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„Hä!“ sagte der Torwärtel Peter, als der letzte Gast draußen war. Er zog die Torflügel herein, legte den Querbalken dahinter und riegelte das Pförtchen. Dann ging er in die Stube, entledigte sich seiner Hochzeitsstiefel und seines Festgewandes und kam bald wieder in den Torbogen heraus in seinen Schlappen und im Hauswams. Er schlurfte ein wenig herum, um sich wieder ins gewohnte Leben hineinzufinden; er schlappte zur inneren Torbrücke und spuckte über das Geländer, dann schlitterte er wieder herunter und goß Milch in das Katzenschüsselchen, dann tappelte er noch einmal hinauf, stieg auf die Zwingmauer und stellte eine Mausefalle vor den Meisenkäfig. Eine Weile stand er tiefsinnig vor den Schweineställen. Dann kam er an den Brunnen heran und zog einen gefüllten Eimer herauf, ließ ihn aber in der Kette hängen, wie es die nächtliche Burgordnung gebot. Dann schleifte er seine Schlappen wieder zum Tore hinunter, in die Stube hinein und kreuz und quer über die sandigen Dielen. Endlich kam er mit einem dick gestrichenen Käsebrot heraus, setzte sich auf sein Bänklein, sagte „Hä!“ und biß ein.

Da klopfte es an das Pförtchen, und eine tiefe Stimme sagte: „Ich bin’s, der Hannes.“

Peter schob den Riegel zurück. Ein stämmiger Bursche kam herein, schloß das Pförtchen und setzte sich neben den Wärtel.

„Heute nacht kommt noch ein Wetter, und was für eines!“ sagte er. „Die Musikanten täten gescheiter und blieben hier. In der Johannisnacht ist der Neckar aufs Ersäufen aus, und Schiffer Stapf ist heute der rechte Mann, ihm dabei zu helfen, denn er hat einen Mordsrausch.“

Der Bursche redete vor sich hin, ohne zu beanspruchen, daß ihm jemand zuhöre. Wie es zum Abschluß des Festtages dem Peter ein Bedürfnis war, herumzuschlurfen, so war es dem Hannes ein Bedürfnis, vor sich hin zu pappeln.

„Herrschaft, war das ein Wesen, bis sie alle untergebracht waren! Mit den Junkern ging’s noch, die machten sich’s bequem und schlenderten zum Nachttrunk in den ‚Löwen‘ Aber die Edelfrauen. Einer Mutter und einer Tochter hab’ ich den Mantelsack ins Zimmer getragen. ‚Hier riecht es nicht gut‘, hat die Alte gesagt. ‚Es stinkt‘, sagt’ ich drauf; ‚aber es geht natürlich zu‘. Drauf fragte die Junge: ‚Ob es wohl hier Flöhe gibt?‘ ‚Ich schätze, daß es gibt‘, sagt’ ich drauf. ‚Denn hier sind zwei Weibsleute und in der oberen Kammer drei.‘ Drauf haben sie mich zur Stube hinausgejagt.“

Der Torwärter stand auf, tappelte in den Hof hinauf und betrachtete im Zwielicht einen liegengebliebenen Stallbesen.

Hannes legte die Ellbogen auf die Knie und erzählte in seinen Schoß hinein.

„Meiner Seel, die Unkosten! Der Junker Landschad ist mit dreizehn Pferden gekommen. Alle Ställe sind voll. Die Häuser der Herrschaft und die Wirtshäuser sind gepfropft voll, daß sie mit ihren Buckeln und Bäuchen schier gar die Dächer abheben. Und immer noch nicht genug! Das liebe Vieh weiß doch, wann’s zufrieden ist. Aber die fressen und saufen in Ewigkeit Amen. Wär’ ich der Junker, tät’ ich so: Jeder kriegt auf der Burg sein Gesatz an Essen und Trinken, wie sich’s gehört. Wer noch mehr will, für den gibt’s Wirtshäuser in der Stadt. — Aber auf Rechnung vom Junker Hirschhorn? Nicht wahr, Hannes? — Prost die Mahlzeit, gnädige Frau! Habt ihr Geld, kriegt ihr was. — Meiner Seel, sie hätten nicht den zwölften Teil Hunger und Durst! — Aber die Gäule? Die sind doch zehrungsfrei? Für ein brav Trinkgeld kriegt jeder Gaul einen Stallplatz, aber Hafer und Heu und was der Roßbub verzehrt, kostet für jeden Gaulskopf zwei Batzen. Hei, wäre jetzt das Städtlein so sauber und so still; neckarauf, neckarab täten sie reiten, was das Zeug hält, damit sie noch heimkommen, ehe das Wetter einbrennt.“

Über solchen und ähnlichen Phantasien schlief der Hannes ein. Der Peter aber geisterte noch ein wenig herum. War es im Tore wie in einem Bratofen, so war es im Stüblein daneben wie in einem Backofen. Peter zog das Losament mit der fliegenden Hitze vor. Er schlurfte schließlich endgültig in die Kemenate und legte sich auf die Pritsche.

Nun wachte niemand mehr in der Burg als der Junker und sein junges Weib. Und hätte man nach schlafenden Menschen gesucht, man hätte nur zwei gefunden, und zwar im Tore, sonst nicht einmal im Wächterstüblein oben auf dem Turm. Der Junker hatte allen seinen Leuten erlaubt, die Nacht in der Stadt oder am Strande oder bei den Johanhisfeuern auf den nächsten Höhen zuzubringen, bis es zu Ersheim Tag läute. In den alten Gassen, in den Schenkstuben der Wirtshäuser, oben auf dem Feuerberg und vor der Neckarpforte auf dem grünen Rasen ging es laut und lustig zu. Die Edelknechte und Edelfräulein tanzten um die lodernden Holzstöße. Die ritterlichen Herren saßen mit den Männern vom Gericht und mit den Bürgermeistern und Vögten des Junkers in den kühlen Stuben am eichenen Tisch und redeten von den bedrohlichen Zeichen der Zeit. Die Edelfrauen wandelten am kühlen Neckar und freuten sich, wie die flammenden Räder vom Feuerberg herunterrollten, Funken sprühten, wenn sie springend, aufschlingend und endlich fauchend und zischend im Neckar versanken. Auf dem Plan aber, über den man zur Ersheimer Fähre herunterstieg, waren Bänke und Tische im Freien aufgerichtet und ein bretterner Tanzboden war aufgeschlagen. Beim qualmenden Licht aufgesteckter Pechfackeln spielten die Odenwälder Musikanten, und das junge Volk wurde nicht müde, sich zu umfassen und im Tanze zu drehen. Hinter den Bergen aber brauten die Luftgeister ein Wetter. Mit schlaffen Flügeln standen sie hoch und schwarz zwischen Himmel und Erde und senkten die Köpfe und schauten mit glühenden Augen in die auf und ab steigenden stillen Wirbel, und aus geheimnisvoll spielenden Fingern quollen immer neue schwangere Dünste und zogen sich, verhohlen qualmend, in den brodelnden Kessel. Von Westen aber flog ein Wind und fing an zu blasen, und siehe, der verstockte Brodem dehnte und flog auseinander wie ein ungeheurer schwarzer Flügel, der sich entfaltet, langsam und doch unheimlich schnell, schwarze Wolken zogen herauf. Es wetterleuchtete, und wenn die Musik nicht spielte und das Volk nicht jauchzte, hörte man ununterbrochen ein fernes dumpfes Grollen. Schwarz, eilfertig und tückisch zog die Flut des Neckars dahin. An die Fähre angebunden war ein breites Boot; darinnen wollten die Musikanten nach Heidelberg hinunterfahren. Es hob und senkte sich unter der ziehenden, schwellenden Flut, kleine Wellchen leckten hinauf; zuweilen klirrte die Kette, und dann atmete es aus der Tiefe, wie wenn dort unten etwas laure.

Auf der Erde aber ging die Liebe um, weiß und gewaltig. Blick und Händedruck wurden getauscht, Mund streifte am Mund vorüber. Die Paare lösten sich vom Reigen und wandelten eng zusammengepreßt den Schatten zu. Der treue Schultheiß von Eschelbach aber verließ die Schenkstube, trat auf die Straße, schöpfte Atem und schaute zu dem dunkeln Schlosse empor. Er faltete die Hände und sagte zu sich selbst: ‚Will’s Gott, setzt in dieser Nacht ein neues Reis an und wächst in viel tausendmal tausend.‘

Friedrich von Hirschhorn und seine angetraute Braut Ursula von Sternenfels standen aneinander gelehnt auf dem Balkon. Hinter ihnen war alles finster. Wohl brannte in der Kemenate die Ampel, aber hinter einem Schirm, so daß die Fenster dieses Gemaches geradeso schwarz waren wie alle übrigen. Auch nicht das schärfste Auge konnte vom Tale oder von der Stadt her die beiden Gestalten aus dem Schatten lösen, der schwer und schwarz den Berghang hinunterhing bis auf die Dächer der Bergstadt. Sie selber aber schauten wie zwei schwebende Vögel vor sich und unter sich das wundersame Bild, das vom bewegten Himmel groß und lebendig zu ihnen herankam und das wie ein phantastisches Kinderspiel schwirrend und flimmernd die stille, nächtliche Erde beunruhigte. Das feuerhauchende Gewölk überspannte Gebirg und Tal. Noch stand der Mond am östlichen Himmel und um ihn her eine kleine Schar von tröstlichen Sternen. Aber diese Insel, von der Wolkenflut umringt, wurde kleiner und kleiner, und Ursula wollte nimmer zu ihr emporschauen, weil jeder Stern, der verschwand, sie traurig machte. Das ferne Grollen war hinterhaltig und kam nicht näher; das Ohr hatte sich daran gewöhnt, und wenn die Braut darauf lauschte und ihrem Gatten sagte: „Hörst du, wie es dort hinten murrt und knurrt?“, dann tröstete er sie: „Laß die Bestien murren und knurren; sie kommen nicht zu uns herüber.“

Zu Füßen der Schauenden lag das schattenerfüllte, schweigende Finkenbachtal, und die schwarzen Stücke finsterster Nacht, die hier und dort dicht unter der Burgmauer die Schatten umhüllten, verrieten den gähnenden Schloßgraben. Der Zug des Neckars flimmerte zwischen den Bergen vor und im Tale her und zeigte die huschenden Himmelsflammen im stillen Abbild. Es sah aus, als ob er, ein Verbündeter der Wetterwolken, aus ihrem Dunkel herwärts käme, während er doch in Wirklichkeit dem Gewitter entgegenflutete.

Gegenüber diesen machtvollen Vorgängen am Himmel und auf Erden erschien alles, was die Menschen taten, winzig und putzig: das Feuer auf dem Berg, die glühenden Scheiben und flammenden Räder, die hin und wieder huschenden Fackellichter, die schwarzen Gestalten am Strand mit ihrem wunderlichen Hinundherlaufen. Nur die freundlichen Lichter des Städtleins taten den Augen wohl in ihrer Ruhe und Traulichkeit; sie erinnerten an die Sterne am Himmel, wie Menschliches an Göttliches erinnern kann.

„Hörst du die Trompete?“ sagte Ursula zu ihrem Gatten und beugte sich lauschend über die Brüstung. „Ihr Ton schwingt sich in die Höhe wie ein Falke.“

„Grollst du ihr nicht, daß sie dir Tränen entlockt hat?“ fragte Friedrich und stemmte sich auf das Geländer.

„Ich bin ihr dankbar, und es tat mir leid, daß du dem Trompeter zürntest.“

„Es war nur für einen Augenblick.“

„Ich sah den jähen Grimm und erschrak.“

Friedrich ergriff ihre Hand und drückte sie leise. Es war wie ein Gelöbnis.

„Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Früher war ich der wilde Hirschhorn. Ich habe es gelernt, meinen Zorn niederzuringen.“

Er seufzte aus der Tiefe.

„Und wenn je einmal die jache Flamme über mich kommt, dann hebe deine Hände so, siehst du? — So! Dann werde ich still und klein wie ein ängstliches Kind. — Verstehst du mich?“

Ursula sagte leise: „Nicht ganz; aber ich weiß, woran du denkst.“

„Du Gute!“

Die Gatten schwiegen eine Weile. Die Musik jauchzte hellauf, und der Trompetenklang flatterte heran.

„Nicht das hat mich ergrimmt“, fing der Ritter wieder an, „daß er auf einmal den frohen Marsch hinüberleitete in den Choral; denn ich liebe unsere Kirchenlieder, und es war wundersam und rührend, wie die andern Töne stutzten und aus der Reihe kamen und hin und her schwirrten, bis der Trompetenton sie alle zwang und sie wohl oder übel und schließlich sehr wohl mit ihm zogen. Darüber habe ich mich gefreut. Aber als er nun vor der Tür zu unserm Brautgemach die Trompete absetzte und mit lauter Stimme zu singen anhub:

‚Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?

Hin geht die Zeit, her kommt der Tod; — ‘

und als ich die bestürzten Gesichter der Herren und Frauen sah, die uns zu unserm Gemach geleitet hatten, da wallte in mir der Zorn auf.“

„Du griffst nach deinem Dolch“, sagte sie vorwurfsvoll.

„Ich weiß es.“ — „Wie ein Engel hat er gesungen.“

„Wie ein Engel. Um so furchtbarer war mein Grauen. — Du verstehst doch. Vor der Schwelle zur Hochzeitskammer wird keiner gern an das Sterben erinnert. Und — Ursula — du weißt doch, mit welchen Gedanken alle, die mein Haus liebhaben, die Tür anschauen, die zum Brautgemach führt; du weißt doch“, er senkte die Stimme, „was viele gute Menschen vom heutigen Tag erwarten für mein Geschlecht.“

Ursula nickte mit dem Kopf und stand da wie jemand, der gewärtig ist.

Aber Friedrich war in seinen Gedanken noch ganz bei jenem Vorgang.

„Da war mir der Gesang, der vom nahen Ende und vom herkommenden Tod kündete, wie ein Schlag ins Gesicht, und ich wurde zornig. Aber ich dachte an etwas, woran mich Gottes Geist erinnert, wenn die Wut über mich kommt, und ich sagte zu mir: der Herr hat’s ihn geheißen. Da wurde ich ruhig und konnte um mich blicken. Du standest in Tränen und wolltest nicht über die Schwelle — deine Muhme schlug die Tür zu. Unsere Gäste standen verstört und betreten in Gruppen, die Musikanten waren auseinander gestoben, nur der unglückselige Trompeter stand an der Wand. Der erboste Landschad schrie auf ihn ein, und Venningen rief mir zu: ‚Wirf den Schelmen in den Turm!‘ Ich aber sagte: ‚Er steht im Frieden meiner Burg. Ich bitte die Gäste, uns zu verlassen. Die Musik voran! Hinunter in die Stadt! Viel Freud’ und Glück! Auf Wiedersehen morgen in der Früh‘.“

„Von all dem weiß ich nichts“, sagte Ursula. „Wo war ich doch mit meinen Gedanken?“

„Du standest und weintest still vor dich hin. Ich habe noch nie einen Menschen so weinen sehen: die Augen weit offen, das Gesicht still, der Mund zusammengepreßt, kein Laut, aber Tränen und Tränen wie quellende Wasser. Da rief ich dem Trompeter: ‚Bitte die Herrin um Vergebung!‘ — Ich tat es um seinetwillen, denn sie schalten ihn greulich. Er hörte nicht; da nahm ich dich bei der Hand und führte dich zu ihm und wiederholte: ‚Bitte die Herrin, daß sie dir vergebe!‘ Er rührte sich nicht. Er hatte nicht gehört. Und nun sah ich das Merkwürdigste von der Welt: er stand und weinte geradeso wie du: die Augen weit offen, das Gesicht regungslos, die Lippen geschlossen, kein Laut, aber Tränen und Tränen wie quellende Wasser. Verwundert sah ich von ihm zu dir und von dir zu ihm, und mein Staunen wuchs. Ursula, er sieht dir ähnlich wie ein Bruder, der seiner älteren Schwester aus dem Gesicht geschnitten ist. Komm, ich will dir zeigen, wo er dir ähnlich ist; da — und da — und da — und da.“

Er küßte ihr die Stirn und die Brauen und beide Augen und das Grübchen im Kinn und dann ihren Mund.

Die Trompete drunten am Neckar jauchzte, ein heller Blitz und ein munterer Donnerschlag flammte und rollte über den Kuß, der länger währte als das rollende Echo und der Raketenstrahl des Trompetenklanges. Es war still und finster, als Friedrich sein Haupt hob und seinem Gemahl ins Ohr flüsterte. Sie nickte unmerklich, und die beiden wandten sich langsam, verließen den Altan und traten in die Kemenate.

Ursula stand in der Mitte des Zimmers und harrte. Friedrich holte die Ampel hinter ihrem Schirme vor und schob den Riegel der Tür zurück. Ehe er öffnete, sah er sein Weib lächelnd an.

„Wir müssen dem Trompeter dankbar sein“, sagte er. „Ist es nicht so viel schöner, als wenn die, die jetzt drunten zechen und tanzen, alle hier ständen, und wir hörten hinter der Tür ihr Lärmen und Pochen und den frechen Pfeifenton, und wir säßen da und zitterten und fürchteten uns vor dem wüsten Lärm. Wie ist es doch so viel heimeliger und traulicher!“

„Oh, es war schrecklich!“ sagte Ursula. „Ich verging vor Scham, darum hatten auch die Tränen solche Gewalt über meine Augen.“

„Ursula, komm!“

Er öffnete die Türe weit. Ein Windstoß kam ihnen entgegen. Die Ampel flatterte hoch.

Ursula warf einen Blick durch die Tür und fragte betreten: „Wo führst du mich hin?“

„Wohin? In unser Schlafgemach.“

„Hier ist kein Gemach; hier ist ein Gang.“

„Wohl; er führt an der Mauer hin, aus dem neuen Haus in das alte Haus; links ist die Tür in dein und mein Schlafzimmer. Seit unser Geschlecht hier oben haust, haben dort die Ritter bei ihren Frauen geschlafen.“

„Und dort das schwarze Fenster?“

„Es geht in den hinteren Graben und schaut in den Tannwald. Das Fenster ist nicht geschlossen. Daher der Windzug, der dich erschreckt hat. Wir schließen das Fenster im Vorübergehen. — Ursula, dir schaudert?“

„Ja“, sagte sie und zitterte. Sie stand noch immer jenseits der Schwelle, im neuen Haus.

„Dort aus dem Gange hat es geseufzt.“

Friedrich erbleichte.

„Das ist vorbei“, sagte er leise vor sich hin.

„Was ist vorbei? Ich hab’ es wohl gehört, was du gesagt hast. Du selber bist bleich.“

„Oh, Ursula, frag nicht! Die Vergangenheit liegt schwer auf meiner Seele, und ich werde sie nicht los, weil ich meinen Namen nicht los werde. Du bist mein starkes, treues Weib, du hilfst mir tragen. Aber höre, Ursula, wir wollen unwissend tragen. Oh, zwinge die Vergangenheit nicht, dir zu antworten! Laß sie ruhen und schweigen. Ursula, komm und gib mir dein süßes Herz!“

Sie wollte kommen. Aber von neuem schreckte sie zurück.

„Ich kann ja nicht!“ flüsterte sie. „Es stöhnt so entsetzlich dort!“

Friedrich sah erleichtert auf. „Allerdings“, sagte er, „das ist ein lebendiger Mensch. Einer von den Wunderlichen. Er fragt so viel; dadurch ist er sich zur Last, und mir ist er’s auch. Jetzt sitzt er im Burggraben oder läuft drinnen umher und klopft an die Mauern und fragt die schweigenden Steine. Es ist dies nicht hübsch für dich und für mich. Aber sei ohne Furcht. Er tut dir nichts zuleid. Und in der Burg selber erschreckt er dich nicht. Es ist ihm verboten, sie zu betreten. Aber draußen lassen wir ihn gewähren, Ursula, daß er tue nach seiner seltsamen Weise. Denn der Herr hat es ihn geheißen. — Ursula, komm, gib mir dein süßes Herz.“

Er hielt die Ampel hoch, faßte sein Weib an der Hand und schritt vorwärts. Sie zögerte noch immer, so daß ihr Arm und der ziehende ihres Gatten gestreckt waren. Durch das auf und zu wehende Fenster und das rasch bewegte Windlicht entstanden huschende, streichende, sich beugende Schatten an der langen Wand des Ganges.

Ursula stieß einen markerschütternden Schrei aus und, vorgebeugt, hielt sie sich zitternd fest an ihrem Gatten.

„Sieh! sieh! dort!“ stammelte sie.

„Es ist nichts“, sagte er erschüttert.

„Doch! Eine Gestalt — eine Frau ist aus der Mauer getreten, mir in den Weg, und sie hat die Hände erhoben, so, Friedrich, so, wie du mir vorhin gezeigt hast.“

Der Junker sank in die Knie. Es sträubten sich ihm die Haare.

„Geh!“ rief er, und wie ein Flüchtiger drängte er sein Weib in die Stube zurück.

Er stellte das Licht auf den Tisch und ging einigemale im Zimmer auf und nieder. Dann ging er mit festen Schritten durch den finsteren Gang und schloß das auf- und zuschlagende Fenster. Ursula ergriff die Leuchte und hielt sie ihm zum Rückweg entgegen. In der Mitte des Ganges bückte er sich und hob etwas vom Boden auf. Er brauchte dazu längere Zeit, als dieses Geschäft erfordert hätte. Als er das Ding in der Hand hielt, schüttelte er den Kopf, sah an der Wand empor und schüttelte den Kopf von neuem. Als er in die Stube trat, sah er so bleich aus wie ein Mensch, der ein Gespenst gesehen hat.

Ursula bemerkte die Wandlung bei ihrem Manne, und jetzt wurde sie ruhig und sicher.

„Verzeih mir, Geliebter“, sagte sie zu ihm. „Ich war eine Törin, aber es ist vorbei. Laß mich dir leuchten und komm!“

Sie wollte voraus in den Gang hinein. Er aber war ans Fenster getreten.

Sie stellte die Lampe auf einen Stuhl und trat zu ihm.

„Das Gewitter ist näher gekommen. Wie es blitzt! Der ganze Himmel ein Feuer. Aber noch regnet es nicht. Das Wetter steht noch hinter dem Berg.“

Friedrich schwieg.

„Sind auch unsere Gäste alle gut untergebracht? Ich weiß, sieben Herrschaftshäuser und zwei Wirtshäuser hast du dazu eingerichtet. Vortrefflich, ich weiß es, aber ich bin doch etwas in Sorge. Meine Muhme, die Degenfeld, ist so heikel.“

„Wenn ich nur jemand hätte, den ich schicken könnte“, sagte Friedrich, „so ließe ich jetzt allsogleich den Trompeter holen, um ihn etwas zu fragen.“

„Was hast du mich doch über das Fragen gelehrt?“ sagte Ursula lächelnd.

„Aber alle meine Leute sind drunten; nur der Wärtel ist da, vielleicht auch sein Knecht, aber wahrscheinlich nicht.“

„So geh doch selbst!“

„Ich dich verlassen?“

„Ich gehe mit dir, lieber Herr!“

Friedrich zog sie an sein Herz.

„Nein, ich schicke morgen einen reitenden Boten mit einem ledigen Gaul nach Kirchheim. Sie spielen dort auf. Dann ist er gegen Mittag hier.“

„Und nun?“ fragte Ursula nach einer Pause. „Lieber Herr!“

„Warum sagst du jetzt so zu mir?“

„Ich weiß nicht, wie ich dich fassen soll, damit du wieder —“

Sie brach ab und wurde blutrot.

Er rührte sich nicht.

Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte: „Es ziemt sich nicht, daß die Braut — komm!“

„Ja, komm!“ seufzte er und ging vom Fenster.

„Wohin?“ fragte sie betreten und sah ihn mit großen Augen an.

„Laß mich!“ sagte er und trat wieder hinaus auf den Altan.

„Willst du eine nasse Braut in dein Bett tragen?“ fragte sie ihn verwundert und folgte ihm.

Und nun standen sie wieder draußen und schauten hinunter ins Tal.

Es lag ganz finster. Die Fackeln am Strande zeigten, wie schwarz die Nacht war. Das Gewitter war näher gekommen. Unaufhörlich flammte es hinter den Bergen vor, und das Rollen des Donners hatte keine Pause. Es rauschte in der Schloßlinde, und ein Weben und Sausen kam vom Walde herüber. Aber noch führte der Sturm nur Staub und Blätter mit sich. Noch war kein Tropfen gefallen.

Vom Strande her hörte man das Sprechen und Rufen arbeitender Männer. Sie schlugen die Zelte ab und brachten die Fässer und Kannen unter Dach und Fach. Die Häuser der Stadt waren noch alle hell erleuchtet. Die Musik spielte in einem der Wirtshäuser.

„Sie können nicht genug bekommen“, sagte Friedrich. „Aber es ist mir lieb, daß die Musikanten hierbleiben.“

„Grausig schön müßte es sein, in dieser Nacht den Neckar hinunterzufahren.“

„Schön, aber gefährlich, denn wenn die Wetterbraut in den Neckar fällt, wird er wild. — Ich wüßte die Leute nicht gern heute nacht auf dem Fluß. Es ist die Johannisnacht. — Es ist ein wunderlich Ding. Ich glaube nicht dran, aber es schaudert mich doch. — So ist es auch mit dem Strauße hier. Es ist ein Wetterstrauß. Hätte er ihn mitgenommen, so wäre ich ruhiger. Nun lag der Strauß in der Burg, und zwar seltsamerweise —“

Friedrich brach ab.

„Was bewegt dich so? Ich versteh’ dich nicht. Wovon redest du?“

„Von diesem Sträußchen hier. Der Trompeter hat es am Wams getragen. Ich habe es wohl bemerkt. Und nun lag es mitten im Gang, hart an der Mauer.“

„Was ist daran Wunderliches? Lieber, ich muß über dich lächeln.“

„Es sind Himmelfahrtsblumen. Sie sind selten und werden in diesen Tagen von den Leuten im Wald gesucht. Sie wachsen an liebsten unter hohen Eichen, die der Blitz getroffen hat. Man sagt, daß sie aus Wettersamen sprießen und daß sie bei Sturm und Blitz Schutz gewähren. Aber wie kommt der Strauß dorthin?“

„Das ist leicht zu erraten“, sagte Ursula. „Der Trompeter hat ihn verloren.“

„Er hat ja den Gang gar nicht betreten! Keines Menschen Fuß hat ihn betreten außer mir. Die unser Zimmer bereiteten, kamen vom Turm hinein. Den Schlüssel zum Gang trug ich in der Tasche.“

„Oh, ich weiß“, rief Ursula; sie rief es fröhlich, denn es war ihr ein Anliegen, daß ihr Herr wieder froh wurde.

„Du hast ja die Tür geöffnet, als sie uns im Zuge hingeleiteten. Ich habe nicht hingesehen, denn ich verbrannte vor Scham. Aber der Trompeter hat hineingeschaut, und da er wußte, daß dort unser Brautgemach ist, hat er die Blumen in den Gang geworfen, damit wir sicher ruhen in Sturm und Wetter.“

Ein greller Blitz, ein heftiger Donnerschlag. Friedrich sah erdfahl aus im Wetterschein.

„Warum gerade dorthin?“ schrie er in das Krachen des Donners.

Als der Donner verrollte, ergriff er heftig Ursulas Hände und drückte sie, aber seine Stimme war sanft geworden.

„Oh, jetzt weiß ich es“, sagte er leise. „Der Herr hat’s ihn geheißen.“

Ursula sah angstvoll zu ihrem Gatten auf.

„Friedrich, weder ich noch du haben uns heute früh vorgestellt, daß wir um Mitternacht auf dem Altane stehen würden. Muß ich es sein, die zum Gehen mahnt?“

Er schüttelte abwehrend mit dem Kopf und lauschte ins Tal hinaus.

Zwei Burschen kamen singend vom Städtchen her, auf der Straße, die unten an der Burg vorüberführt gen Langental. Jeden Ton, jedes Wort konnte man verstehen, denn das Gewitter schwieg; es schien sich zu entfernen.

„Wohlan, so heben wir wiederum an

Vom Herrn zu Handsschuchheime,

Wie ihn der wilde Hirschhorn erstach

Auf dem Markt zu Heidelberge.“

Der Ritter trat seufzend von der Brüstung und lehnte sich an die Mauer. Ursula warf sich ihm um den Hals, dann hielt sie ihm in krampfhafter Heftigkeit mit ihren Händen die Ohren zu. Er sträubte sich, und sie rangen miteinander. Darüber gingen einige Strophen an dem Gehör vorüber.

Er hatte sich von ihren Händen befreit. Die Burschen kamen gemächlich den Berg herauf und sangen:

„O Fritz, du hast wie ein Schelm getan,

Zieh mir den Stahl heraußen.

Da dreht er ihn in der Wunde herum.

Des mußt er sich verbluten.“

„Das Lied lügt“, stöhnte Friedrich. „So war es nicht!“

„Herrgott, donnere!“ rief Ursula. Dann bedeckte sie ihm den Mund mit wütenden Küssen. Sie zog seinen Kopf zu sich her und tat wie unsinnig vor Liebe. Aber sie vermochte nicht, seine Seele aus ihrem fürchterlichen Lauschen zu reißen. Sie selber überhörte in ihrer Raserei die folgenden Strophen; aber er saugte jedes schmerzende Wort. Als sie ermattet abließ, sangen die Bursehen gerade unter der Burg:

„Von Ingelheim die Beußerin

Hob ihre schneeweißen Hände.

Verflucht sei deiner Frauen Schoß,

Eine Kröte soll sie gebären.“

Ursula brach in bitteres Weinen aus.

„Ein Zeichen trägst du an der Stirn,

Es grauset deinen Erben.

Du jagst sie selber in den Tod.

Dein Haus soll mit dir sterben.“

Die Burschen bogen um den Berg. Man verstand ihren Gesang nicht mehr.

In Ursula aber war der Zorn aufgelodert und hatte über Schrecken und Schmerz überhandgenommen.

„Es ist empörend!“ rief sie. „Das wagen deine Untertanen? An deinem Wein haben sie sich berauscht, und nun schmähen sie dich, wie noch kein Mörder geschmäht worden ist.“

„Sie wissen nicht, was sie tun“, sagte der Ritter düster.

„Bist du ein Herr, daß du solches dulden magst?“ rief Ursula unmutig.

„Sie denken sich nichts dabei. Sie wissen kaum, daß ich es sei. Jeder von den beiden dort unten geht doch für mich durchs Feuer.“

„Woher haben sie das Lied?“

„Leonhard hat sie’s gelehrt.“

„Wer ist Leonhard?“

„Der Einsiedler. Der arme Narr, der dort hinten im Burggraben liegt und nach seiner Mutter sucht.“

Ursula schaute verwundert zu ihrem Gatten auf.

„Friedrich, ich verstehe dich nicht.“

„Laß ihn“, sagte er sanft. „Der Herr hat’s ihn —“

Ursula flammte auf. Sie hielt ihm den Mund zu.

„Tu mir die Liebe und sage dies Wort nimmer. Du lästerst.“

Der Wind war wieder in die alte Richtung umgesprungen, und es fielen schwere Tropfen. Die beiden setzten sich auf ein Bänklein in der Mauernische, so daß sie vor dem Regen geschützt waren, solange ihn nicht der Wind peitschte.

Friedrich schlang den Arm um sein Weib und sagte: „Das Gewitter kommt nun doch. Hörst du, das Ersheimer Gewitter glöcklein läutet.“

Sie falteten die Hände und beteten still.

Aus dem Städtlein kam eine schwatzende Schar dem Neckar zu.

„Es sind die Musikanten“, sagte Friedrich. „Sie fahren doch im Nachen. Ich höre die Stimme des Fährmanns Stapf. Er fährt sicher, wenn er nicht trunken ist. Sie sind im Zwist, hörst du?“

Verworrenes Geschrei tönte herauf.

„Versprich mir!“ sagte Ursula.

„Was, du Liebe?“

„Sag nicht mehr das feige Wort.“

„Welches?“

„Der Herr hat sie’s geheißen.“

„Das Wort ist nicht feig“, sagte Friedrich ernst. „Siehst du, unsere Vergangenheit ist ein fertiges Ding. An ihr können wir nichts ändern. Was aus dieser Brunnenstube quillt, das müssen wir in unser Leben fließen lassen, sei es Fluch oder Segen. Meine Vergangenheit ist furchtbar und dunkel. Du hast großen Mut, Ursula, daß du sie mit mir teilen willst. Wir müssen sie tragen. Aber die Zukunft, die bauen wir uns selber mit eigenen glücklichen Händen.“

Ursula schüttelte den Kopf.

„Wer die Vergangenheit nicht meistert, ist auch über die Zukunft nicht Herr. Du denkst zu viel an das, was dahinten liegt. Nicht tragen, sondern vergessen wollen wir miteinander. Und dazu wollen wir uns liebhaben. Man sagt, die Minne habe solche Gewalt, daß man in ihren Wonnen alles vergißt.“

Sie lauschte erwartungsvoll auf seinen Odem, auf sein nächstes Wort.

Als er still blieb, seufzte sie leise und fing von neuem an.

„Auch ich habe eine ungute Vergangenheit. Ich kenne sie nicht, man hat sie vor mir verhüllt. Aber ich ahne, daß sie nichts Trautes birgt. Als ich noch ganz klein war, hatte ich jemand, der mit mir spielte und Leonhard hieß wie dein Feind im Burggraben. Mich dünkt, es war mein Bruder.“

„Du redest wunderlich. Dich dünkt?“

„Ja; wenn ich später von ihm redete, sagten meine Eltern, ich hätte geträumt. Ich hatte nicht geträumt, das wußte ich ganz genau. Aber die Eltern wollten’s so haben, da ließ ich es sein.“

Ursula schwieg eine Weile; dann fuhr sie fort:

„Auch daß ich einmal einen andern Vater und eine andre Mutter gehabt habe, hat mir nicht geträumt. Ich sehe sie noch deutlich vor mir. Meine Mutter war eine große schlanke Frau. Sie hat etwas in ihren Augen gehabt —“

„Wie du, Ursula.“ Er zog sie an sich und küßte ihre Augen und ihren Mund.

Ursula lächelte glückselig. Ihre Frauenlist hatte erreicht, was sie wollte.

„Hast du schon einmal so wunderliche Augen gesehen, wie meine?“

„Wie deine? Ja. Heute abend bei dem jungen Trompeter.“

„Oh weh, was hab’ ich getan!“ seufzte Ursula in der Stille.

„Auch bei Leonhard“, fuhr Friedrich fort, „dem armen Menschen, der vielleicht jetzt noch um die Burg streicht.“

„Auch schon einmal bei einer Frau?“ raunte Ursula und schmiegte sich an ihn.

„Bei einer Frau? Nein. — Doch, bei einer einzigen, die ich einmal gesehen habe als zwölfjähriger Knabe.“

„Wer war es?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wo hast du sie gesehen?“

„Wo? Hier. Nicht weit — von hier. — Ursula, du quälst mich mit deinen Fragen.“

Seine Stimme war hart und rauh geworden.

Ursula biß sich auf die Lippen. Sie faßte einen Entschluß.

„Du zitterst, Geliebter“, sagte sie und stand auf. „Komm, wir wollen zur Ruhe. Ich fürchte mich nicht mehr vor jenem Gang; ich schließe die Augen, und du führst mich. Oder du schließest die Augen? Dann führe ich dich. Aber den Strauß nehmen wir mit. Denn das Wetter kommt. Wo ist er nur?“

„Oh Ursula“, klagte Friedrich. „Sie haben alle geschlafen. Warum hast du sie geweckt?“

„Ich?“

„Laß, du liebes Herz!“ Er ergriff ihre Hand. „Wir wollen gehen.“

„Aber der Gewitterstrauß, Wo ist er?“

„Ich habe ihn auf die Brüstung gelegt.“

„Er ist nimmer da, er ist hinuntergefallen. — Oh, wie es blitzt! Was das Glöcklein wimmert! Wie sie johlen und schreien in der Stadt! Welch häßliches Schelten und Streiten. Was ist das für eine grobe Stimme?“

„Es ist der Fährmann. Sie zanken sich um den Preis oder um sonst etwas.“

„Gefällt dir das so gut, daß du dich nicht trennen kannst?“ fragte Ursula unter der Tür.

Friedrich seufzte. „Wenn er nur hierbliebe! Daß er gerade in den Gang hineinblies! Und als er die Trompete absetzte und zu singen anhub, hat er gerade mitten auf die Wand geschaut, auf die weiße Wand, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Warum hat er so getan? Oh, daß ich wüßte!“

„Du weißt zu viel“, sagte Ursula und zog ihn aus dem Erker in das Wohngemach. „Was tot ist, muß man vergessen. Wir wollen schlafen und von der Zukunft träumen.“

Er löschte die Ampel im Wohngemach. Im Finstern öffnete er die Tür, und sie schlüpften in den finsteren Gang. Er machte die Tür hinter sich zu und verschloß sie. Auf den Zehen schlichen sie an der Wand hin. In der Mitte des Weges blieb Ursula stehen wie gebannten Fußes und ging keinen Schritt weiter. Vom Fenster her aus dem Burggraben erscholl ein herzerschütterndes Weinen und Klagen: „Mutter, Mutter, Mutter, Mutter!“

Immer nur dies eine Wort: „Mutter, Mutter!“

Da geschah etwas Wundersames. Ursula nahm die Klage auf und fuhr in ihr fort. Und wie sie nun so seufzte und weinte: „Mutter, Mutter!“, da klangen die beiden Stimmen zusammen wie zwei Saiten von einer Harfe, wie zwei Reime in einem Lied.

Da umfaßte Friedrich seine Braut, hob sie auf und trug die Schluch zende in die Hochzeitskammer.

Ein gedämpftes Licht kam ihnen entgegen. Er schloß die Fenster und verriegelte die Türen.

Die Burg lag im schwarzen Schweigen. Das Wetter hatte die Wehr der Wälder und Berge überwunden. Ein Windstoß fegte über die Giebel und heulte im Turm. Die Geister, die um die Mauern und Zinnen webten, die harten Gespenster mit ihren bösen Erinnerungen und die zarten Seelen ungeborener Geschlechter stoben auseinander. Die Blitze waren selten, aber der Donner fiel krachend hinter ihnen her und über sie herein. Es fing zu regnen an und zu hageln, es prasselte auf die Blätter, es klatschte an die Wände. Bald war es ein stiller, starker Guß. In Ersheim läutete das Glöcklein von neuem. Das heftige Geschrei der Streitenden klang vom Neckar herauf. Ein Schiff stieß ab vom Lande. Jetzt fuhr es unter der Burg hin. Der Lärm war vom Land ins Wasser gestiegen. Die polternde Stimme des Fährmanns übertönte alles. Mit ihr rangen zwei, drei andre in wüstem Streit. Da erscholl die Trompete. Ein langgezogener Ton wie ein Feuerstreifen, dann eine helle Fanfare. Leise zitterte sie aus, dann schwoll der Ton, und ernst-feierlich klang durch das Tal die große Weise, die alle Hochzeitsgäste so tief bewegt hatte. Die Streitenden waren verstummt; kein Donner, kein Blitz, kein Sturm. Nur leise Ruderschläge und das heilige Lied. Viele Hände von Wachenden, von Betenden, von Gedenkenden falteten sich. Manch eine Maid sah den schönen jungen Trompeter vor den geschlossenen Augen. Und mancher Mund sagte, während das Herz lauschte:

„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?

Hin geht die Zeit, her kommt der —“

Der Klang brach ab. Ein Todesschrei, gräßlich, daß alles Lebendige erstarrte — und es ward still.

Der Mond trat aus den Wolken und schaute ins traute Tal. Befriedigt zog der Neckar dahin. Seine plätschernden Wogen spielten träumerisch mit einem umgeworfenen Nachen.

Das deutsche Herz

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