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Noch ehe die rauhen Tage kamen, hatte die Übersiedlung von Hirschhorn nach Zwingenberg stattgefunden. Die Felsenburg war enger und unbequemer als das Herrenschloß. Schon lange hatten keine Frauen mehr in den Gemächern gehaust. Hundegekläff war in den Höfen daheim und im Treppenturm der plumpe Tritt der Knechte. Das alte Gemäuer wollte sich nicht recht schicken in die neue Art, die mit der Herrin einzog, es sah verdrossen aus in dem tiefen Herbstschatten, aus dem nur die Spitze des Bergfrieds in den Sonnenschein ragte, als ob es die rauhe Gesellschaft der früheren wilden Tage zurücksehne. Auch Ursula hatte Heimweh; sie sehnte sich zurück auf die sonnige Höhe, in deren Glanz sie den Brautschleier getragen hatte, und nach dem munteren Städtlein mit seinem Marktgewühl und seinem Glockengeläute. Sie war oft allein. Der Junker ritt alle vierzehn Tage nach Hirschhorn zum Gericht, auch sonst nicht selten zu Zusammenkünften mit den Vögten, Schultheißen und Amtleuten seiner Dörfer. Da war er immer den ganzen Tag weg von ihr, und manches Mal war Mitternacht vorüber, bis sie den Huf schlag seines Rosses unter der Burg vernahm. War er von Geschäften frei, so ging er aufs Weidwerk. In der ersten Zeit begleitete sie ihn mitunter, bald aber wurden ihr die Gebirgspfade zu steil und zu beschwerlich. Da wartete sie dann sehnsüchtig auf den Klang seines Hifthorns.

Der Winter war unerfreulich. Ein rascher, hoher Schnee verschwand im Nu, wie er gekommen war, und dann strömte Woche um Woche unendlicher Regen herab. Aus den Höfen der Burg entwich die Nacht kaum am Mittag, die Wolken hingen schwer und dick über den Zinnen, und in den Gängen heulte der Wind. An diese finsteren Tage dachte sie aber mit ganz besonderer Freude zurück, denn da blieb ihr Gatte zu Haus. Des Tags über arbeitete er mit seinem Sekretarius in der Burgkanzlei und ritt ein wenig, wohlverwahrt in seinen Wolfspelz, nach Gerach hinauf. Aber am frühen Abend kehrte er zu seiner Gattin zurück. Da saßen sie beieinander vor dem warmen Kachelofen beim traulichen Ampellicht, und sie lasen miteinander in schöner Abwechslung Lutheri Kirchenpostille, die Chronik des Sleidanus und die lustigen Büchlein des Johann Fischart. Mit Freuden erkannte Ursula den überlegenen Geist ihres Gatten, seine reichen Kenntnisse und seine ehrenhafte Gesinnung.

Aber heimisch wurde sie nicht auf Zwingenberg. Vor allem verlangte sie zurück nach ihrem Hirschhorner Schlafgemach. Wenn sie in ihrem Bette lag und auf das Rauschen des Wassers lauschte, das durch die Schlucht herniedertoste und das heisere Heulen der Bestien hörte, die sich bis unter die Fenster der Burg wagten, dann dachte sie an Leonhard und sehnte sich danach, wieder seine Klage zu hören und miteinzustimmen in den Ruf: „Mutter!“

Als sie einmal ihrem Gatten hiervon redete, fragte er sie: „Ist dir die Erinnerung an deine erste Nacht auf Schloß Hirschhorn nicht ein unheimliches Ding?“

„Im Gegenteil“, sagte sie, „die Erinnerung ist mir wert, und deine Burg ist mir dadurch ein heiliger Ort geworden.“

Die Weissagung der Jäger, daß der heurige Winter kein Ende nehmen werde, erfüllte sich nicht. Der Frühling kam mit den ersten Tagen des März. In der Wolfsschlucht wurde es grün, und zwischen den aufsprießenden Veilchen blühten Anemonen. Ursula saß des Tages über viel in ihrer Kemenate mit erfahrenen Weibern aus dem Dorf und nähte Kindszeug. Die Gatten hatten beschlossen, in der Mitte des Monats nach Hirschhorn zurückzukehren, damit Ursula in den Tagen ihrer Niederkunft und ihrer Wochen Hilfe und Bequemlichkeit habe. Friedrich hatte sich vorgesetzt, den Einsiedler Leonhard vor der Übersiedlung seiner Gattin aus der Gegend zu entfernen, damit die Vergangenheit, der er entwichen war, mit dem Verschwinden des Einsiedlers endgültig abgetan sei.

Es war ein lustiger Frühlingsmorgen, als er zu Ursula sagte: „Ich mache heute einen Pirschgang über das Gebirg nach Hirschhorn, und weißt du, was ich dir heute abend mitbringe? Deine Kutsche.“

„Sie soll mir hochwillkommen sein!“ rief Ursula fröhlich.

Von einem Wolfshunde begleitet, die geliebte Armbrust über der Schulter, sprang Friedrich die Schlucht hinunter. Ursula hörte das Rauschen im dürren Laub, und bald darauf empfing sie vom gegenüberliegenden Hang noch einmal das Bild des Geliebten und den Scheidegruß aus seinem Mund und von seiner Hand. Friedrich stieg auf die Höhe des Gebirges und hinunter in das Ittersbachtal, dann wieder hinauf auf den Kreuzberg und auf die hohe Warte und hinunter in das Tal des Gammelbachs und wieder auf die Höhe, immer durch Wald und Heide oder an frisch gerodetem Neubruch vorüber. Die Wanderung war herzerquickend. In der Nähe der Trümmer der Emichsburg schoß er einen Hasen. Er hing ihn über die Sdiulter und freute sich, denn nun hatte er etwas mitzubringen. In seinem Dörfchen Rothenberg machte er Mittag. Zuerst besuchte er seinen Hundemeister. Schon von weitem grüßte ihn das vielstimmige Gekläff. Sein Weidmannsherz lachte ihm im Leib. Der Wolfshund lief schweifwedelnd voraus und liebkoste stürmisch seinen früheren Wärter. Friedrich freute sich an seiner Meute. Dann besprach er mit dem Schultheißen dies und jenes und lud sich durch ein Büblein bei dem Ffarrherrn zu Gast. Es gab Pfannkuchen, junge Hühner und Ackersalat und köstliches Brunnenwasser. Von dem wackeren Mann ein Stück Weges geleitet, wanderte er nach Hainbrunn hinunter, dann hinauf auf den Dammberg und den steilen Hang hinab durch den jungen Eichwald in das liebliche Laxbachtal. Er stieg hinunter an das Bächlein, zog seine Stiefel aus und badete die ermüdeten Füße. Mit seinem Schuhwerk in der Hand ging er durchs Wasser hinüber auf das andre Ufer, zog die Stiefel an und stieg nun gemächlich durch den sprießenden Buchenwald, dessen Spitzen wie Morgenrot leuchteten. Er war nahe an seinem Ziel. Plötzlich rauschte es vor ihm, und aus dem Busch tauchte der, den er suchte. Mann stand an Mann.

„Leonhard, Euch meine ich ja!“ rief der Junker verwundert und erfreut.

Der Einsiedler kehrte sich kurz um, ohne Gruß, und sagte: „Komm mit!“

„Ihr wolltet über Feld?“

„Nach Brombach, Geld einziehen für gelieferte Särge. Aber das hat morgen Zeit.“

„Ich danke Euch.“

Leonhard sah den Junker von der Seite an, verwundert oder doch wenigstens betroffen über die ritterliche Anrede, und sagte: „Du bist mir keinen Dank schuldig.“

Schweigend stiegen sie nebeneinander durch das Niederholz den Berg hinan. Als sie unter dem Gipfel waren, vor den Hochtannen, die den Scheitel bedeckten, sagte Leonhard: „Hierher!“ und ging einen schmalen Pfad voran, der neben den Tannen hinführte.

Bald standen sie vor der Hütte des Waldbruders. Sie war in einer sonnigen, trockenen Bucht aufgerichtet, die gegen die Wind- und Wetterseite zu von dem Walde geschützt war. Jenseits eines klaren Bächleins, das in einer Bergrinne hinunterlief, traten nackte Felsen vor. Ein gehauener Pfad führte auf die Höhe, und oben in einer welligen Waldlichtung stand die Werkstatt des Einsiedlers.

Friedrich sah sich neugierig um. Sein Führer schloß die Tür auf und forderte mit einer stummen Gebärde den Junker auf, in die Hütte zu treten.

Friedrich zögerte.

„Als was für einer soll ich unter Euer Dach gehen?“ fragte Friedrich und zögerte, in die Tür zu treten.

„Zuvor eine Bitte“, sagte Leonhard. „Alle Leute sagen du zu mir, und ich tue ihnen dergleichen. Du verwirrst mich, wenn du nicht ‚du‘ zu mir sagst.“

„Ich weiß jetzt, daß Ihr ritterlichen Geblütes seid“, antwortete Friedrich, darum sage ich Ihr, es sei denn“ — dem Junker traten die Tränen in die Augen, und er streckte ihm beide Hände entgegen — „es sei denn, daß wir zueinander du sagen wie ein Schwager dem Schwager.“

„Ihr seid ein Hirschhorn“, sagte Leonhard kalt. „Tretet ein.“

Friedrich seufzte und trat ein.

Es sah ärmlich, aber sauber in der Hütte aus. Von dem großen irdenen Kachelofen ging ein Hauch von Behaglichkeit durch das Stübchen.

Leonhard blies das Feuer aus der Asche, legte Kienholz darauf, und bald prasselte es vergnüglich im Ofen.

Die beiden Männer saßen sich gegenüber am roh gezimmerten Tisch, Friedrich auf der Bank zwischen den beiden kleinen Fenstern, Leonhard vor dem Ofen auf dem niedrigen Schemel. Der Wolfshund lag blinzelnd an der Tür.

Der Junker griff unter sich, hob den Hasen vom Boden, beugte sich über den Tisch und legte das Wildbret vor Leonhard auf den Boden.

„Da hab’ ich Euch etwas mitgebracht.“

Leonhard schob mit der Spitze seines groben Schuhs den Hasen zurück und sagte: „Behaltet Euer Wild und“ — er sah Friedrich scharf an — „Euern Wein und Euern Speck und was mir sonst heimlich vor die Tür gelegt worden. Was ich jetzt weiß, das ahnte ich und habe es unberührt gelassen. Es liegt droben in der Werkstatt. Der Speck ist verdorben, da hab’ ich ihn den Füchsen hingeworfen.“

Friedrich sah traurig vor sich hin. Dann hob er das Haupt und sah den Einsiedler innig an.

Leonhard ahnte, was er sagen wollte, und fragte rasch: „Weiß sie davon?“

Friedrich schüttelte den Kopf. „Aber immerhin denket an sie“, sagte er, „und nehmet es hin von dem Gatten Eurer Schwester.“

„Meine Schwester ist das Weib eines Hirschhorn!“ sagte der Einsiedler hart.

„Nun denn“, sprach der Ritter, und der Kopf war ihm rot geworden, „so mögen die Füchse, die den Speck gefressen haben, auch den Hasen holen!“

Er öffnete das Fenster und warf den Hasen über die Rasenfläche den Abhang hinunter.

Der Hund fuhr auf wie wütend und wollte zur Tür hinaus. Sein Herr beruhigte ihn und wurde darüber selber ruhig.

Er setzte sich auf die Bank und sah Leonhard forschend an.

„Ich gehe nicht von dannen, bis es zwischen Euch und mir hell geworden ist. Wißt Ihr, daß Ihr ein Sternenfels seid?“

„Ich habe es vergessen.“

„Meine Frau ist eine Sternenfels.“

„Ich weiß es.“

Leonhard hatte beide Ellbogen auf die Knie gestemmt, seine Stirn in seine Hände gelegt und schaute auf den Boden.

„Haltet Ihr meine Frau — sie heißt Ursula — für Eure Schwester oder nicht?“

„Sie ist eine Hirschhorn geworden.“

Friedrich stand erregt auf. Sein Kopf stieß fast an die Decke. Der Hund erhob sich mit einem freudigen Schluchzen und schnupperte an der Tür.

Der Einsiedler richtete sich auf und machte mit dem rechten Arm eine halbe Gebärde, die zum Bleiben einlud. Friedrichs Blick fiel auf Leonhards linke Hand, deren Finger mit einer Falte seiner Kutte spielten. Die Finger zitterten. Friedrich sah ihm eine Weile zu; da kam ihm der Gedanke, daß seines Gegners Ruhe geheuchelt sei.

Er setzte sich wieder auf die Bank und legte beide Arme auf den Tisch. Mit einem tiefen Seufzer ließ sich der Hund zu seines Herrn Füßen nieder.

„Weiß sie“, fing Leonhard an, „weiß sie, daß —“

Er vollendete nicht.

„Es graut ihr vor dem Fragen, und sie möchte mir zum Vergessen helfen. Darum schaut sie nicht rückwärts. Sie weiß, daß von hinten etwas Unheimliches kommt, darum faßt sie mich an der Hand wie die ältere Schwester ihr Brüderlein und sagt zu mir: ‚Schau nicht zurück, komm, wir laufen frisch voran; bald hört der Wald auf, dann wird es hell und frei.‘ Aber im verborgenen Herzen sehnt sie sich nach dem, was hinter ihr geht, wie ein Kind Heimweh hat nach der Mutter. Sie möchte die Stimme wieder hören, die ‚Mutter‘ rief und ihr die Tränen gelöst hat, so daß sie um die Mutter weinte. — Schwager, komm mit! Ich führe dich zu ihr. Ursula, ich habe deinen Bruder gefunden!“

Bewegt und mit feuchten Augen hatte Friedrich die letzten Worte gesprochen, wie einer, der, von seinem Gefühl überwältigt, den ausgedachten Weg verläßt und sich von seinem Herzen leiten läßt querfeldein auf das Ziel zu.

Leonhards Brust arbeitete schwer. Auch er war aufgestanden, aber nicht, um die Hände zu ergreifen, sondern um sich vor ihnen zu flüchten in den hintersten Winkel der Kammer. Der Hund fuhr auf und knurrte.

Leonhard lehnte sich an die Wand und kreuzte die Arme über der Brust.

Er nahm das letzte Wort seines Gegners auf und rief:

„Gefunden! Sie hat ihren Bruder gefunden, wenn ich meine Mutter gefunden habe. Führe mich zu ihren Gebeinen, und ich gehöre euch! Dann suchen wir miteinander des Vaters Grab. Wir finden es. Die Mutter hilft uns. Dann ist die Vergangenheit tot, ich ziehe dieses Kleid aus und bin Leonhard von Sternenfels, der Letzte meines Geschlechts.“

„Du vergissest, daß ich ein Hirschhorn bin“, sagte Friedrich. „An dem Tage, wo deine Mutter aus der Welt schied, war die männliche Sippe meines Geschlechts beieinander, und wir schwuren auf das Evangelium, daß, solange der Name Hirschhorn lebt, kein Wort an das Geheimnis rühren werde und keine Hand an —“

Er brach ab.

„Ich kann nicht!“ fing er wieder an. „Und trotzdem —“

Er ging auf Leonhard zu: „Dich bindet kein Eid! Deine Schwester ist der einzige Mensch, der von Gottes und Rechts wegen zu dir gehört und du zu ihm. Mit deinem Verlangen nach der Mutter Grab nimmst du ihr den Frieden und tötest all ihr Glück. Gib dies mörderische Suchen auf. Zieh dies Narrenkleid aus und stelle deine unritterliche Arbeit ein. Sei, wer du bist! Hör auf mit diesem Komödiantenspiel, mit dem du die Kinder erschreckst, die Abenteurer an dich lockst, aber vernünftige Männer ärgerst, und schließlich, ohne es zu wissen und zu wollen, wie ein rechter Narr das größte Unheil anrichtest. Mir selber erschienest du mitunter wie die Stimme eines Predigers in der Wüste, und wenn du die Leute lehrtest, zu meinem Schimpf Lieder zu singen, sagte ich zu mir: ‚Der Herr hat es ihn geheißen.‘ Aber deine Schwester hat recht, wenn sie über dieses Wort wild wird. Da ich dich jetzt sehe und höre, nicht im Graben vor der Burgmauer, nicht am Friedhof und bei deinen Särgen, da erscheint mir all dein Treiben kindisch. Wärest du katholisch —“. „Ich bin’s.“

Friedrich sah seinen Schwager mit großen Augen an, aber ohne Feindseligkeit.

„So gehe in ein Kloster. Dein Wesen und Tun entspricht keiner Regel deines Glaubens, sondern nur allein dem Trotz deines Herzens. Komm mit, wir gehen zusammen in mein Haus. Was wird der Hannes für Augen machen, wenn ich ihm sage: ‚Das ist der Junker Leonhard von Sternenf els, der Bruder deiner gnädigen Frau.‘“

Friedrich lächelte. „Morgen kommt deine Schwester nach Hirschhorn“, fuhr er fort, „sie will dort ihre Niederkunft halten. Was werden ihre schönen Augen leuchten, wenn sie in ihrer Genter Kutsche durchs Tor fährt und ich reite hinter ihr drein am Wagenschlag vorbei und rufe in den Hof hinein: ‚Grüß dich Gott, Schwager! Hast du gut hausgehalten?‘ Du aber trittst heran in ritterlicher Kleidung und hebst sie aus der Kutsche und nimmst sie in deine Arme und küssest die sich Sträubende; ich stehe hinter dir und rufe: ‚Küsse ihn herzhaft, Ursula, es ist dein Bruder Leonhard!‘ Oh, eine solche Freude im Herzen des Kindes wird alles Unrecht sühnen, das im alten Haus geschehen ist, und deine Schwester wird mir einen stolzen Sohn gebären. Von eurer Kindheit redet dann miteinander, von Vater und Mutter, malet alles, dessen ihr euch erinnert, miteinander liebevoll eins ans andre gelehnt, auf goldenen Grund. Und wenn ihr weinen wollt über ihr trauriges Los, dann tut es nicht heimlich, nein, ich weine mit euch. Aber fragen, fragen dürft ihr nicht.“

Der Junker breitete seine Arme aus und ließ sie traurig sinken. Leonhard hatte seine Arme in die Kutte gewickelt und den Kopf auf die Brust gesenkt. Jetzt hob er das Gesicht. Ein verbissener Zug lag darinnen.

Er sah den Ritter durchdringend an und sagte langsam und schwer:

„Die Beußerin von Ingelheim —“

Friedrich zuckte zusammen wie von einem Streich getroffen und rief schmerzlich:

„Welchen Namen nennst du?“

„Die Beußerin von Ingelheim

hob ihre schneeweißen Hände —“

Leonhard hob die flachen Hände in die Höhe. Friedrich schlug die Augen nieder und griff hinter sich. Er wich zurück, bis er an den Schemel stieß, dann setzte er sich nieder. Die Hütte zitterte von der Wucht. Der Hund fuhr wütend auf den Einsiedler los. Friedrich, vornübergebückt, griff nach dem Tier und zog es zurück. Der Hund legte sich knurrend hinter seinen Herrn. Der Junker murmelte etwas vor sich hin, faltete die Hände über seinem Knie und saß da wie ein ergebener Knecht.

Leonhard maß ihn mit einem triumphierenden Blick.

„Du bist ein verfluchter Mensch“, sagte Leonhard bitter.

Friedrich schüttelte den Kopf und lächelte. „Gott hat mich gesegnet“, sagte er leise.

„Du wirst ohne Leibeserben dahinfahren“, fuhr Leonhard fort.

„Aus dir spricht ein rachsüchtiger Teufel.“

„Du warst dabei und hast es nicht gehindert.“

„Ich war ein Knabe, und sie haben mich trunken gemacht.“

„Was ist mit ihr geschehen?“ schrie Leonhard außer sich. Er hatte sich auf den Dasitzenden gestürzt und schüttelte ihn an beiden Schultern.

Mit einem schrecklichen Geheul fuhr der Hund auf und schnappte dem Angreifer nach der Kehle. Leonhard beugte sich zurück. Der Hund war in der Höhe geblieben und zuckte zum zweitenmal vorwärts, noch ehe Friedrich ihn hatte packen können. Da griff Leonhard unter seine Kutte, sein Messer blitzte in der Luft, und der Hund stürzte lautlos zu Boden.

Friedrich stand vor dem verendenden Tier und sah seinen letzten Zuckungen zu.

„Es war ein treuer Hund“, sagte er und hob ihn am Halsband in die Höhe. Er trug die Leiche zur Hütte hinaus und warf sie den Abhang hinunter zu dem toten Hasen.

„Da habt ihr noch etwas, ihr Füchse!“ rief er in den Wald hinein.

Als er wieder in die Hütte trat, schaute ihm Leonhard entgegen.

„Ich bin meiner Mutter ihr Wolfshund“, sagte er, und die weißen. Zähne sahen hinter den Lippen hervor.

Friedrich schaute ihn mit einem langen Blicke an, der langsam an seiner Gestalt niederglitt.

„Alles vergeblich“, sagte er traurig. „In dir atmet ein rachsüchtiger Teufel. Wenn du einmal zu deiner Mutter kommst drüben in der Ewigkeit, dann verleugnet sie dein irdisches Tun.“

„Ich weiß es besser“, erwiderte Leonhard. Er kniff die Lippen aufeinander, während ihn Friedrich erwartungsvoll ansah.

„Ich glaube meinem Meister.“

„Wer ist dein Meister?“ fragte Friedrich verwundert.

„Ich habe drei Meister gehabt“, erwiderte Leonhard und verzog höhnisch die schmalen Lippen. „Mein erster Meister war der Wasenmeister von Hirschhorn. Bei ihm fand ich einen Unterschlupf, wenn mich die Herren von Hirschhorn aus dem Graben jagten, die Hunde auf mich hetzten und mit der Wallbüchse nach mir schossen.“

„Das war der tolle Hans, mein Ohm“, rief Friedrich schmerzlich, „und meine wilden Vettern!“

„Aber diesen Meister meine ich nicht. Er lehrte mich nichts weiter, als wie man Aas verlocht, und er schlug mich grausam. Als ich wußte, daß meine Mutter tot ist, entlief ich ihm. Mein zweiter Meister war ein Zigeunerhauptmann. Ich kam ihm in die Hände in dem großen Wald jenseits des Neckars und lebte bei ihm sieben Jahre. Er lehrte mich, mit Messer und Schlinge umzugehen, zu stehlen wie ein Fuchs, zu rauben wie ein Marder, zu fliehen wie ein Reh und mich wütend einzubeißen wie ein Wolf. Als man seinen goldenen Becher in meiner Tasche fand, entschlüpfte ich und kam zu meinem dritten Meister. Das war ein Einsiedler im Schwarzwald, nicht weit von Lahr, bei Schloß Hohengeroldseck. Er fand mich im Wald, nahm mich in seine Hütte und machte aus mir einen Menschen. Das Ave und den Rosenkranz hat er mich gelehrt und hat mir vom heiligen Leonhard erzählt. Er war ein Schreiner und wies mich, wie man den Hobel führt und Särge macht. Als es mit ihm zum Sterben ging, fragte er mich: ‚Was wirst du tun, wenn ich tot bin?‘ — ‚Ich warte an der Landstraße, bis jemand kommt, der mit mitnimmt.‘ Er schüttelte den Kopf und sah mich lange an. ‚Besinne dich‘, sagte er; ‚hat dir Gott keine Aufgabe gegeben?‘ — ‚Ich wüßte etwas‘, sagte ich und lüpfte dieses Messer in der Scheide. Mein Meister legte mir seine zitternde Hand auf den Arm. ‚Das ist Gottes Wille nicht, sondern des Teufels Wille‘, sagte er. ‚Denke an den heiligen Leonhard. Aber ich weiß etwas, das Gott von dir will: suche deiner Eltern Grab und bete bei ihren Gebeinen. Willst du das tun?‘ Ich versprach es ihm in die Hand. Da war er zufrieden. ‚Es ist gut‘, sagte er, ‚wenn ein Mensch weiß, was er tun soll, dann geht er einen geraden Weg.‘ Als er tot war, hab’ ich’s ihm noch einmal ins Ohr hinein versprochen, nicht zu rasten und zu ruhen, bis ich der Eltern Grab gefunden habe.“

„Sieh meine Burg als deiner Mutter Grab an“, sagte Friedrich, „und suche nach den Gebeinen deines Vaters.“

„Deine Burg ist groß; ich will mit meinen Händen die Stätte decken, wo die Mutter liegt.“

Friedrich kehrte sich zur Tür.

Ehe er schied, wandte er sich noch einmal um und sagte: „Schone deine Schwester!“

„Ich suche sie nicht“, sagte Leonhard.

„Kann ich dir etwas geben? Für deine Hütte, deinen Haushalt?“

„Ich bedarf nichts.“

„Für dein Handwerk? Brauchst du Bretter?“

„Ich habe, was ich brauche.“

„Die draußen liegen, sind so kurz. Ich will dir von der Säge zu Langental lange heraufführen lassen.“

„Ich mache auch Kindersärge“, sagte Leonhard mit einem stechenden Blick.

Das deutsche Herz

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