein kostbares, mit edlen, golddurchwirkten Stickereien versehenes Kleid, das zur Aussteuer ihrer Mutter gehörte und von dieser auch früher häufig zu festlichen Anlässen dieser Art getragen worden war. Inzwischen aber war Mhagherete Raakheimer das Kleid zu eng geworden und so trug Agghnes es, die außerordentlich schlank war, da sie nicht viel aß.
Auf ihrer Brust ruhte ein Amulett mit einem magischem Brennstein, in dem ein Insekt gefangen war. Genauso gefangen schien sich Agghnes selbst in ihrem Dasein zu fühlen. Sie berührte das Amulett immer wieder mit den Fingerspitzen der linken Hand, so als sollte es ihr auf magische Weise Kraft und Halt geben. Dann hob sie etwas den Kopf und sah Bornhart an. Natürlich hatte Bornhart seine Schwester zuvor begrüßt und und sie angesprochen, war sich aber wie bei jeder Begegnung mit ihr nicht sicher, ob sie ihn wirklich verstanden hatte. Es war Bornhart nicht einmal klar gewesen, ob sie überhaupt erkannt hatte, wer vor ihr stand. Aber das war nichts Neues. Damals, bevor die Schrecken des Schwarzen Todes diesen Schatten über ihre Seele geworfen hatten, war sie ein freundliches, lebensfrohes Mädchen gewesen. Aber davon war nichts geblieben.
Sie hob jetzt den Kopf und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Der Schleier, der sonst ihre Augen zu umgeben und ihre Blicke ins Unbestimmte zu verwischen schien, war auf einmal nicht mehr da. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie sagte Bornharts Namen. Bornhart sah es an den Bewegungen ihrer Lippen, denn hören konnte er ihre Stimme nicht. Zu lärmend waren die Gespräche, die unter den Gästen des Ältermanns der Boranienfahrer geführt wurden.
„Agghnes“, murmelte Bornhart – vollkommen überrascht. Aber dieser Moment, in dem seine Schwester ihn in voller Klarheit ansah, währte nicht länger als ein paar Herzschläge lang. Dann war es vorbei und sie schien wieder geradewegs durch ihn hindurchzusehen, so als wäre da niemand.
„Es wird nicht mehr besser mit ihr“, hörte er neben sich Khamartin sagen, der die Veränderungen in Agghnes' Gesicht offenbar ebenfalls beobachtet hatte. „Ich bin leider zu jung, um mich noch daran erinnern zu können, wie sie früher gewesen ist.“
„Ich erinnere mich noch gut“, murmelte Bornhart, mehr zu sich selbst, als dass er tatsächlich seinen jüngeren Bruder mit diesen Worten angesprochen hätte. Aber mit dieser Erinnerung stiegen auch die anderen Schreckensbilder in ihm empor, die der Schwarze Tod verursacht hatte. Erinnerungen, die er ebenso eingeschlossen in seiner Seele trug, wie das Insekt auf Agghnes' Brust vom Magischen Brennstein umschlossen wurde. Die Toten, der faulige Geruch, der über der ganzen Stadt gelegen und an faule Eier erinnert hatte, das Wimmern und Husten der Sterbenden, das Knarren der Totenwagen, auf die die Pestknechte die Dahingeschiedenen warfen. Dieses Knarren der Wagenräder, die von niemandem mehr geschmiert werden konnten, weil alle, die sich darauf verstanden hätten, entweder krank oder tot waren, würde er bis ans Ende seiner Tage daran erinnern, wie es damals war. Noch heute erschrak er manchmal, wenn ein schlecht geschmierter Wagen in seiner Nähe daherfuhr, bei dem der Fuhrmann allzu sehr mit dem Pech an Rädern und Achsen gespart hatte! Bornhart schluckte. Agghnes' Anblick erinnerte ihn daran, warum er hier her gekommen war und dass er sich um keinen Preis der Welt von seinem Ziel abbringen lassen würde.
Dass dies den Plänen seiner Eltern vollkommen zuwider lief, musste er dabei in Kauf nehmen. Morgen, dachte er, morgen in aller Frühe werde ich gehen – mit nichts als dem, womit ich hier gekommen bin.
*
Der Mond verschwand hinter dem Horizont und wurde von der Himmelsgrenze exakt in der Mitte geteilt. Ein zwiespältiges Omen. Dazu passte, dass beide Sonnen an diesem Tag gleichtzeitig aufgingen und nicht mit einer Verzögerung von etwa einer Stunde. Auch das ein Zeichen der Ungewissheit.
Am Morgen hatte Bornhart seine Sachen gepackt und machte sich zur Abreise bereit. Die feinen Kleider seines Vaters, die er noch während des Banketts getragen hatte, ließ er zurück. Dann ging er in die Kanzlei, die sich im Erdgeschoss des Raakheimer-Hauses befand. Hier fand er Tinten, Bleistifte, Papier und – für sehr wichtige Dokumente – auch einige Bögen Pergament.
Er überlegte zuerst, Feder und Tinte zu nehmen, entschied sich dann allerdings doch für den Bleistift. Mit diesem Schreibgerät war er einfach viel geübter und schneller. In Arafurt hatte er ungezählte Seiten aus gelehrten Schriften exzerpiert – aber auch gelernt, wie Zeichnungen anzufertigen waren. Und zu alledem eignete sich der Bleistift viel mehr als die Tinte. Zudem musste man nicht immer wieder absetzen, sondern konnte im Schreibfluss bleiben. Allerdings musste man ziemlich stark aufdrücken, denn das Blei färbte nur sehr schwach ab und wenn das Papier zu schlecht war, konnte es sein, dass es beim Schreiben zerriss.
Doch in der Kanzlei des Raakheimer-Hauses war stets nur Papier von bester Qualität verwendet worden. Seit Addham Raakheimer gute Handelsbeziehungen bis nach Karadig unterhielt, bezog er das Papier aus den dortigen Papiermühlen.
In warmherzigen, aber doch sehr klaren Sätzen schrieb Bornhart einen Brief an seine Eltern, in denen er ihnen all das noch einmal zusammenfasste, was er ihnen auch mündlich bereits gesagt hatte – nur, dass er jetzt noch einiges an Erklärungen hinzufügte, um ihnen seine Entscheidung nachvollziehbar machen zu können.
Als er schließlich fertig war, unterzeichnete er den Brief und legte ihn an den Platz, wo sein Vater die Geschäftsbücher zu bearbeiten und die jeweils aktuellen Zahlen nachzutragen pflegte. Er ließ es sich nicht nehmen, das selbst zu tun, denn das Wichtigste für einen Kaufmann war es seiner Ansicht nach, den Überblick über die Zahlen zu besitzen.
Offen legte er das Schriftstück dort hin und überlegte, ob er auch tatsächlich alles aufgeschrieben hatte, was ihm wichtig war und dabei einen Ton getroffen hatte, der angemessen war. Insgesamt hatte er etwas länger dazu gebraucht, um alles in die richtigen Worte zu fassen, als er ursprünglich angenommen hatte. Die Sonnen standen bereits bedenklich hoch am Himmel und schienen nun geradewegs durch die Fenster der Kanzlei herein.
Da hörte Bornhart Schritte hinter sich. Er drehte sich um und sah in der offenstehenden Tür seinen Vater. Stumm ging dieser auf ihn zu. Er sah den Brief auf dem Pult, nahm ihn und überflog die Zeilen. Dann nickte er leicht und legte das Papier wieder dorthin, woher er es genommen hatte. Der Bleistift fiel dabei zu Boden und die Spitze brach ab.
„Du bist also fest entschlossen“, stellte Addham Raakheimer fest.
„Vater...“
Mit einer Handbewegung brachte Addham seinen Sohn zum Schweigen und deutete dann auf das gepackte Bündel, das neben Bornhart auf dem Boden lag. „Ich habe es geahnt, mein Sohn. Du scheinst es sehr eilig zu haben, Havbeck wieder zu verlassen.“
„Man muss den Tag nutzen, Vater. Das habt Ihr immer gesagt. Und es liegt ein weiter Weg vor mir.“
„Ich will nicht, dass du gehst, aber ich ahne, dass ich dich nicht davon abhalten kann.“
„Khamartin wird einen guten Kaufmann abgeben. Einen besseren, als ich es je sein würde, ich wäre nicht mit dem Herzen dabei.“
Addhams Blick verlor jetzt die Strenge und Entschlossenheit, die ihm sonst eigen war. Er wirkte jetzt traurig und nachdenklich und seine Stimme klang belegt. „Wie gesagt, ich will nicht, dass du gehst – aber wenn es sich schon nicht ändern lässt, dann will ich wenigstens verhindern, dass du in Lumpen und auf Schusters Rappen zum Stadttor hinaus ziehst!“
„Ich bin nicht gekommen, um Euch um Silber zu bitten!“
„Das weiß ich. Und dennoch sollst du genug davon bekommen, dass du dich während der Reise unterhalten kannst und nicht darauf angewiesen bist, jedes Wirtshaus zu meiden, nur weil du es nicht bezahlen kannst! Ich habe ein paar gute Arbeitspferde in unseren Stallungen. Du magst dir darunter aussuchen, welches du möchtest. Und außerdem könnten dich ein paar meiner Waffenknechte begleiten.“
„Nein, letzteres möchte ich ganz bestimmt nicht! Aber ansonsten...“
Bornhart zögerte, dieses Angebot anzunehmen. Und das Band zu seinem Vater war offenbar immer noch stark genug, dass Addham Raakheimer sofort spürte, was es war, das seinen Sohn zögern ließ.
„Ich erwarte nichts dafür, Bornhart. Weder die Zusage, dass du eines Tages zurückkehrst und deinen Platz hier im Haus übernimmst, noch irgendetwas anderes. Wenn der Herr, unser himmlischer Vater, mit dir ist und seine Hand über dich hält, dann will ich, als dein weltlicher Vater, dem nicht nachstehen und alles dafür tun, dass du erreichst, wonach du auf der Suche bist!“
Ein paar Stunden später als geplant verließ Bornhart Raakheimer nun die Händlergilde-Hauptstadt Havbeck – hoch zu Ross auf einem kräftigen Apfelschimmel ließ er die Mauern der Stadt hinter sich. Er zügelte noch einmal das Pferd und drehte sich im Sattel um. „Lebt wohl“, murmelte er.