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Während der alte Fuchs blinzelnd seinem Söhnlein zuhörte, das mit großen Gebärden von seiner Heldentat erzählte, vergoß einige hundert Schritt weiter oben der Brummbaß von Affolterbach dicke Schweißtropfen. Er blieb stehen, beugte sich vornüber und stemmte die Hände auf die Knie. Der Bauch der Baßgeige lag über seinem Kopf, und ihr Hals hob eine entwurzelte Hainbuche aus dem zerbröckelten Boden.

Die Viola, die mit langen, dünnen Beinen die Waldhalde heraufgestiegen kam, lachte aus vollem Hals und rief in die Büsche zurück: „Guckt einmal, was unser Brummbaß für Kunststücke macht!“

Der Brummbaß schielte zurück nach seinem Rücken und klagte: „Einen ganzen Wald schlepp’ ich den Berg hinauf. Ich sag’s ja immer, wo viel ist, will viel hin. Du, Posaune, wo ist denn die Burg?“

„Die Posaune ist nicht da.“

„Findebusch, Kind, wo ist denn die Burg?“

„Findebusch ist nicht da.“

„Wenn nur Findebusch da wäre, daß mir doch ein ehrlicher Mensch die Augen zudrückt. Wenn die Burg nicht gleich kommt, sterbe ich.“

„Meinst du denn, die Burg käme zu dir? Wenn du da stehen bleibst, muß der Junker seine Urschel ohne Brummbaß nehmen.“

Die gutmütige Viola trat heran und fing an, das Bäumchen aus den Saiten zu lösen.

„Schade!“ rief der Pfeifer herauf, der neben dem Geiger gemächlich hintennach stieg.

„Schade?“ greinte der Brummbaß und schaute erbost zurück. „Der sähe es gern, wenn ich unter einem Eichbaum läge.“

„Sag lieber: ‚Wenn ich an einem Eichbaum hinge!‘ Wo wir gehen und stehen, sollten wir einen Baum bei uns haben, damit sich jeder, der Lust hat, ohne Umstände aufhängen kann.“

Der Pfeifer hatte eine harte, barsche Stimme. Er schien der Oberste in der Gesellschaft zu sein.

Unterdessen hatte die Viola die Zweige zwischen den Saiten herausgehoben und legte das Bäumchen vorsichtig auf den Boden, wie wenn es ein totes Kind wäre. Dann trat der Geselle zu dem weiterkeuchenden Brummbaß, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Du, warum soll denn ich dir nicht einmal die Augen zudrücken?“

Der Brummbaß schaute den Frager erbost an.

„Du mir? Ich werde sie dir zudrücken, ob Gott will!“

Der Pfeifer und der Geiger waren nun herangekommen.

Die beiden andern blieben stehen und fragten eines Mundes: „Nichts?“

„Nichts!“ erwiderte der Pfeifer. „Sie muß doch auf dieser Seite liegen. Hätten die beiden andern sie gefunden, so hätten sie schon gerufen.“

„Findebusch und die Posaune, wo sind sie denn?“ fragte der Brummbaß.

„Ich habe sie rechts hinübergeschickt, Ausguck zu halten“, antwortete der Pfeifer und stieg rüstig aufwärts.

„Ich fürcht’, wir kriegen heute noch etwas aufs Dach“, meinte der Geiger. „Die Sonne sticht und es ist dunstig.“

„Und wenn es Katzen hagelt, wir müssen gleich nach Mitternacht abfahren, denn morgen früh um sechs Uhr müssen wir dem Zehntrechner in Kirchheim aufspielen.“

„Abfahren?“ fragte die Viola. „Schickt uns der Zehntrechner ein Wägelein?“

„Mit dem Schiff. Wir fahren den Neckar hinunter und wenn es donnert, daß dem Petrus die Schwarten krachen.“

„Wenn es donnert, kriech’ ich am liebsten in einen Kuhstall“, greinte der Brummbaß. „Beim unvernünftigen Vieh ist man am besten aufgehoben, denn das flucht nicht.“

„Warum müssen wir denn ums Verrecken morgen früh dem geizigen Zehntschreiber zum Kirchgang spielen? Hätt’ er nicht dem Federvieh absagen können? Bei des Junkers Hochzeit sollte man sich doch gründlich auslustieren, und jetzt müssen wir davon, wenn es am schönsten ist.“

Niemand gab der Viola Antwort. Der Brummbaß blieb ein wenig zurück und raunte dem Frager zu: „Er freit um des Zehntschreibers Schwester.“

Dabei winkte er mit dem Kopf nach dem Pfeifer hinüber, sah aber bei seinem scheelen Blick dabei aus wie ein stößiger Widder, verwickelte sich mit dem linken Fuß in eine Wurzel und fiel vornüber gestreckten Leibs in einen Haselbusch.

Der Geiger schaute zurück und lachte hellauf.

„Alles macht Hochzeit“, rief er. „Der Junker mit der Ursula, der Zehntschreiber mit der Urschel, der Buchbaum mit der Baßgeige, der Brummbaß mit der Hasel.“

„Und der besoffene Geiger mit dem Misthaufen!“ schrie der Brummbaß grimmig und rappelte sich mühselig auf. Die Viola half ihm dabei.

„Wenn nur der Findebusch da wäre!“ jammerte der Brummbaß.

„Ich helfe dir ja. Ist das nicht geholfen, wenn ich es tue?“

„Ach, wenn nur das Kind da wäre, damit ein Ehrenmann bezeugen kann, wie ich schwitze!“

Um den Brummbaß zu ärgern, fing der Geiger zu singen an:

„Am Himmel glänzt ein heller Stern,

Ju, ja, heller Stern,

Bei meinem Schatz da lieg’ ich gern,

Ju, ja —“

Wie’s Wetter war der Brummbaß bei dem Sänger, hielt ihm mit seiner breiten Tatze den Mund zu und rief in hellem Zorn:

„Schweig still, du wüster Igel! Sing deine Schandlieder auf dem Privet und halt dein Maul dazu! Du bist so voller Schweinerei, wie meine Geige voller Baß. Wenn nur ein Funke Gottesfurcht in dir wäre, müßtest du dich der Sünde fürchten, das Kind zu verderben. Das Kind! Wo bleibt es nur? Findebusch!“

„Dort kommt die Posaune“, rief die Viola. „Da ist die Trompete auch nicht weit. Wo ist Findebusch?“

„Nichts gesehen?“ fragte der Pfeifer den Heraufkletternden.

„Nichts! Die Burg muß hier oben sein.“

Dann wandte er sich der Viola zu und sagte: „Findebusch hat zu schaffen. Er hat ein Füchslein auf einen Ulmer Hafen gesetzt, und jetzt besieht er das Wasser.“

Die Posaune hatte sich zu den andern gesellt, und die fünf Männer gingen durch den Niederwald dem nahen Höhenrande zu.

Plötzlich blieben alle stehen wie auf einen Schlag.

„Was war das?“ fragte der Geiger.

„Wenn wir nicht mitten im Walde wären“, meinte die Posaune, „würde ich sagen, es sägt einer ein Brett.“

„Es war vielleicht ein Specht. Still!“

Man hörte wieder den singenden, knirschenden Ton, und ganz in der Nähe.

„Kein Zweifel“, sagte der Pfeifer. „Dort oben ist eine Säge und ein Brett.“

„Und eine Hobelbank und ein Schreiner“, fuhr die Posaune fort.

„Woher weißt du, daß es ein Mensch ist von Fleisch und Blut?“ sagte der Geiger ängstlich. „Vielleicht ist es der Lindenschmitt. Der geht um hierzuland.“

„Der Reitersknab’?“ antwortete die Viola. „Was hat das mit der Säge zu tun? Soeben fallen die Bretter, hört ihr nicht?“

„Gehen wir drauflos“, entschied der Pfeifer, und die Männer stiegen in einer Reihe den letzten Rain hinauf.

„Wäre nur das Kind da!“ klagte der Brummbaß. „Vor dem Findebusch weicht jeder Spuk.“

„Was er wohl machen mag?“ fragte der Geiger, der wieder Mut bekommen hatte. Er gab sich selbst die Antwort. „Was anders als ein Ehebett, oder gar eine Wiege, oder — oh, ich weiß —“. Er brach in ein wieherndes Gelächter aus. „Er macht — einen —“

Sein Einfall erstickte ihn fast durch den Haufen Gelächter, worin er sich wickelte.

„So hör doch auf und sag’s!“ rief die Posaune.

„Er macht — einen —“

Eine neue Flut kreischenden Gekichers.

Die andern waren auf die Höhe getreten und standen still und unbeweglich.

Jetzt kam auch der lachende Geiger nach. Auch er verstummte. Sein freches Gesicht wurde bleich. Seine Augen wurden groß und größer und bekamen einen angstvollen Schein. „Er macht einen Sarg“, sagte er leise.

Die Männer standen am Rande einer weiten Lichtung, die sich, an den Seiten und im Rücken von Hochwald umgeben, über den Kamm des Höhenzuges hinzog. Auf dem mit Waldgras überwachsenen Boden standen einzelne hohe Föhren. Unter der nächsten und größten war eine Hobelbank zu sehen. Auf ihr und um sie herum standen und lagen alle möglichen Werkzeuge und Gerätschaften der Schreinerei. Mehrere zurechtgesägte Bretter lagen auf dem Boden, hinter dem Baum lehnte ein Bord am Stamm, noch in seiner ganzen Länge, mit rindigem Rand. Weiter vorn aber, dicht vor den Musikanten, lag Sarg an Sarg im hohen Gras.

Als die Männer auf die Höhe traten, wurde gerade das Bord vom Boden gehoben, leicht, als ob es ein Pfahl wäre, auf eine schlanke Schulter geworfen, über die Hobelbank gelegt, und eine jugendliche Gestalt beugte sich darüber, setzte die Säge mit Sorgfalt an und sägte. Die wirren blonden Haare fielen über die Stirn in das Gesicht hinein und bedeckten es, so daß nur die bleichgelbe und magere Wange zu sehen war. Vom Hals bis zu den bloßen Füßen hing ein langer, weiter Rock herunter, der mit mehr denn hundert Stücken von allerhand Tuch überflickt und aufeinander gesetzt war. Anstatt des Gürtels war ihm ein Strick um den Leib geschlungen.

Der wunderliche Mensch verwandte keinen Blick von der Arbeit, und wenn er nicht taub und blind war für die ganze Welt, die außerhalb seiner Arbeit lag, so wollte er es wenigstens für die Fremdlinge sein, die da standen und ihn angafften.

„Wie hast du denn die Hobelbank heraufgebracht mitten in den Wald?“ fragte der Geiger.

Der Brummbaß warf dem albernen Gesellen einen zornigen Blick zu; aber es wäre unnötig gewesen, denn der Einsiedler sägte zu und gab keine Antwort.

„Wieviel Särge machst du denn?“ fragte der Fant weiter.

„Wieviel Leute seid ihr denn?“ erwiderte der Jüngling und hielt im Sägen inne.

Er sah langsam auf und zählte: „Eins, zwei, drei, vier, fünf —“

„Nein, sechse!“ rief eine helle Stimme, und ein blondgelockter Knabe tauchte aus dem Gebüsch.

Der Einsiedler sah den zuletzt Gekommenen scharf an und sagte: „Sechs Särge mache ich.“

Er schaute wieder auf das Brett und zog die Säge an, aber nach dem ersten Strich hielt er inne, und sein düsterer Blick, wie wenn er etwas vergessen hätte, hob sich wieder zu dem Rufer von vorhin.

Es war auch ein wonniges Ding, in das feine, offene frauenhaft schöne Gesicht zu schauen. Ein wundersamer Reiz war darüber ausgebreitet, aber man mußte oft hinschauen, bis man sich über den Grund Rechenschaft geben konnte.

Findebusch hatte die Arme übereinander geschlagen und sah verwundert drein, wie die andern getan hatten. Bei diesen war der Bann des Staunens einer unruhigen Neugier gewichen, bei dem Geiger seiner fahrigen Frechheit.

„Sechs Särge! Dann reicht es ja gerade für uns!“ rief er lachend. „Wir wollen doch sehen, ob sie uns angemessen sind.“

Und er sprang mit gleichen Füßen in eine der offenen Grabkisten und streckte sich der Länge nach aus.

„Den Deckel darauf, daß wir ihn nimmer sehen, den Schandbuben!“ rief der Brummbaß.

Was er im Zorn meinte, meinten die Posaune und der Pfeifer im Scherz. Sie holten den Sargdeckel und stülpten ihn darüber. Der darinnen lag, war still und regte sich nicht.

Niemand lachte. Die beiden Gesellen schämten sich des mißlungenen Spaßes. Der Pfeifer trat hinweg und ließ den andern hantieren. Der hob leise den Deckel auf und ließ ihn ins Gras fallen. Jetzt erhob sich auch der Geiger, half sich auf die Beine und stieg vorsichtig aus dem Sarg. Er war weiß wie ein Handtuch und schlotterte an allen Gliedern. Er versuchte zu lachen, aber es gelang ihm nicht; er trat blöd und verlegen auf die Seite und stand da wie ein nasser, frierender Hund.

Der Sargmacher hatte unterdessen weitergearbeitet, wie wenn er allein wäre. Die Frage der Posaune, wo die Burg läge und wie weit es noch bis dorthin wäre, hatte er überhört oder keiner Antwort gewürdigt.

„Hier liegt sie ja!“ rief Findebusch.

Er war auf einen geglätteten Baumstumpf gestiegen, so daß er eines Hauptes größer war als die andern.

„Ihr braucht nicht hierherzukommen. Dort, wo der Geiger steht, wenn ihr ein paar Schritte weiter vorgeht, müßt ihr sie sehen. Wahrhaftig, ein stolzes Schloß! Was für ein mächtiger Turm! Und unten glänzt der Neckar. Oh, ist die Welt hier so schön!“

Findebuschs Zuruf machte die müde und verstörte Gesellschaft wieder lebendig. Alle waren froh, den düsteren Eindruck abschütteln zu können, und zeigten sich doppelt lustig. Der Brummbaß, der auf einem in die Quere liegenden Baumstamm ausruhte, schlug sich vergnügt auf die Schenkel, und der Pfeifer, der Grund haben mochte, den liederlichen Geiger bei der Gesellschaft zu halten, trat zu diesem hin und reichte ihm die Branntweinflasche.

Findebusch aber stand noch immer auf seinem Schemel und schaute barhäuptig in das Land hinaus.

Sein Gesicht war der vollen Sonne dargeboten. Geradeso schien das erleuchtende Himmelsgestirn mit breitem Schein in das Antlitz des Eremiten, der ein eisernes Winkelmaß hinter sich auf den Baumstumpf gelegt hatte, auf dem Findebusch stand, und jetzt nach der Säge griff und ihre Schneide fester schraubte. Findebusch ragte dicht hinter dem Siedler in die Höhe, und sein glattes Kinn berührte fast die dunkelblonden Locken des Waldschreiners.

Auf seinen Zuruf: „Dort ist die Burg!“ hatten für einen Augenblick alle zu ihm hingesehen, der Brummbaß mit einem verklärten Blick. Während aber jetzt die andern vorgetreten waren, um behaglich das Tal und die Burg und das Städtlein zu beschauen, ging die Viola alsbald wieder zurück, und wie wenn seine Augen etwas verabsäumt hätten, schaute er alsbald wieder den einen Kopf und den andern an, und so oft ihn auch die Gesellen durch Frage oder Zuruf oder eine Bemerkung in Anspruch nahmen, kehrte sein Blick immer wieder zu dem Geschäfte zurück, die beiden Gesichter zu besehen und zu vergleichen.

Plötzlich rief er: „Hast du einen Bruder, Trompeter?“

Der Knabe griff an sein Instrument.

„Viele, viele! Alle, die lieber blasen als sägen, und lieber küssen als essen, und lieber schlemmen als sparen!“

„Was er großtut“, sagte der Brummbaß, „und ist doch der einzige unter uns, der noch nie einen Rausch gehabt und ein Mädel geküßt hat!“

Er kam herbei und hängte sich mit einem Seufzer die Baßgeige über den Rücken.

Die Viola schaute noch einmal prüfend die beiden Gesichter an, schüttelte den Kopf und sagte: „Unter all deinen Blasbrüdern sieht dir keiner so ähnlich wie hier der Sargbruder. Schaut nur einmal her, ihr andern!“

Sie sahen die beiden Jünglinge an, und einer wie der andere staunte über die Ähnlichkeit. Was die häßliche Kutte um den Nacken und an den Handknöcheln von den Gliedmaßen sehen ließ, verriet einen schlanken Leib und einen zarten, feinen Bau. Er mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein oder anfangs der zwanziger stehen, denn das Kleid und der düstere Blick waren über die Jahre, auf die sein glattes Gesicht schließen ließ. Wenn auch die Züge schärfer, spitzer und ernster waren als in dem lachenden, vollen Antlitz des Knaben, so zeigten sie doch denselben Schnitt von der hohen freien Stirn an bis zu dem weichen Kinn, worinnen weder bei dem einen noch bei dem andern das Grübchen fehlte. Vor allem fiel bei dem ersten Blick in jedem der beiden Gesichter das Auge auf, und wenn man sie verglich, hätte man sich die Augen und ihre Umgebung vertauscht denken können, ohne daß die beiden Menschen anders geworden wären: dasselbe Leuchten aus der Hefe, dieselbe unbestimmbare Farbe, bald tiefblau, bald schwarz, bald golden, dieselbe steile, zarte Nasenwand und vor allem die gleichen schwarzen, scharfgezeichneten, edelgeschwungenen Brauen.

Der Einsiedler hatte sich aufgerichtet, die Säge aus der Hand gelegt und sich langsam umgedreht. Und dann betrachteten sich die beiden.

„Ich hatte nie einen Bruder“, sagte der Waldschreiner, „aber ein Schwesterlein.“ Nach einer Weile fügte er hinzu im Tone einer klagenden Litanei: „Ich hatte einen Vater und eine Mutter.“

„Ei, wie merkwürdig!“ rief der Geiger, der sich wieder ins Ansehen setzen wollte. „Findebusch, merke wohl auf: der Vater hat ihn gezeugt und die Mutter hat ihn geboren.“

„Ich schlag’ dir mein Instrument um die Ohren! Lieber komm’ ich aufs Rad, als daß du Igel mir das Kind verdirbst!“ Brummbaß hob drohend die Baßgeige.

„Laß nur liegen“, begütigte der Knabe. „Ich trag’ sie dir vollends bis zur Burg. Geh nur mit den andern voraus, ich folge euch sofort nach.“

Der Pfeifer hatte das Zeichen zum Aufbruch gegeben und war mit langen Schritten den hohen Tannen zugegangen. Der Geiger und die Posaune folgten ihm auf dem Fuße nach. Die Viola wartete auf den Brummbaß, der sein Instrument abnahm, die Riemen kürzer schnallte und sich dann, der fortweisenden Gebärde des Knaben gehorsam, wankend und trippelnd auf den Weg machte. Findebusch blieb allein zurück.

Er hängte sich die Baßgeige um die Schulter. Dann eilte er auf den Einsiedler zu, ergriff seine Hand und sagte: „Sargbruder, ade!“

Der andere legte die Säge hin, zog den Knaben an seine Brust und flüsterte: „Noch nie hatt’ ich jemand so lieb wie dich!“

Er bückte sich, griff unter die Hobelbank und holte ein kleines Sträußchen roter Blüten vom Boden. Die kurzen Stiele waren mit einer Binse zusammengebunden.

„Da nimm! Steck es an! Verlier es nicht! Es sind Donnerblumen. Sie schützen im Wetter.“

Findebusch steckte sich das Sträußchen in den Wams.

„Ich kann dir nichts geben als meine Fuchsmütze.“

Er stülpte sie ihm über die wirren Locken.

„Nimm sie nur! Die Posaune macht mir eine andre, sie versteht sich darauf. — Du, warum machst du so viele Särge? Ist bei euch eine Seuche?“

„Ich mache Särge“ — der Einsiedler hielt den Knaben an die Brust gepreßt und flüsterte: „Bis ich meiner Mutter Grab gefunden habe.“ — Mit lauter Stimme fuhr er fort: „Dann mache ich Kreuze, nichts als Kreuze.“

„Auch ich kenne meiner Eltern Grab nicht“, sagte Findebusch fröhlich. „Aber das kümmert mich nicht. Springt mir ein Fuchs in die Arme, dann denke ich, den schickt mir mein Vater aus dem Grab, und streichelt mir ein Haselbusch die Wange, dann denke ich, der ist aus meiner Mutter Grab gewachsen. Darum ist mir so wohl in der ganzen Welt.“

„Versprich mir eins, Bruder Findebusch! Wenn du drüben bist im Schloß, dann blase ein Sterbelied!“

„Du bist nicht gescheit! Für wen denn?“

„Für meine Mutter. Die ist drinnen in der Burg irgendwo verscharrt und vermodert.“

„Was soll da das Sterbelied? Sie feiern Hochzeit dort drüben.“

„Aber sie hat noch kein Grablied bekommen. Den ärmsten Leuten und den Fahrenden und Gerichteten wird eines gesungen. Den Selbstmördern nicht; aber sie hat sich nicht selber umgebracht. Nein, du —“

Er schüttelte den Knaben an den Schultern und raunte: „Ich weiß, man hat sie schmählich gemordet.“

„Wer? Der Junker?“

„Der nicht; er war damals zwölf Jahre alt. Aber dabeigewesen ist er und weiß ihr Grab.“

„Warum fragst du ihn nicht?“ — „Er schweigt.“ — „Und die andern?“

„Die es getan haben, leben nimmer. Sie sind ertrunken, haben den Hals gebrochen, die Pest hat sie gefressen. Keiner hat im Frieden die Augen geschlossen und keiner in der Burg ihres Geschlechtes. Ich habe allen die Särge gemacht und habe in jeden einen Fluch gelegt. Aber gesungen hat man ihnen doch drüben in der Ersheimer Kirche. Nur meiner Mutter, meiner Mutter ist nicht gesungen worden. Drum blase du ihr heute nacht auf des Junkers Hochzeit ein Grablied.“

Findebusch machte sich aus den Armen des Einsiedlers los, reichte dem Gesellen die Hand und sah ihm treuherzig in die Augen.

„Versprechen will ich dir es nicht. Aber wenn ich es tun kann, dann vollbringe ich’s und blase mitten hinein in den Tanzreigen der andern:

‚Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?

Hin geht die Zeit, her kommt der Tod!‘“

Die beiden umarmten sich in urplötzlicher Bewegung. Und wie sie nun schieden, da war es, als ob zwei Brüder voneinander gingen.

Findebusch sprang seinen Gesellen nach. Hinter einem Busch stand der Brummbaß und wartete. Er warf einen mißtrauischen Blick nach der Richtung, woher die Säge des Einsiedlers schrillte, und fragte seinen Liebling:

„Willst du mich verlassen, Kind?“

Im nächsten Augenblick hing Findebusch an dem Hals des alten Mannes und bedeckte dessen Brust mit seinen Tränen.

Der neigte seinen Kopf und lauschte, denn es war, als ob der Knabe schluchzend etwas sage.

„Ich habe dich nicht verstanden.“

„Wie plötzlich, ach, und wie behende

Kann kommen meine Todesnot.“

Der Brummbaß schüttelte den Kopf, hob das Gesicht von seiner Brust hinweg und in die Höhe und sah dem Knaben eindringlich in die Augen.

„Willst du mich verlassen, Kind?“

„Nie“, flüsterte der Knabe. „Ich bleibe bei dir bis in den Tod.“

Und nun eilten die beiden, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, dem Hochwalde zu. Als sie ihn erreicht hatten, sahen sie das Goldblech der Posaune links unter sich durch die Büsche blitzen.

Der Einsiedler aber arbeitete, ohne aufzusehen, Stunde um Stunde, bis der Mond über den Berg gestiegen war, und vollendete den sechsten Sarg.

Der Mond schien bleich und verschleiert aus einem tiefen Dunsthof. Der Tag war düster erloschen, wie ein Licht erstickt im Qualm. Der Einsiedler nahm die Hobelbank auseinander und trug die einzelnen Stücke in eine Hütte, die eine Strecke weiter hinten im niederen Tannengrün lag. Ebendorthin trug er die Werkzeuge und Gerätschaften, und dann schleifte er die Särge über den grasigen Boden und barg sie unter dem Dach. Darüber war es völlig Nacht geworden.

Nachdem er die Tür der Hütte verschlossen hatte, ging er über die Lichtung auf die Stelle, von der man nach der Burg sehen konnte. Mit gekreuzten Armen stand er an eine Buche gelehnt und sah zum hellerleuchteten Schlosse hinüber.

Man hörte die Klänge fröhlicher Tanzweisen, sah dunkle Gestalten an den Fenstern vorübergleiten, und aus den Höfen und vom Neckar her erscholl mitunter ein Jauchzen.

Jetzt fingen die Musikanten von neuem an: es war die Melodie eines marschartigen Reigens, aber hell und fröhlich; der Klang der Trompete war der König unter den Tönen.

‚Jetzt geleiten sie das Paar in die Kammer‘, dachte der Siedler und horchte gespannt.

Da löste sich der Trompetenklang los von dem übrigen Klingen und Singen, Dröhnen und Rauschen, und klar und rein scholl durch die Luft die Weise des Grabliedes. Zuerst wirbelten und schwirrten die übrigen Töne verwirrt um die majestätischen Klänge her, dann wurden sie mitgezogen, zuerst der Baß und ein Klang nach dem andern, bis in voller Harmonie der Choral herüberklang:

„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?

Hin geht die Zeit, her kommt der Tod.

Wie plötzlich, ach, und wie behende

Kann kommen meine Todesnot!

O Gott, ich bitt’ durch Christi Blut,

Mach’s nur mit meinem Ende gut!“

Der Einsiedler hielt die Fuchsmütze an seine Brust gepreßt. Aus seinen Augen stürzten Tränen. Als die Weise vorüber war, fiel er auf die Knie zu brünstigem Gebet. Dann erhob er sich und ging mit großen Schritten durch den schwarzen Wald dem Schlosse zu.

Das deutsche Herz

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