Читать книгу Das deutsche Herz - Adolf Schmitthenner - Страница 9
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ОглавлениеUrsula faßte ihren Gatten heftig am Arm.
„Ich bitte dich, sage mir —“
„Frage nicht!“ erwiderte er schwermütig. „Wir wollen schweigen, und wir müssen vergessen.“ — —
Sie schwiegen. Aber vergessen? Konnte er es? Tag und Nacht quälte sich seine Seele. Konnte sie es? Tag und Nacht grübelte sie über die Frage, was denn sie mit all diesen Geheimnissen, die wie ruhelose Seelen umgingen, zu schaffen habe, und bekümmerte sich ob der Herzensqual ihres Geliebten. Aber keines von ihnen rührte mit einem Wort an diese eiserne Tür, an der sich ihre Gemüter wund rieben. Denn sie fürchteten sich vor ihrem unbekannten Tönen. Redlich wollten sie sich einander zum Vergessen helfen, er, indem er in leidenschaftlicher Zärtlichkeit sie suchte — sie, indem sie in ungestümer Hingebung ihm erwiderte. Aber sie förderten einander nur einen kurzen Rausch, der das Erinnern betäubte, aber nicht tötete. Waren sie voneinander gegangen, dann taten beide, als ob sie schliefen, und jedes wußte vom andern, daß es wache und woran es denke.
Es mochten zwei Monate seit der Hochzeit vergangen sein, da wurde Friedrich in der Nacht durch ein leises Geräusch geweckt. Er richtete sich auf und sah sein Weib im Nachtgewand am geöffneten Fenster stehen. Sie beugte sich hinaus und spähte in die Tiefe. Eine Weile stand sie so. Da löste sich irgendwo ein Steinchen und fiel in das rauschende Laub. Die Frau am Fenster und der Mann im Lager lauschten atemlos. Kein Tritt wurde gehört. Sie beugte sich weiter hinaus. Kein Schatten löste sich von der Wand. Dann rief sie leise: „Mutter! Mutter!“ Keine Antwort kam aus der Tiefe. Darauf schloß sie das Fenster und kehrte zu ihrem Lager zurück. Da faßte er sie an den Händen, zog sie zu sich und sagte: „Ursula, sind wir nicht Toren, daß wir uns einander zu Tod schweigen? Wir wollen davon reden, damit es uns leichter werde.“
„Gott sei gepriesen für dein Wort“, sagte Ursula.
Nun schöpften sie beide Atem, und beide — schwiegen.
„Heute nicht mehr“, sagte endlich der Gatte. „Aber morgen. Wir reiten miteinander nach Zwingenberg. Unterwegs reden wir.“
Es war ein kräftig schöner Septembertag. Friedrich und Ursula ritten nebeneinander auf der Landstraße zwischen dem Neckar und dem Bergwald.
„Was bedeutet das Kreuz dort in der Wiese?“ fragte Ursula.
„Dort hat einer meiner Vorfahren einen Ritter von Vellberg erschlagen.“
„Wie ging das zu?“
„Sie ritten miteinander von einem Turnier, das in Würzburg gehalten worden war. Sie waren Vettern und Freunde und ritten im Frieden weg.
Aber es ritt nur einer in unsre Burg. Er trat ohne Gruß in den Saal, warf sein blutiges Schwert auf den Boden, setzte sich an den Tisch und sah mit verstörten Augen im Zimmer herum. — Oh, ich kenne das!“ fügte er schmerzlich hinzu.
Ursula hielt ihr Roß an. Friedrich tat das gleiche. Sie sah ihren Gatten innig an.
„Was haben wir uns gestern nacht zugesagt, als ich in deinen Armen lag? Oh, so rede doch, Geliebter!“
„Wovon? Von dem erschlagenen Vellberg? Ich weiß nichts von ihm.“
Friedrich trieb sein Pferd an und trabte voraus. Ursula ritt im Schritte hintendrein. Nach kurzer Weile wartete der Junker, und die Gatten ritten wieder nebeneinander.
„Von Johann, dem Handschuhsheimer, rede!“ sagte Ursula.
Friedrich senkte den Kopf.
„An den Toten kann ich ohne Unruhe denken“, antwortete er. „Ich tue es oft, und ich bin dabei fromm und getrost. Aber wenn ich an die Lebendige denke —“
„Du meinst seine Mutter, die Beußerin von Ingelheim?“
Friedrich nickte.
“— dann kommt über mich eine unsagbare Angst. Wenn ich ein Weib sehe, das so macht“ — er hob die flachen Hände in die Höhe — , „dann werde ich verzagt wie ein Kind. Der Tote quält mich nicht. Gott hat mir vergeben. Aber wenn ich von ihm rede, steht mir die Beußerin vor der Seele. Laß mich schweigen.“
Ursula seufzte tief auf. Aber sie faßte ihre Seele und sprach:
„Nun gut, so will denn ich reden. Von meinen Kindertagen will ich dir erzählen. Wären die Kürnbacher Eltern da, so müßte ich sagen: Ich will dir erzählen, was mir dereinst einmal, als ich auf dem Schlosse zu Kürnbach zwischen Vater und Mutter in meinem Kinderbettlein schlief, Wunderliches geträumt hat. Ist es dir recht?“
Friedrich ritt dicht an sie heran, schlang den Arm um ihren Nacken, drückte ihr einen durstigen Kuß in das süße Gesicht und sprach: „Ich bitte dich darum!“
„Laß!“ wehrte Ursula. „Was sollen unsre Gäule denken? Und dort der Mahder über dem Neckar sieht uns und lacht uns aus.“
„Aber in Zwingenberg?“
„Was ist in Zwingenberg?“
„Küsse ich mich satt. Ach! Unsinn! Das gibt es ja nicht. Halber satt ist ganz durstig.“
„Soll ich dir erzählen oder nicht?“
„Ach ja, bitte.“
„Also hat mir’s geträumt. Ich war ein kleines Mädchen und hatte gelbe Lederstiefelchen an. Denn ich sprang über die Steine und durch die Hecken hinter meinem Bruder her. Der war gut einen Kopf größer als ich und hieß Leonhard. Ich faßte ihn, wenn er sich von mir fangen ließ, mit beiden Händen in seinen blonden Locken und ließ mich von ihm den Rain hinaufschleppen. Auf einmal kam unsre Mutter in den Garten, aber nicht meine Kürnbacher Mutter, eine andre, die war viel jünger und, wie mich dünkt, viel schöner. Sie kam in großer Eile und Angst und rief uns zu sich. ‚Wir müssen alsobald fortreiten‘, sagte sie, ‚zum Oheim nach Kürnbach.‘ — ‚Dürfen wir mit?‘ rief ich. ‚Freilich‘, sagte sie. ‚Kommet rasch und trinket Milch!‘ — ‚Wir wollen keine Milch!‘ Aber schon kam eine Magd mit zwei Gläsern, und wir mußten trinken. Die Magd weinte, und wir Kinder waren so lustig.
Nun habe ich ein gutes Stück von meinem Traum vergessen. Meine Erinnerung fängt wieder an mitten im Wald. Wir ritten auf einem schmalen grünen Weg an einem Bächlein hin. Rechts und links ging es den Berg hinauf. Mein Vater ritt voraus. Er war gerüstet, wie ich ihn nie gesehen hatte, mit Harnisch und Helm und hatte ein Schwert an der Seite. Vor sich hatte er meinen Bruder Leonhard auf dem Pferde. Hinter dem Vater ritt meine Mutter. Dann kam der Knecht. Auch er war gerüstet, und er trug mich an der Brust, in seinen Mantel gewickelt. Ich tat mir weh an seiner Harnischschnalle, wachte auf und weinte. Dann klagte ich über Hunger. Meine Mutter reichte eine Flasche her, die voller Milch war, und der Knecht ließ sein Pferd halten und tränkte mich. Die andern waren schon weit voraus. Auf einmal schleuderte der Knecht die Flasche weg und gab seinem Roß die Sporen. Bald hatte er die Vorausreitenden eingeholt und schrie: ‚Sie sind uns auf den Fersen!‘ Nun ritten wir drauflos, was die Pferde laufen konnten. Auf einmal riß meine Mutter ihr Pferd zur Seite, ließ es traben und schließlich im Schritt gehen und klagte und weinte, ich glaube nicht vor Angst, sondern vor Schmerzen. Du, wenn ich mir sie vorstelle, wie sie neben mir die Gartenstufen herunterging, während ich mich an ihrer Schürze festhielt, so vermute ich, daß sie damals hochschwanger war“
„Ist dir dies gewiß?“ fragte Friedrich gedrückt.
Ursula sah ihn forschend an.
„Es hat mir ja nur geträumt“, sagt sie nach einer Weile.
„Fahre fort.“
„Wir waren über sie hinausgeschossen, kehrten aber um, als sie uns nicht nachkam, und ritten langsam zu ihr zurück. Im Nu waren die Verfolger da. Mein Vater und der Knecht zogen die Schwerter. Ich verkroch mich in den Mantel, aber ich hörte das Krachen und Dröhnen und das Sausen der Schwerthiebe. Ein Hieb hat mich verletzt; daher rührt die Narbe, die du kennst, nicht von einem Fall in ein Garteneisen, wie mir meine andre Mutter gesagt hat und wie du von mir vernommen hast.“
„Wie viele waren es, die euch angegriffen haben?“
„Ich habe ihnen entgegengeschaut, wie sie heransprengten. Sie hatten schwarze Gesichter und alte, rostige Rüstung und Wehr, solche, wie sie auch in unsern Speichern ungebraucht und abgetan beim Gerümpel lag und hing. Es waren ihrer viele.“
„Mehr als acht?“
„Sicherlich; etwa dreizehn oder fünfzehn.“
Friedrich atmete auf.
„Weiter!“ sagte er und wich einem Hühnlein aus.
Sie waren an den ersten Hütten von Lindach angelangt.
„Nachher“, erwiderte Ursula. „Jetzt bin ich die Frau des Herrn von Lindach.“
Die meisten Bewohner des Dörfleins waren auf den Wiesen. Alte Leute saßen hier und dort vor den Häusern und hüteten die Kinder, die in den Höfen und auf der Straße spielten. Die Männer lüpften ihre Kappen und standen schwerfällig auf. Die Frauen hielten im Stricken inne und nickten grüßend mit dem Kopf. Man sah es den Leuten an, daß sie ihren Herrn gern hatten und die Herrin willkommen hießen, und Ursula schwoll das Herz.
Das erste Kind, an dem sie vorüberritten, war ein hübscher kleiner Blondkopf von ungefähr sechs Jahren. Ursula ließ ihr Pferd halten, winkte das Kind zu sich heran und reichte ihm ein seidenes Beutelchen.
„Da“, sagte sie, „funkelnagelneue Weißpfennige sind drinnen. Jedes Kind in Lindach bekommt einen. Willst du meine ehrliche Schaffnerin sein und alles schön austeilen?“
Das Kind nickte ernsthaft mit dem Kopf.
„Bekommen die kleinen Kinder auch?“ fragte das Mägdlein.
„Allerdings, die Wickelkinder auch.“
„Aber die großen Buben kriegen nichts?“
„Nein, die großen Buben und die großen Mädchen, die schon bei der Herrschaft arbeiten —“
„Aha, die vierzehnjährigen —“
„Ja, die vierzehnjährigen, die bekommen von mir nichts, denen gibt der Herr etwas wie allen großen Leuten.“
„So?“ lachte Friedrich.
„Und wenn etwas übrigbleibt?“
„Dann gibst du mir’s heute abend zurück. Wir reiten wieder durch Lindach, so um die Zeit, wenn die Sonne untergeht. Hast du alles gut verstanden?“
Das Kind sagte ja und empfing in beide Hände das Beutelchen.
Ein zwölfjähriger Knabe, der dem allen zugesehen hatte, wandte sich vor den Pferden um und sprang wie ein Schnelläufer, die nackten Beine hoch in die Luft werfend, auf der Straße hin gen Zwingenberg.
„Wir werden angemeldet“, sagte Friedrich.
„Wie weit ist es noch?“
„In einer kleinen halben Stunde sind wir dort. Kommst du mit deiner Geschichte zu Ende?“
„Ich bin sogleich fertig. Ich fahre fort, sobald wir das Dorf hinter uns haben.“
„Dort kommt das letzte Haus.“
„Nun also. Ich muß durch den Stoß betäubt worden sein, denn ich weiß nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, rauschte ein Strom. Der Knecht hatte mich auf dem Arm, das Pferd stand daneben. Wir waren auf einem großen breiten Brett. Es muß eine Fähre gewesen sein. Du, jetzt glaube ich ganz bestimmt, daß wir damals über den Neckar gefahren sind.“
„Über den Neckar?“ rief Friedrich betroffen.
„Ja. Die Berge waren gerade wie hier, unten grün und lustig, oben gelb und grämlich. Wir fuhren auf ein Städtlein zu, ich erinnere mich an Mauern und Türme.“
„War ein Schloß auf dem Berge?“
„Davon weiß ich nichts.“
„Und dann?“
„Ich weiß nichts andres mehr, als daß ich dann immer auf der Burg Kürnbach gewesen bin.“
„So müßte jenes Städtchen Gmünd gewesen sein“, sagte der Junker.
„Was geschah mit den andern?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe sie niemals wiedergesehen.“
„Und der Knecht?“
„Ich vermute, daß er in jenem Kampfe eine tödliche Wunde davongetragen hat. Denn ich erinnere mich noch, daß mich meine neue Mutter in eine Kammer brachte. Es war ein Bett an der Wand, darinnen lag der Knecht und hatte einen roten Kopf. Er begehrte, daß man mich zu ihm ins Bett lege. Das tat meine neue Mutter und weinte. Er rührte sich nicht, aber sah mich in einemfort an und lachte. Ich sehe noch heute seine weißen Zähne und seinen schwarzen Schnurrbart. Auf einmal schnappte er nach Luft und verdrehte die Augen und lag ganz stille da. Er sah so wunderlich aus, daß ich zu weinen anfing. Meine Muhme kam her, sah ihm ins Gesicht und erschrak. Dann nahm sie mich schleunigst aus dem Bett und trug mich zum Zimmer hinaus.“
„Hast du nie etwas von deinen Eltern gehört?“
„Gehört nie; aber gesehen habe ich sie an der Wand. Mein zweiter Vater hat sich von einem Maler aus Weilderstadt einen Stammbaum seines Hauses abschildern lassen in Gestalt einer großmächtigen Eiche. Du weißt, er war der letzte männliche Zweig des Geschlechtes. Seit er die Augen geschlossen hat, bin ich die einzige meines Stammes. Ganz oben am Ende der Baumkrone ist er gemalt als grüner Zweig, der in eine dürre Spitze ausläuft. Unter seinem Namen steht der seiner Gattin; ein einziges Blättchen entsprießt diesem Zweige, das bin ich. Daneben aber wächst noch ein anderer Zweig, ein jüngerer, aus dem elterlichen Holze heraus: das ist mein wirklicher Vater.“
„Wie war sein Name?“
„Otto von Sternenfels. Meine Mutter hieß Luitgard von Ehrenberg. Was ich da habe“ — Ursula fuhr sich mit der Hand über die Brauen und Augen — „das ist ehrenbergiseh.“
„Die drei Sterne der Sternenfeise und der Sporn der Ehrenberge finden sich mehrmals in den Wappenschildern meiner Ahnfrauen; doch erzähle zu Ende.“
„Nach dem Stammbaum ist diesem Ehebund ein einziges Kind entsprossen, ein Sohn; der hieß Leonhard. Daneben war dereinst noch ein Blatt gemalt — die Blätter bedeuten die Mädchen — , aber das Blatt ist später ausgekratzt worden wie auch der Name, der darauf stand. Das bin ich gewesen. Nach dem Tode meiner Eltern hat mein Oheim das Blättchen versetzen lassen an seinen eignen Zweig. So bin ich, die Letzte meines Geschlechtes, völlig um meine lieben Eltern gekommen.“
„Hast du nie deinen Oheim zur Rede gestellt?“
„Doch, kurz bevor du um mich geworben hast. Er war so leidlich wiederhergestellt. Da sagte ich ihm einmal, als wir miteinander seiner Frauen Grab besuchten: ‚Warum erzählst du mir nie von meinem Oheim Otto und meiner Muhme Luitgard und meinem Vetter Leonhard?‘
‚Da ist nichts zu erzählen‘, erwiderte er heftig. ‚Sie sind sehr früh gestorben, als du noch ein kleines Kind warst.‘
‚Es muß doch etwas zu erzählen sein‘, fuhr ich fort, ‚denn sie sind alle drei an einem und demselben Tag gestorben.‘
Da winkte er mir mit der Hand, daß ich schweigen solle, und zitterte am ganzen Leib. Ich habe niemals mehr die Rede darauf gebracht.“
„Woher wußtest du denn das, was du deinem Oheim sagtest, daß alle drei an einem Tage ihr Ende gefunden haben?“
„Vergib, ich vergaß, dir dies zu erzählen. Hinter jedem der drei Namen stand ein Kreuzlein und dabei das Datum ihres Todes. Bei allen dreien war es derselbe Tag und derselbe Monat und dasselbe Jahr.“
„Sag ihn an!“ rief Friedrich und schaute in der größten Spannung sein Weib an.
„Der achte April.“
„Also die Osterzeit!“ sagte Friedrich leise.
„Ja. Ich erinnere mich deutlich, daß ich an jenem Tage mit meinem Brüderchen Leonhard die ersten Veilchen gesucht hatte. Eine weite Strecke des Wegs hielt ich das Sträußchen in der Hand. Als ich es verloren hatte, schrie ich so heftig, daß der Knecht abstieg und mir große Waldveilchen brach. Habe ich dir’s nicht erzählt?“
„Und nun noch das Jahr“, sagte Friedrich. Sein Wort klang mehr wie ein düsterer Abschluß, als wie eine Frage der Wißbegierde.
„Anno 1589.“
Des Junkers Hengst sprang auf die Seite. Friedrich hatte sich hoch aufgerichtet und sah in die Wiesen hinüber. Er ritt fort, ohne zu bemerken, daß sein Weib stillhielt.
„Friedrich!“ rief sie ihm nach. Er wandte sein Pferd und ritt langsam zurück. Sein Gesicht war sehr bleich und sehr ernst, seine Haltung war straff. Mit unsäglicher Traurigkeit und in überströmendem Erbarmen sah er sein Weib an.
„Friedrich!“ rief sie ihm entgegen, „siehe, die Kinder von Zwingenberg wollen uns grüßen.“
Im grünen Eingang einer Schlucht stand ein Häuflein von Knaben und Mädchen. Sie schwenkten grüne Maien und riefen um die Wette:
„Heil dir, lieber Herr! Heil dir, liebe Frau!“ Dann stellten sie sich in eine Gruppe und sangen Johann Heermanns schönes Lied:
„Mit Jesu fangʼ ich an,
Mit Jesu will ich enden;
Was ich nur immer tu’,
Wohin ich mich mag wenden,
Soll meiner Augen Ziel
Nur einzig Jesus sein:
In meinem Herzen nichts
Als Jesus wohn’ allein.“
Friedrich hatte die Hände gefaltet und saß andächtig im Sattel, als der Gesang schon eine Weile zu Ende war.
„Der Herr dankt euch“, sagte Ursula freundlich zu den Kindern. „Ich freue mich, daß ihr euern Herrn so liebhabt und daß ihr so schön singen könnt.“
Sie winkte ein Mädchen zu sich heran.
„Was hast du in deinem Körbchen?“
„Eier! Unsre Hühner haben ausgelegt; sie fliegen alle Morgen in die Wolfsschlucht und verlegen ihre Eier. Aber wir haben alle sieben gefunden.“
„Weisʼ einmal her.“
Das Kind hob das Körbchen in die Höhe.
„Frischgelegte Eier! Wer von euch Buben hat ein Messer im Sack?“
Drei hoben den Finger in die Höhe und riefen: „Ich!“
„Wessen Messer ist am saubersten?“
Zweie der Knaben schauten sich verlegen an. Der dritte aber war wie der Blitz in das rieselnde Bächlein gesprungen, wusch die Klinge seines Messers und rief während dieses Geschäftes: „Meines ist das sauberste!“
„Auf jeden Fall bist du der fixeste.“
Der Knabe brachte das Messer. Die Schneide blinkte wie Fensterglas in der Abendsonne.
Ursula sah das Bübchen aufmerksam an.
„Bist du nicht der Schnelläufer, der von Lindach hierher gesprungen ist?“
Der Knabe nickte stolz mit dem Kopf.
„Bist du von Lindach oder von Zwingenberg?“
„Ich bin von hier. Wir wohnen oben gerade vor dem Schloß, seit unser Haus abgebrannt ist.“
„Ihr armen Leute! Euer Haus ist abgebrannt?“
Der Knabe nickte betrübt mit dem Kopf, und in dem Tone, in dem man zu sagen pflegt: „Selten kommt ein Unglück allein“, fügte er hinzu: „Wir haben daheim auch noch ein kleines Wickelkind.“
„Oh! Das will ich sehen! Sage deiner Mutter, ich besuche euch heute. Und nun nimm dein Messer und köpfe ein Ei. Kannst du es tun?“
„Oh gut!“
„Nun komme du, mit der blauen Jacke, halte das geköpfte Ei.“
„Und du mit dem Messer, wie heißest du noch?“
„Lips!“
„Lips, du machst es mit einem zweiten Ei geradeso.“
„Junker Hirschhorn!“ rief sie ihrem Gatten zu.
Er war rastlos im Schritt auf und nieder geritten.
„Wir nehmen jetzt die beiden Eier. Das sind unsre Becher. Mit denen stoßen wir an, und trinken sie aus auf alle Kinder in Zwingenberg.“
Die Kinder schauten lachend zu.
„Nun aber müssen wir auch unsre Zeche zahlen, lieber Herr. Was kosten die Eier?“
„Die kosten nichts.“
„Ich gebe dir für jedes einen Weißpfennig.“
„Das ist zuviel“, sagte das Mädchen. „So teuer sind sie nicht.“
„Nimm nur! Und halte dein Körbchen her.“
Sie schüttelte den Inhalt des grünseidenen Beutelchens über die Eier und legte dann das geleerte darüber.
„Verteile das unter die Kinder in Zwingenberg. Das Beutelchen selber gehört dir.“
„Wie sollen wir’s verteilen?“ fragte das Mädchen.
„Wie ihr wollt“, sagte Ursula traurig. „Fragt euern Lehrer.“
Sie winkte den Kindern Abschied zu und ritt zu ihrem Gatten. Je länger sie mit den Kleinen gesprochen hatte, desto mehr drückte sie die unbezwingliche Schwermut ihres Gemahles, die sie fühlte, obgleich sie ihn nicht ansah.
Sie ritt dicht an seine Seite und sagte zu ihm:
„Ich habe dir noch etwas zu erzählen, das wird dich sicherlich froh machen. Ich weiß es ganz gewiß.“
Ihre Augen strahlten.
„Ich sag’ es dir, wenn wir allein sind. Heute noch, und hier noch. Zuletzt kommt das Beste.“
„Das Beste?“ fragte er langsam und sah sein Weib traurig an.
Sie ritten unter der Burg hin längs der Straße, an deren Bergseite sich die Hütten an die Felsen lehnten, während der andre Rand vom Neckar bespült wurde. Gegen Ende des Dorfes bogen sie in den Burgweg ein und hatten nun zu ihrer Linken die Hinterseite der Häuser oder kleine, niedrige Hütten, die davor gebaut waren, zur Rechten aber den steil aufsteigenden felsigen Berg.
Die Pferde schritten rüstig aus, und die Reiter kamen rasch in die Höhe.
„Ist es nicht schön hier?“ fragte der Junker sein Weib.
„Sehr schön, aber in Hirschhorn ist es schöner.“
„Oh sieh doch, wie der Wald hier so groß steht, und er steigt hinauf bis über die Gipfel der Berge. Solchen Wald hat niemand weit und breit. Schau zurück, wie der Neckar dahereilt zwischen den knappen grünen Wiesen und wie er nun im herrlichen Bogen geht, und dann entgleitet und flutet er in die tiefe Einsamkeit des Waldes hinein. Hier habe ich die schönsten Tage meiner Kindheit erlebt. Dort drüben habe ich den ersten Auerhahn erlegt.“
„Wie alt warst du da?“
„Zwölf Jahre alt“, sagte Friedrich nach einer Pause. „Es war im Frühling 1589.“
Ein Schatten flog über sein Gesicht. Ursula biß sich auf die Lippen.
Da dröhnten rasch hintereinander drei Schüsse von den drei Kartaunen auf dem Wall.
„Wir sind da!“ rief Friedrich. Seine Stirne war wieder klar, und seine Augen leuchteten.
„Siehe da, das liebste unter all meinen Häusern!“
Zwischen dem Gebüsch der Abstürze treten nackte Felsen mächtig hervor. Von wildem Walde umwogt, ruht Schloß Zwingenberg auf stolzem Gesims. Düster und drohend blickt es herab, unheimlich wie sein Name.
„Heil der Herrin von Zwingenberg!“ rief Friedrich, als sie in den Schloßhof ritten.
Er reichte dem Burgvogt die Hand, stieg ab und hob sein Weib aus dem Sattel.
„Laß sieden und braten!“ rief er munter. „Der Imbiß von Eberbach liegt lange hinter uns. Wir haben Hunger und Durst!“
„Und nun sieh, Ursula! Der neue Torbau! Und hier die Schnecke! Ist die nicht zierlich? Nun geht es in den innersten Hof. Schau einmal den Brunnen! Gefällt er dir nicht? Ist das Traubengehänge nicht schön um die Muschel herum? Das hat ein Gipskünstler aus Heidelberg gemacht. Und sieh, hier ist das Meer und nebendran das Morgenland. Sieh, der Walfisch speit gerade den Jonas aus. Ich weiß nicht, wer mehr zu bedauern war, der Fisch oder der Prophet. Gefällt dir es nicht? Sieh, das habe ich mir selbst so alles ausgedacht.“
„Es ist hier stattlich und stolz“, sagte Ursula, „aber so finster und so kalt. Kein Sonnenstrahl kommt in diesen Hof.“
„Oh, die Burg hat auch sonnige Stuben. Wir gehen jetzt die Schnecke hinauf und sehen uns alles an. Hier herein gehen wir zuletzt, denn da speisen wir. Hier ist das Schlafzimmer, ist das nicht hell und luftig? Schau doch, da schauen wir in die Wolfsschlucht hinunter.“
„Oh, ist die wild!“
„Ja, herrlich wild! Im Winter kommen die Wölfe in Rudeln da herunter. Schier aus dem Bette können wir sie schießen.
„Ja, kommen sie hier herein? Ich danke.“
„Nein! Aber wir rücken unsre Betten an das Fenster, zwischen uns legen wir ein geladenes Gewehr.“
„Ich danke.“
„Warum denn nicht? Und wenn wir des Morgens aufwachen, schauen wir schnell zum Fenster hinaus und schießen einen Wolf. Oh, die Jagd! Die Jagd! Hier wird mein Weib eine Jägerin!“
So redete er sich immer mehr in eine aufgeregte Heiterkeit hinein, und alles, was er sagte, verriet die Absicht, ihr den Aufenthalt in Zwingenberg ins hellste Licht zu stellen.
Als sie auf der Zinne des Bergfrieds standen, zeigte er ihr alle Teile der Burg und ihrer Wehre, dann breitete er die Arme aus und rief: „Alles, was du schaust, ist dein und mein.“
„Der Himmel nicht“, erwiderte sie.
„Der ist Gottes“, sagte er und ergriff ihre Hand. „Darum ist auch der Himmel dein und mein.“
Er wartete auf ihre Antwort. Als sie schwieg, sagte er: „Weißt du, was ich möchte?“
„So sprich es doch aus.“
„Wir wollen hier wohnen.“
Ursula schüttelte leise den Kopf und antwortete: „Hirschhorn ist mir lieber.“
„Was mangelt meiner Liebsten hier?“ fragte er innig.
„Die Mutter“, sagte Ursula leise.
Friedrich gedachte, wie sie in der vergangenen Nacht das Wort Mutter aus dem Graben herauszulocken suchte.
„Auch der Hirschhorner Zwinger antwortet nicht immer.“
„Aber seine Antwort schläft nur. Es kommt auch einmal wieder eine Nacht, wo es Mutter ruft aus dem Graben herauf.“
„Und hier antwortet dir der Felsen, so oft du willst. Ich habe das Echo noch nicht erprobt, aber was gilt’s, es ist da?“
„Der Fels ist zu nahe, und der Berg ist zu düster.“
„So versuche es doch! Rufe!“
„Hier nicht.“
„So will ich es tun: ‚Mutter!‘“
Das Wort verklang hart und kurz. Kein Widerhall kam vom Felsen. Da schlang Ursula ihre Arme um den Gatten und sagte:
„Wir wollen hierherziehen. Wo du fröhlich bist, da bin ich gern.“
Er preßte sie an die Brust. „Und nun sag mir noch die gute Kunde, die du mir verheißen hast.“
„Hier nicht“, erwiderte sie ängstlich. „Die Sonne geht hier so rasch hinter den Berg, das ist schlimm. Wir sind ganz im Schatten, und der Schatten ist hier so dunkel wie nirgends. Sieh, das Tal liegt noch breit in der Sonne; es ist noch zwei Stunden lang Tag, und hier ist es schon Abend.“
„Zu Tisch! zu Tisch!“ rief die Stimme des Burgvogts aus der Tiefe.
„Zu Tisch!“ wiederholte Ursula. „Heute bin ich noch Gast, das nächstemal bin ich Hausfrau.“
Die Tafel war fröhlich. Der Burgvogt, der Lehrer, der Schultheiß von Zwingenberg und der Geracher Pfarrherr nahmen daran teil. Es gab Fische und Wildbret und Hühner. Der Wein aus dem Burgkeller, roter Himmelreicher von Gundelsheim, war köstlich.
„Es ist ein katholischer Wein“, sagte Friedrich und stand vom Stuhle auf. „Die deutschen Herren von Horneck haben ihn gebaut. So trinken wir mit diesem Wein die Gesundheit Seiner Kurfürstlichen Gnaden des Erzbischofs von Mainz, der mir allezeit ein gnädiger Herr gewesen ist, wie ich ihm allezeit ein treuer Lehensritter bleibe bis an meinen Tod.“
Darauf ließ er sich und den andern die Becher von neuem füllen und rief: „Meiner herzlieberi Hausfrau, der Herrin von Zwingenberg!“
Die Tafel war aufgehoben. Der Ritter ging mit den Männern in die Ställe. Die Rosse wurden aufgeschirrt und stampften ungeduldig im Burghof, denn auch sie hatten eine gute Mahlzeit getan. Ursula sann über ihr süßes Geheimnis, und sie überlegte, wie sie es ihrem Gatten mitteilen solle. Da gedachte sie an das Wickelkind, von dem ihr der kleine Lips erzählt hatte.
„Ich gehe in eines der nächsten Dorfhäuser“, sagte sie zum Torwärtel, „und ich lasse den Herrn bitten, daß er mir nachfolge, aber allein.“
Sie ging über die Brücke und fragte einige Kinder, die sie mit großen Augen anschauten: „Wo wohnt euer Spielgeselle, der Lips?“
„Der wohnt hier“, sagten sie und wiesen auf die nächste Hütte.
Ursula klinkte an der Türe; sie war verschlossen. Sie sah durch das Fenster; niemand war in der Stube. Nun ging sie um die Hütte herum in das kleine Gärtchen, das zwischen Haus und Felsen lag. Da fand sie ein junges Weib, das auf der Hausstaffel saß und ihr Kind stillte. Die Mutter hatte ihr Haupt vorgebeugt und sah auf ihren Säugling nieder. Ursula sah den schneeweißen Nacken mit Verwunderung an, denn sie hatte noch nie auf dem Dorf eine solche Haut gesehen. Sie trat näher und sah die blendende Brust und das gierig saugende Kind und ein rosiges Gesicht, das von Mutterfreude verklärt war.
Da sah das Weib auf, und Ursula wunderte sich, ein so blutjunges Ding zu sehen.
Die Wöchnerin blinzelte die Edelfrau scheu an, dann schaute sie lächelnd auf ihr Kind hernieder.
„Du bist doch nicht die Mutter des kleinen Lips?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Seine Schwester bin ich.“
„Wo ist dein Mann?“
„Ich habe keinen Mann.“
„Ach!“ rief Ursula und trat zurück. Sie versuchte eine strenge Miene zu machen. „Aber du wirst doch hoffentlich bald einen Mann bekommen? Dein Bräutigam wird dich doch heiraten?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Warum denn nicht?“
„Weil er tot ist.“
„Oh du Ärmste!“ rief Ursula, und sie setzte sich neben das junge Weib, um das holde Bild des trinkenden Kindes besser zu schauen.
„Seit wann ist er tot?“
„Seit dazumals.“
„Was meinst du damit?“
„Ha!“ sie lachte und beugte sich tiefer auf ihr Kind herab.
„Wer war er denn?“
„Ich weiß nicht.“
„War er von hier?“
„Nein.“
„Woher war er?“
„Ich weiß nicht.“
„Wie hieß er?“
„Ich weiß nicht.“
„Wie, du weißt das alles nicht?“
„Nein; er ist mir zu schnell verbrannt.“
„Verbrannt!“ rief Ursula entsetzt.
„Ja, als unser Haus verbrannt ist.“
„Da war er bei dir?“
„Freilich.“
„Zum erstenmal?“
Das Mädchen nickte mit dem Kopf.
„Seit wann hast du ihn gekannt?“
„Seit einer halben Stunde.“
„Du bist ein böser Balg!“ sagte Ursula entrüstet.
„Hast du genug, liebe Magd?“ plauderte das Mädchen in seinen Schoß hinein. „Willst ein bißchen ausruhen? Komm, komm, es ist noch Futter da!“
Der Edelfrau traten die Tränen in die Augen. Sie hatte Mitleid mit dem verwahrlosten Geschöpf.
„Wie konntest du nur so gottlos handeln?“ fragte sie mit ernstem, mildem Ton.
Das Mädchen schaute verwundert auf, wie wenn es nicht begriffe.
„Ich bin von der Wiese heimgegangen“, erzählte sie, „da kam er hinter mir her, und wir hatten unsern Spaß miteinander, und er gefiel mir so gut. Da nahm ich ihn mit. Als er bei mir war, schrie es ‚Feuer!‘ vor meiner Kammer. Alles stand in Flammen. Ich sprang hinaus und rettete mich. Er machte zu lang und fand die Türe nicht im Qualm und ist verbrannt.“
„Entsetzlich!“ sagte Ursula. Sie schüttelte den Kopf. Dies Mädchen war ihr ein Rätsel. „Und du kannst leben und lachen?“ fragte sie vorwurfsvoll.
„Ich habe mein Kind!“ sagte das Mädchen und lachte hellauf.
„Und vorher warst du brav?“
„Immer. Gott weiß es.“
„Und nachher?“
„An mich kommt keiner mehr heran“, sagte sie und warf trotzig den Kopf in die Höhe. „Wozu denn auch? Ich hab’ ja mein Kind, mein Kind!“
Sie flüsterte es, aber jubelte dabei.
Ursula traten die Tränen in die Augen.
„Zeig mir dein Kind.“
Die Kleine war eingeschlafen. Sie kugelte auf den Rücken und lag in der Mutter Schoß. Es war ein herziges Dirnchen. Aber wie erschrak Ursula, als sie ins Gesichtchen schaute. Über dem rechten Auge hatte das Kind ein Muttermal. Es war eine rote, gezackte Flamme, die von unten nach oben emporschlug, über die ganze Stirne hinauf.
„Der Feuerruf hat mein Kind gezeichnet“, sagte das Mädchen.
„Nein“, erwiderte Ursula heftig, „der Flammenschein.“
„Das muß ich am besten wissen“, sagte die Dirne und wurde blutrot. „Der Feuerruf vor meiner Kammertür ist es gewesen.“
Ursula lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und verzog schmerzlich den Mund. Derweilen tändelte das Mädchen mit dem Kinde. Nach einer Weile fing Ursula an:
„Stell dir einmal vor — wie heißest du doch?“
„Ursa.“
„Ursa?“
„Eigentlich Ursula.“
Die Edelfrau zog die Brauen zusammen.
„Aber er hat gesagt, ich müßte eigentlich Ursa heißen.“
„Weißt du, was Ursa heißt?“
„Ja. Von ihm. Die Bärin.“
Das Mädchen lachte hellauf.
„Also, Ursa, stelle dir einmal vor, dein Bruder, der Lips, den du liebhast“ — die Dirne nickte mit dem Kopfe — , „der Lips wäre in jenem Augenblick ertrunken und du hättest statt des Feuerrufs deines Bruders Todesschrei gehört, was wäre dann mit deinem Kinde geschehen?“
„Dann hätte meines Bruders Todesruf mein Kind gezeichnet.“
„Wie ist ein Kind, das also gezeichnet ist?“ fragte Ursula leise.
„Was weiß ich?“ rief das Mädchen.
„Ach, da bist du ja“, rief der Junker in diesem Augenblick. „Welch holdes Bild! Hier willst du mir künden, was du mir Köstliches vorbehalten hast? Es gibt keine heiligere Stätte.“
„Nein, hier nicht“, sagte Ursula hastig. „Draußen, wenn wir alleine sind. Wir wollen fort. Zu Pferd!“
Friedrich folgte kopfschüttelnd seiner vorauseilenden Gattin nach.
Die Sonne schickte sich zum Untergang, als die beiden Gatten nebeneinander durch Lindach trabten. Die Straße leuchtete vor ihnen wie Gold, und der Neckar dichtete im Dahinfluten ein wunderbares Gedicht von Erdenherrlichkeit und Himmelsglanz.
An dem letzten Hause von Lindach hielt eine große Kinderschar.
„Wir danken schön! Wir danken schön!“ riefen sie den Reitern entgegen.
Sie hielten ihre Rosse an.
„Die Kinder in Zwingenberg“, sagte der Junker zu den aufhorchenden Kindern, „die haben uns ein gar schönes Lied gesungen: ‚Mit Jesu fang ich an, mit Jesu will ich enden.‘ Könnt ihr uns auch ein Lied singen?“
Die Kinder schwiegen. Endlich rief eines: „Wir können nur ein einziges gut; das singen wir, wenn man die Leut’ vergräbt.“
„Danke schön!“ lachte der Ritter.
Nun trat das Mägdlein vor, dem Ursula das Beutelchen gegeben hatte. Das Kind hatte aus beiden Händchen ein Schüsselchen gemacht, das war angefüllt mit Silberlingen.
„Zweiundvierzig Weißpfennige sind übriggeblieben“, sagte es. „Da!“
„Was machen wir nun damit?“ sagte Ursula. „Ich habe kein Beutelchen mehr. Weißt du was? Du bringst die Weißpfennige dem Schultheißen von Lindach und sagst ihm einen Gruß von mir und er solle den Lindacher Kindern Brezeln backen lassen, drauf und drein, bis das Geld alle ist.
„Das ist recht“, rief ein Knabe.
„Wenn du nur hohe Stelzen hättest, daß ich dir einen Kuß geben kann“, sagte die Frau.
„Die Stelzen sind da“, rief ihr Mann und sprang vom Pferd. Er wollte das Dirnchen in die Höhe heben, aber es schaute verlegen in seine Händchen hinein und wußte nicht wohin mit seinem Reichtum.
„Komm!“ rief ein Bube und hielt eine Mütze unter.
Das Mädchen schüttelte sein Schüsselchen aus. Dann wurde es zu der Frau hinaufgehoben, schlang seine Ärmchen um ihren Nacken und gab ihr einen langen, langen Kuß.
Der Ritter dachte, es sei nun genug, und setzte die Kleine ab.
Da rief Ursula: „Nun schaut, Kinder, was ich jetzt mache!“
Sie beugte sich nieder, schlang ihre Arme um den Hals ihres Gatten, sagte zu ihm: „Du lieber, lieber Junker!“ und gab ihm einen langen, langen Kuß. Der wollte schier kein Ende nehmen.
„Das ist schön!“ rief eines der Kinder. Ein andres rief: „Hui! Hui!“
Endlich löste Ursula ihre Lippen von dem Mund ihres Mannes, hielt sie ihm an das Ohr und flüsterte:
„Du bist nicht mehr der einzige lebendige Hirschhorn.“
Da schwang er sein Barett und jauchzte: „Ursula!“
„Ursula! Ursula!“ jubelten die Kinder hinter den Enteilenden her.
Schweigend ritten die Gatten durch den verglimmenden Abend gen Hirschhorn zu.
Als sie dem Dörflein Pleutersbach gegenüber waren, klang eine singende Männerstimme über den dunkel gewordenen Fluß. Sie hielten die Pferde und lauschten. Jedes Wort war zu verstehen:
„Mein liebes Herz,
Was ist mit dir?
Auch du hast keine Ruhʼ
Es quillt in dir,
Es schwillt in dir,
Es welkt und blüht,
Es friert und glüht,
Du bist bald traurig,
Bist bald froh.
Was ängstigt dich?
Was quält dich so?
Ach, was mir fehlt und was ich will,
Und was mein Sinn und Wunsch und Ziel,
Ich selber kann’s nicht sagen.
Es preßt und engt,
Treibt mich und drängt
Ohn’ Rast und Ruh’;
Weiß nicht wozu.
Es müht mich und zieht mich;
Weiß nicht wohin.