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Der Schrei war in ganz Hirschhorn gehört worden. Alsbald machten sich die Leute der Schiffergilde auf. Wer unter ihnen trunken war, wurde nüchtern. Rasch waren die Boote bemannt, und von Fackelträgern begleitet, kreuzten die Fischer nach verabredetem Plan und suchten in der Hefe, im Felsgeröll, unter den Weidenbüschen. Noch in der Nacht wurden die Viola, der Pfeifer und die Posaune geborgen und am Ersheimer Friedhof ausgeschifft. Im Morgengrauen fand man den Brummbaß und Findebusch. Die Arme des Knaben waren im Gewände des alten Mannes verfangen. Der eine hatte den andern retten wollen und war von ihm in die Tiefe gezogen worden. Gegen Mittag kam ein Bote aus Neckarhausen gelaufen mit der Nachricht, daß der Fischer Stapf und der sechste Musikant am Hofe, gegenüber ans Land geschwemmt worden seien. Alsbald wurde von Ersheim ein Wagen dorthin geschickt, und am frühen Nachmittag kam die traurige Fracht zu Ersheim an. Man legte die sieben Ertrunkenen in einer Reihe hin, unter die Kirchhofmauer an den Rain.

Eine große Menschenmenge strömte herbei. Von Hirschhorn fuhren sie herüber, von Eberbach und von Pleutersbach kamen sie, von Moosbrunn und Haag eilten sie herunter. Die Knaben und halbwüchsigen Burschen sprangen auf den Landstraßen daher, wie wenn es etwas zu versäumen gäbe, und vor dem Kirchenplatz und auf dem Friedhof standen sie Kopf an Kopf. Die Kleinen wurden von ihren Müttern in die Höhe gehoben und die Dirnen stießen einander mit den Ellbogen zurück. Mit weit aufgesperrten Augen schauten die Leute auf die sieben toten Männer, und wer etwas von dem einen oder dem andern der Fremdlinge zu sagen wußte, war für die begierigen Ohren der Nachbarschaft ein wichtiger Mensch. Aber auch für die Allgemeinheit gab es zu hören, und zwar ausgiebig. Die Frau des Fährmannes Stapf tobte, wie es ihre Pflicht und Schuldigkeit war, und ihre fünf Kinder schrien, und zwar um so ärger, je kleiner sie waren. Das kleinste fürchtete sich vor den vielen Leuten, das nächste entsetzte sich vor seiner Mutter, dem dritten war ein Heddesbacher Lümmel auf den nackten Fuß getreten. Die beiden größeren standen da und weinten still um ihren lieben Vater, während die Frau des Schiffers sich auf die Leiche warf und dann wieder händeringend aufsprang und ein Mal übers andre rief: „Ach Gott, ach Gott, du armer Teufel, du armer Teufel!“

So wurde dem Einheimischen sein gutes Recht auf eine anständige Totenklage reichlich zuteil. Die Fremden wurden mit kritischen Augen beguckt und begutachtet, und die älteren Bürger sagten zueinander: „Die Unkosten müssen von der Herrschaft bezahlt werden.“

Plötzlich rief jemand: „Alleweil fahren der Junker und seine Frau herüber.“ — „Der Junker und seine Frau!“ rief es. — „Seine Frau auch?“ — „Ja, seine Frau!“

Und nun wandte die ganze Gesellschaft den Leichen den Rücken zu, Frau Stapf nicht ausgenommen, und die vorhin am übelsten daran waren, waren jetzt die vordersten und konnten am besten sehen. Beim gestrigen Einzug war die neue Herrin nur den wenigsten zu Gesicht gekommen, denn die kurze Straße durch das Städtlein war vom Zug der ritterlichen Gäste und ihrem Gefolge angefüllt, und das alte Karmeliterkirchlein war gar klein. Darum drängten sie jetzt alle, die Frau zu betrachten.

Sie stand neben ihrem Gatten im Nachen. Die beiden großen, schönen Menschen, er in seiner frischen Männlichkeit und sie in ihrer blühenden Jugend, boten einen Anblick, wie ihn das Volk gerne und herzlich genießt. „Ein sauberes Weibsbild!“ sagten die Leute zueinander; ein kleines Mädchen faltete andächtig die Hände und ein anderes rief: „Sie fahren durch einen Regenbogen hindurch.“

Da Friedrich alle Fährleute auf dem jenseitigen Ufer vermutete, hatte er den Hannes vom unteren Tore mitgenommen, damit er ihn und sein Weib hinüberrudere. Der Bursche hatte während der Überfahrt wohlweise Reden geführt über die Verderblichkeit der Musik, über die Gottlosigkeit der Musikanten und über die Gefahren des Weltlebens für Leib und Seele. Als sie gelandet waren und der Junker mit seiner Gattin durch das zurückweichende Volk auf die Leichen zuging, hielt es Hannes für seine Pflicht, dem Paare das Ehrengeleite zu geben und auf alles Wissenswerte aufmerksam zu machen.

„Ich, wenn ich etwas zu sagen hätte“, erklärte er vor dem aufhorchenden Volk, während Friedrich und Ursula ergriffen vor den Leichen standen, „ich tät ein Gesetz geben: Wer Musik machen will, hat jedem, der sie hören muß, einen Batzen zu zahlen und der Herrschaft auf Martini einen Gulden. Da liegt der Johannes Stapf; der hat nie nichts geglaubt, sonst wäre er nicht in der Johannisnacht auf den Neckar.“

Die Erwähnung ihres Mannes erinnerte die Frau Stapf an ihre Pflicht. Sie warf sich auf ihren Mann und schrie: „Da steh’ ich Witfrau mit meinen fünf Kinderlein, und du gehst fort, du armer Teufel!“

Der Hannes schüttelte mißbilligend den Kopf und meinte: „Unser Herrgott hätte keine Weibsleut schaffen sollen.“ Wie ein Mann, der bekunden will, daß er an dem Vorgange, dem er leiblich anwohnen muß, keinen Anteil nimmt, schaute er in die Krone eines Lindenbaumes hinauf, während der Junker und seine Gattin mit der Witwe redeten; als diese Unterbrechung vorüber war, stellte er sich vor die Toten, und mit einer vorstellenden Handbewegung fuhr er fort: „Dies ist der Brummbaß von Affolterbach. Ist Euch der Jakob Henner in Rothenberg bekannt?“ wandte er sich an Ursula; „mit dem ist er Geschwisterkind. Der dort mit den dicken Backen und dem offenen Mund stammt aus Katzenbach. Dem sein Großvater ist einmal auf dem Wege nach Mosbach einem Wildfräulein begegnet, das hat ihn eingeladen, er solle am Weihnachtsabend in das Binauer Schloß kommen ...“

Friedrich gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen. Dann faßte er seine Gattin an der Hand und führte sie vor die Leiche des Knaben. „Das ist er“, sagte er leise und trat zurück.

Ursula beugte sich über den armen jungen Trompeter, sah ihm ins Angesicht und faltete die Hände. Zuerst lag Neugier und Spannung in ihrem Antlitz, dann wurde Ergriffenheit und Schmerz daraus; aus ihren weit geöffneten Augen quollen Tränen und fielen auf das Angesicht des Toten. Friedrich legte ihr die Hand auf die Schulter; da richtete sie sich in die Höhe, ging an die Kirchhofmauer und brach einen Strauß wilder Rosen. Es dauerte eine Weile, bis sie die scheuen Kinder aus ihrem stacheligen Haus gefangen geholt hatte. Friedrich sprach derweilen mit dem Schultheißen von Hirschhorn über die Versorgung der Familie des Schiffers. Dabei lächelten seine beobachtenden Augen dem Beginnen der Gattin freundlich zu, und als ihr Blick dem seinen begegnete, rief er ihr halblaut zu: „Der Dank für seine Blumengäbe!“ Hannes aber, von einer aufhorchenden Kinderschar umgeben, erläuterte die Posaune durch Aufschlüsse und Anmerkungen.

Als Ursula vor die Leiche des Knaben trat, erblickte sie eine Gestalt, die gesenkten Kopfes oben am Raine hart an der Mauer kniete und mit gefalteten Händen inbrünstig betete. Beim ersten Aufblick wußte sie, daß es der Einsiedler Leonhard war. Mit Grauen sah sie auf die sich leise bewegenden Lippen und gedachte an die Seufzer und Klagen, die sie in der vergangenen Nacht gehört hatte. Unwillkürlich flüsterte sie: „Mutter!“ Da schaute der Jüngling auf, und die beiden betrachteten sich mit forschenden Augen. Zwischen ihnen lag, von dem Einsiedler den Frauen zugestreckt, der tote Trompeter. Die Augen, die vorhin offen gestanden hatten, waren jetzt zugedrückt, und die Arme waren kreuzweise übereinandergelegt.

„Mutter!“ wiederholte Leonhard und schaute Ursula bedeutungsvoll an.

„Du hast mit mir heute nacht der Mutter gerufen“, sagte er leise. „Ich habe es wohl gehört, als ich in deinem Burggraben lag.“

Sie wollte zürnend blicken, aber sie vermochte es nicht.

„Gewiß, ich hab’ es gehört. Es klang, wie wenn eine Tochter weint an ihrer Mutter Grab. Wo ist deiner Mutter Grab? Weißt du’s?“

Sie schüttelte leise den Kopf.

„Dann haben wir zwei das gleiche Leid“, sagte Leonhard, richtete sich auf und streckte ihr über die Leiche die Hand entgegen.

Ursula legte ihre Hand darein, und nun schauten sich die beiden verwundert an. Jedes schaute vom Antlitz des andern auf das Gesicht des Toten und hob dann wieder die erstaunten fragenden Augen, daß sie forschend in den lebendigen Zügen lasen. Da zog Ursula die Hand zurück und legte den Rosenstrauß dem Toten auf die Brust. Leonhard sah es und lächelte. Er bückte sich und griff ins Gras und holte einen mächtigen Waldblumenstrauß und legte ihn über die Rosen, so daß sich die zarten Blüten und Gräser in das aufgeblühte Morgenrot senkten.

Der Junker hatte die beiden nicht aus den Augen gelassen. Er brach das Gespräch ab, befahl, daß die Zuschauer entfernt und die Familie des Stapf nach Hause geleitet werde, und trat hinter seine Frau. Auch des Ritters Augen wanderten vergleichend von einem der drei Gesichter zum andern.

Schweigend ging er an die Kirchhofmauer, beugte sich hinüber und brach einen Rosmarinzweig. Dann ging er auf den Toten zu und legte den Zweig auf seiner Frauen Strauß. Leonhard sah ihm zu, beugte sich nieder, hob des Junkers Zweig auf und legte ihn ins Gras.

Friedrich griff an sein Schwert. Die Ader auf seiner Stirne schwoll. Leonhard sah ihn feindselig an und sagte:

„Sechs Särge sind bereit. Sie stehen am Wege über meiner Hütte. Laß sie heute abend herführen. Den Sarg für den Fährmann macht der Hirschhorner Schreiner.“

Ursula hob den Zweig ihres Gatten vom Boden und steckte ihn in ihre Rosen hinein, so daß er gerade über die Hände des Toten zu liegen kam. Dann trat sie zu ihrem Gatten und sah den Einsiedler bedeutungsvoll an, wie wenn sie ihm sagen wollte: Ich stehe zu dem.

Unterdessen hatte Hannes mit vielen Scheltworten und Sittensprüchen den Platz gesäubert. Er jagte gerade ein Rudel Buben zurück, das um den Friedhof herumgesprungen und von der andern Seite wiedergekommen war, als mitten durch die davdnlaufenden Kinder sich ein uralter Mann nahte. Er hatte einen eisgrauen Bart, trug eine Schaufel über der Schulter und schritt so schwerfällig daher, wie wenn jeder Fuß einen halben Morgen Ackerland trüge.

„Der Notwendigste kommt zuletzt“, rief Hannes dem Totengräber zu.

„Vor soviel lebendigen Leuten fürchte ich mich“, sagte der Mann, „bei den Toten ist mir’s wohler.“

Er warf einen gleichmütigen Blick über die sieben Leichen, dann setzte er sich dicht neben die letzte — es war der Fährmann — auf den Rain, legte den Spaten über seinen Schoß und den bodenschweren rechten Fuß auf das Eisen.

Friedrich nickte dem alten Manne freundlich zu. Dann verabschiedete er die Bürger, die beieinander in einer Gruppe zurückgeblieben waren. „Ich habe mit Leonhard ohne Zeugen zu reden“, sagte er zu ihnen.

„Und ich habe mit dir zu reden“, rief ihm Leonhard zu, „aber vor dem da“, er wies auf den toten Knaben, „und vor deinem Weibe.“

Der Junker schickte den Hannes zum Nachen zurück. Leonhard warf einen fragenden Blick auf den Totengräber.

„Er soll bleiben“, sagte der Ritter, „er kümmert sich nicht um lebendige Dinge.“

„Er soll bleiben“, erwiderte Leonhard, „denn er ist daheim bei den Toten.“

Sie standen sich schweigend gegenüber, bis der letzte weggegangen war. Der Totengräber klopfte mit der Fußspitze auf das glänzende Grabscheit. Ursula stand erwartungsvoll ihrem Gatten zur Seite. Sie hatte die Hand auf seinen Arm gelegt, sei es, um sich an dem Geliebten zu halten, sei es, um ihn durch ihre Nähe zu beschwichtigen.

„Ich will dir etwas sagen, Leonhard. Es ist das erstemal, daß wir uns Aug’ in Aug’ gegenüberstehen. Ich ließ dich bisher gewähren. Mißbrauche nicht meine Güte. Du hast mein Weib und mich in dieser Nacht gequält. Habe Erbarmen mit dieser um deiner Mutter willen. Erspare mir’s, daß ich dir gebieten muß. Ich bitte dich.“

Der Einsiedler richtete sich hoch auf, kreuzte die Arme über der Brust und sah feindselig zum Ritter hinüber.

„Hirschhorn“, sagte er, „ich habe etwas zu fragen; etwas und noch etwas. Zwei Kinder hatte sie, als man sie auf die Burg brachte, die jetzt dein Haus ist. Das eine war ein Sohn von sieben Jahren. Der entsprang und stak im Busch und schlich hinterher und fand so zum ersten Male den Weg in deinen Burggraben. Das andre war ein Mägdlein, fünf Jahre alt; das trug ein treuer Knecht und brachte es Gott weiß wohin. Wer aber ist dieser?“ — Er deutete auf Findebusch.

„Sie hatte noch ein drittes Kind“, sagte der eisbärtige Totengräber und drehte das Grabscheit hin und wieder, so daß die Sonne aus dem Eisen stach.

„Das dritte Kind trug sie unter dem Herzen. Ehe sie verschwand, ist sie seiner genesen, eines Knaben.“

Es war so stille geworden, daß das sanfte Rauschen des still gleitenden Flusses heraufklang.

Zu gleicher Zeit beugten sich Friedrich und Leonhard nieder; Friedrich streichelte die Hand des Toten, Leonhard griff in die wirren Locken. Ursula aber lehnte sich an ihren Gatten und barg ihr weinendes Gesicht an seiner Brust.

„Und nun die zweite Frage“, sagte Leonhard und richtete sich auf. „Wo ist meiner Mutter Grab?“

Auch Friedrich hatte sich erhoben.

„Hundertmal hast du mich so gefragt vom Burggraben herauf. Die Hochzeitsnacht hast du mir damit begeifert. Du kennst meine Antwort: Ich weiß es, aber das Geheimnis geht nicht über meine Lippen.“

Leonhard eilte zwischen den beiden Leichen hindurch auf den Junker zu, faßte ihn an der Hand und fiel auf die Knie.

Mit der andern Hand zerrte er an Ursulas Kleid.

„Komm du, auch du weißt es nicht, wo die Gebeine deiner Mutter modern. Ich beschwöre dich bei dem, dessen Leiche wir zusammen geschmückt haben, knie mit mir nieder und flehe mit mir um Antwort: Wo ist der Mutter Grab?“

Ursula schlang ihre beiden Arme um den Gatten und schüttelte das Haupt.

„Nun denn“, rief Leonhard und faßte mit beiden Händen des Ritters Arm, „so beschwöre ich dich bei deinem Weibe, und dich, den einzigen Hirschhorn, der noch lebendig ist, bei den Hoffnungen, die du hegst für dein Haus: Wo ist meiner Mutter Grab?“

„Nikolaus“, rief der Junker dem Totengräber zu, „entscheide! Dürfen wir es sagen?“ — „Eid ist Eid“, sagte der alte Mann.

„Ich war ein Knabe von zwölf Jahren. Sie erklärten mich an jenem Tage für fähig zur Eides- und Schwerthilfe, umgürteten mir die Wehr und gaben mir Wein zu trinken. Dann brachten sie mich in die Schloßkapelle. Du führtest mich, Nikolaus. Und wir beide haben eines Mundes geschworen, die Hand auf dem Evangelium, daß wir den Rest des Tages in Schweigen vergraben. Die Männer meines Hauses waren oft wild, grausam und herzlos. Aber meineidig wird kein Hirschhorn. Laß uns im Frieden scheiden, Leonhard!“

„Dir reiche ich die Hand nicht“, sagte Leonhard, „aber deinem Weibe.“

Ursula wandte sich ihm zu und reichte ihm die Rechte. Sie beugten sich zueinander, und die Locken berührten sich.

„Erlaube“, sagte Leonhard und drückte einen brüderlichen Kuß auf die Wange des Weibes.

Friedrich wandte sich zu Nikolaus.

„Diese sechse bekommen ihre Gräber in der Reihe der Männer. Stapf zuvörderst, dann die andern fünfe nach ihrem mutmaßlichen Alter. Dieser aber“, er deutete auf Findebusch und senkte seine Stimme, „dieser wird in der Kirche bestattet, in der Gruft — als ob er mein lieber Schwäher wäre.“

Der Einsiedler war ohne Gruß entwichen. Der Junker faßte sein Weib an der Hand und führte es langsam zum Gestade.

Der Totengräber sah ihnen düsteren Blickes nach.

„Gott schenke dir einen verschlossenen Schoß“, sagte er vor sich hin und streckte seihen Spaten aus.

Das deutsche Herz

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