Читать книгу Gesammelte Kindergeschichten & Romane von Agnes Sapper - Agnes Sapper - Страница 10
Ein geplagter Mann.
ОглавлениеWir sind in einem schwäbischen Städtchen, zwischen Wald und Bergen gelegen, und versetzen uns um etwa dreißig Jahre zurück. Das Haus, in dem wir nur einen Tag miterleben wollen, aber einen großen Tag, liegt malerisch an dem Flüßchen, das in raschem Lauf das Städtchen durchfließt, und bildet die Ecke der Fahrstraße nach dem Bahnhof. Unser Haus hat zwei Besitzer; das Erdgeschoß gehört dem Schreiner Wahl zu eigen, der obere Stock dem Stadtschultheißen Römer. Außerdem gibt es noch im Dachstock sechs Kammern; ursprünglich gehörten drei dem Schreiner und drei dem Stadtschultheißen, aber der Schreiner, der manchmal in Geldverlegenheit kam, bot in solchen Fällen dem Stadtschultheißen eine Kammer zum Kauf an und so gehörten jetzt bereits fünf Kammern dem Stadtschultheißen und nur noch eine dem Schreiner.
Am frühen Morgen des großen Tages, von dem wir berichten wollen, hantierte in einer dieser Kammern der Schreiner; und die junge Frau des Stadtschultheißen hörte kaum über sich seinen schweren Schritt, als sie auch schon im leichten Morgenrock die Treppe hinaufeilte und den Mann aufsuchte.
»Guten Morgen, Herr Wahl,« sagte sie freundlich, »machen Sie schon die Fahnen hinaus, das ist recht.«
»Ja,« sagte der Mann, »es ist ja gut Wetter.«
»Und nicht wahr, meine Lämpchen stellen Sie mir auch rechtzeitig hinaus.«
»Wohl, wohl, Frau Stadtschultheiß, aber doch erst am Abend, wenn man sie gleich anzünden kann; das ist ja schnell getan.«
»Meinen Sie?« sagte sie ungläubig. »Am Fenster sind sie freilich leicht aufzustellen, aber ich meine die außen, die auf dem vorspringenden Sims, der rings ums Haus herumläuft, die muß man doch vorher aufstellen, daß man sieht, wie sich’s macht und ob auch die Leiter hoch genug ist.«
»Frau Stadtschultheiß, auf den Sims würde ich keine aufstellen, da brauchen Sie furchtbar viele Lämpchen, an keinem Haus wird es hier so gemacht. Die Leute stellen halt ein paar Lichter vor die Fenstergesimse, weiter braucht’s nichts.«
»Aber Herr Wahl, wir haben es doch so miteinander verabredet, und ich habe deshalb dreihundert Lämpchen gekauft! Unser Haus liegt doch auch gerade so an der Ecke; wenn die Wagen hereinfahren, nachdem die Felsenbeleuchtung draußen vorbei ist, kommen sie alle an unserem Haus vorbei, und da spiegeln sich dann unsere Lichter im Fluß. Ich habe das einmal in Hamburg gesehen, das macht sich wundervoll; ich wollte meinen Mann damit überraschen, wenn er mit den Herren hereinfährt. Sie haben doch vorige Woche gesagt, Sie wollten es mir machen.«
»Nun ja, dann muß ich’s eben machen,« sagte der Mann zögernd.
»Aber gewiß nicht zu spät, Herr Wahl. Vielleicht richten wir es um zwei Uhr, während die Herren im Gasthof zur Tafel sind;« und als der Schreiner nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Ich fürchte immer, Ihre Leiter ist nicht lang genug.«
»Die ist lang und Leitern gibt es genug im Städtchen, da muß man nur eine entlehnen.«
»Frau Stadtschultheiß,« rief das Dienstmädchen, das eilig die Treppe heraufkam, »der Herr Stadtschultheiß möchte heute früher frühstücken, das Bäckermädchen ist aber noch nicht da, ich renne schnell hinüber und hole Brot.«
Davon war sie, die Anne, das flinke, fröhliche, junge Dienstmädchen, und die Frau Stadtschultheiß kam schnell herab in die Wohnung und richtete den Frühstückstisch.
Der kleine Sohn des Hauses, der kaum vierjährige Hans, turnte noch im Nachthemdchen in seiner Gitterbettstatt herum; und sein Schwesterchen, das vierteljährige, schlummerte im Wagen. Aber der Herr des Hauses, Stadtschultheiß Römer, stand schon wartend am Tisch. Er mochte vielleicht zwölf Jahre älter sein als seine Frau, trug einen großen schwarzen Vollbart und sah ernst und achtunggebietend aus. Jetzt trat er ans Fenster und horchte auf. An der Straßenecke schellte ein Polizeidiener und nachdem er so die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, las er mit lauter Stimme: »Es ergeht an die hiesige Einwohnerschaft die Bitte, zu Ehren des Besuchs Ihrer königlichen Hoheiten des Prinzen und der Prinzessin die Häuser zu beflaggen, und bei einbrechender Dunkelheit zu beleuchten. Ferner wird erwartet, daß die Straßen während des Aufenthalts der hohen Gäste sonntäglich gehalten werden und daß insbesondere das Federvieh von den Straßen ferngehalten wird.«
Der Polizeidiener ging weiter, und in der Ferne hörte man wieder seine Schelle und danach seine laute Stimme, die die Aufforderung wiederholte. Die Folge seines Ausschellens war, daß bald da bald dort eine Magd mit dem Kehrbesen erschien und vor dem Haus kehrte; und daß manches Gänslein und Hühnervolk, dem soeben erst die Stalltür geöffnet worden war, wieder in den Stall zurückgetrieben wurde. Fahnen und Fähnchen, Kränze und Laubgewinde wurden an allen Häusern angemacht, und glänzten lustig im Sonnenschein des ersten Septembermorgens.
Der Stadtschultheiß war es, der diese und noch manche andere Vorbereitung veranlaßt hatte. Seit Wochen schon stand die landwirtschaftliche Ausstellung und zugleich der Besuch des Prinzen und seiner jungen Gemahlin in Aussicht; und heute war nun der große Tag angebrochen.
»Um elf Uhr werden also die Fürstlichkeiten erwartet?« fragte die Frau.
»Ja, um elf Uhr ist der Empfang am Bahnhof. Es fehlt noch der Blumenstrauß, den wir für die Prinzessin bestellt haben. Mit der neun Uhr Post muß er ankommen, dann packe du ihn einstweilen aus. Ich gehe nun aufs Rathaus und sehe, ob alles in Ordnung ist. Magst du mir den Frack und all das bereitlegen, daß ich mich rasch umkleiden kann, wenn ich wiederkomme?«
»Ja,« sagte die junge Frau, »jetzt gleich richte ich deine Sachen und dann Hänschens Bauernanzug.«
»Wenn er sich nur brav hält, der Schlingel!«
Auch der kleine Hans sollte eine Rolle spielen an diesem großen Tag. Eine schwäbische Bauernstube war draußen, nahe am Ausstellungsplatz, eingerichtet worden, genau nach dem Leben. In diese sollten die hohen Gäste geführt werden; und damit die Stube auch belebt sei, sollten des Oberamtmanns kleines Töchterlein und des Stadtschultheißen Bub, als Bauer und Bäuerin verkleidet, darin aufgestellt werden. »Es ist immer gewagt, wenn man Kinder mit hineinzieht,« sagte der Stadtschultheiß, »wenigstens so kleine. Ich war nicht dafür, aber die andern um so mehr.«
»Es wird auch nett aussehen und Freude machen.«
»Wenigstens euch Müttern,« sagte Römer. »Aber nun muß ich gehen. Solange es noch ein wenig ruhig ist auf dem Rathaus, will ich mir meine Rede zurechtlegen.«
»Zur Begrüßung am Bahnhof?«
»Da genügen einige Worte, aber bei Tisch habe ich die Hauptrede, und auf dem Ausstellungsplatz die Eröffnungsrede.«
»Drei Reden! Du bist ein geplagter Mann!« sagte die Frau freundlich, sie sah aber stolz zu ihm auf.
»Ein geplagter Mann,« wiederholte der kleine Hans mit ebensoviel Gefühl, wie es die Mutter gesagt hatte. Ihm gefiel dieser neue Ausdruck.
Ehe der Stadtschultheiß sich auf das Rathaus begab, machte er den Umweg über den Rasenplatz, auf dem die landwirtschaftliche Ausstellung schon allerhand Leute herbeigezogen hatte, die sich die Maschinen besahen, während vom Land herein von jeder Gattung Vieh besonders schöne Stücke zugetrieben wurden. Da gab es noch manche Frage zu beantworten, manche Einrichtung zu beanstanden und Befehle zu erlassen, bis unser Stadtschultheiß auf das Rathaus kam, wo auch schon allerlei Leute mit verschiedenen Anliegen auf ihn warteten.
Inzwischen hatte seine Frau daheim an alles gedacht, was zu ihres Mannes festlichem Gewand gehörte: Da lag der Frack bereit, die weiße Binde, die Handschuhe und der hohe schwarze Zylinderhut. Mit der Post traf richtig der bestellte Strauß ein; sorgfältig wurde er aus der Schachtel genommen; der kleine Hans und die große Anne waren so entzückt bei dem Anblick der Blumen, daß auch die junge Frau zufrieden war, obwohl sie noch etwas Schöneres und Größeres erwartet hatte.
Um zehn Uhr kam der Stadtschultheiß wieder. »Julie!« rief er noch auf der Treppe, und der Ton, in dem er sie rief, fiel seiner Frau nicht angenehm auf. Er nahm sich kaum die Zeit zum Gruß, als sie ihm entgegen kam.
»Warum ist das Holz neben unserem Haus nicht weggekommen?«
»Hätte es denn wegkommen sollen? Es ist ja ganz ordentlich aufgeschichtet.«
»Aber du weißt das doch; die Straßen sollen frei sein. Allen Leuten, die Holz vorn an das Haus aufgeschichtet hatten, ist anbefohlen worden, es wegzuräumen. Hat der Polizeidiener dir nichts gesagt? Anne!« Die Anne in der Küche hatte das Gespräch schon gehört, sie kam nur ungern zum Vorschein. »Hat der Polizeidiener nichts gesagt wegen des Holzstoßes am Haus?«
»Er hat wohl neulich so etwas gesagt, aber weil unser Holz doch noch so naß ist und weil es so ordentlich aussieht –«
»Gehen Sie augenblicklich und holen Sie Tannenwedel und decken Sie den Holzstoß damit vollständig zu!«
»Wo bekomme ich wohl die Wedel?«
»Das können Sie selbst erfragen.« Das Mädchen lief fort.
»Es macht sich nicht gut, wenn ich von andern verlange, daß sie wegräumen, und vor meinem eigenen Haus bleibt die Sache liegen. Eine rechte Stadtschultheißin muß ein gutes Beispiel geben.«
»Aber du hast mir nichts davon gesagt.«
»Ich habe es nicht gesehen, weil ich gewöhnlich von der andern Seite herkomme.« Der Stadtschultheiß kam ins Zimmer.
»Papa, sieh dort oben die schönen Blumen,« rief Hans.
Römer besah die Blumen. »Das soll der Empfangsstrauß sein?« sagte er, »das ist ja gar nicht möglich.«
»Wieso?« fragte die Frau.
»So sieht doch nicht ein Strauß aus für zwanzig Mark; der ist ja unbrauchbar, warum hast du mir denn das nicht gleich sagen lassen?«
»Den Preis wußte ich ja nicht. Klein ist er mir auch vorgekommen, aber doch ganz hübsch.«
»Aber Julie, das ist doch kein Strauß, wie man ihn einer Prinzessin überreicht! Wo ist denn die Rechnung? Nun ja, da siehst du es ja – zwei Mark statt zwanzig Mark. Also eine Verwechslung. Daß du aber so etwas nicht bemerkst, ist mir unbegreiflich! Überreichen kann ich das nicht.«
»Warum denn nicht?« fragte begütigend Frau Römer, »die Prinzessin ist noch jünger als ich, sie wird nicht so genau wissen, wie der Strauß aussehen sollte. Sie wird denken: So macht man sie in kleinen Städten.«
»Ja, wenn alle Menschen diese Dinge so harmlos nähmen und die Prinzessin so wenig verstünde wie du!«
Noch einmal sah der Stadtschultheiß prüfend die Blumen an: »Fort mit, geht unmöglich zum feierlichen Empfang. Lieber gar nichts, als etwas Geringes. Schicke den Strauß in den Gasthof, dort ist er verwendbar. Und nun sieh, daß ich ein wenig Ruhe habe, mir meine Rede zu überlegen; auf dem Rathaus war keine Möglichkeit dazu.«
Der Stadtschultheiß begab sich in das abgelegenste Zimmerchen der Wohnung, in das stille Gastzimmer; der kleine Hans wurde zu Anne hinuntergeschickt, die inzwischen einen ganzen Arm voll Tannenzweige herbeigeschleppt hatte und sich bemühte, das an der Hausmauer aufgeschichtete Holz damit zu verdecken. »Behalte den Kleinen, Anne, mein Mann will Ruhe haben,« sagte die junge Mutter.
Kaum ein paar Minuten vergingen, da kam ein Polizeidiener auf das Haus zu. »Ist der Herr Stadtschultheiß droben?« fragte er.
»Ja,« sagte Anne zögernd und ebenso zögernd bejahte es droben die junge Frau. »Ich habe zu melden, daß die Wäscherin Matzbeck Wäsche aufhängt an der Bahnhofstraße, und möchte den Herrn Stadtschultheiß fragen, ob das zu beanstanden ist?«
»Mein Mann ist an der Arbeit,« sagte die Frau, »können Sie der Wäscherin nicht gute Worte geben, daß sie das lassen soll bis morgen?«
»Frau Stadtschultheiß, die Matzbeck ist eine brutale Person und ehe man sich mit ihr einläßt, ist’s besser, daß man weiß, wie der Herr Stadtschultheiß darüber denken.«
Leise trat die junge Frau bei ihrem Mann ein. »Nur einen Augenblick,« sagte sie, und berichtete von des Polizeidieners Meldung. »Sage dem Polizeidiener, die Straßen seien sonntäglich zu halten, hat er es doch selbst ausgeschellt. Am Sonntag wird keine Wäsche aufgehängt.«
Mit diesem Bescheid zog der Polizeidiener ab. Auf der Treppe begegnete ihm der Ratsdiener, ein würdiger älterer Mann. Auch er wollte den Stadtschultheißen sprechen.
»Es muß wohl jetzt sein?« fragte die Frau Stadtschultheiß. »Ja, dringend. Der Schultheiß von N. hat sagen lassen, daß ein Wagen voll Pulver durch unsere Stadt kommen werde.«
»Schadet denn das etwas?«
Der ergraute Ratsdiener sagte fast herablassend: »Ja, Frau Stadtschultheiß, ein Wagen Pulver und Prinzen und Feuerwerk im Städtchen paßt nicht zusammen. Bitte melden Sie es dem Herrn Stadtschultheiß.« Wieder öffnete die junge Frau sachte die Tür des Gastzimmerchens. Etwas gereizt wurde sie da empfangen. »Wenn du die Türe auch leise aufmachst, das hilft mir nichts, ich werde doch aus meinem Gedankengang gerissen. Was gibt es schon wieder?«
»Der Amtsdiener ist da wegen eines Pulverwagens.«
Der Stadtschultheiß warf sein Merkbüchlein beiseite und eilte hinaus. Diese Meldung schien ihm wichtiger als die von der Wäsche, er hörte sie selbst an.
»Der Pulverwagen darf heute nicht hier durchkommen,« war sein Bescheid.
»Er ist aber schon unterwegs, man kann keine Nachricht mehr geben.«
»Schicken Sie ihm einen Eilboten entgegen mit polizeilichem Verbot. Er darf heute auf drei Stunden im Umkreis der Stadt nicht nahe kommen. Ich schreibe sofort den Befehl.« Als der Gerichtsdiener mit diesem Schreiben abgezogen war, sagte die Frau Stadtschultheiß: »Weil du nun doch schon aus deinem Gedankengang gekommen bist, laß dich nur schnell fragen: könnte man nicht den Strauß in die Bauernstube schicken, daß ihn Hans als Bauernjunge der Prinzessin überreicht? Das wäre doch sicher reizend?«
»Wenn du nur immer den Jungen vorschieben kannst, bist du schon glücklich. Mir dagegen kommt es immer sicherer vor, Kinder aus dem Spiel zu lassen.«
»Aber liebster Mann, die Prinzessin ist doch nicht wie du. Einer jungen Frau macht das sicher Spaß.«
»Kann sein, mach es so, aber nun laß mich nur noch eine halbe Stunde in Ruhe.«
Ach wie gerne hätte sie das getan, aber einen Augenblick später sah sie schon wieder den Polizeidiener aufs Haus zukommen. Es war derselbe, der schon einmal wegen der Wäsche, die aufgehängt wurde, da war. Richtig, da kam er schon die Treppe herauf. »Die Wäscherin Matzbeck,« meldete er nun, »hat erklärt, es könne ihr niemand verwehren, bei dem schönen Wetter ihre Wäsche aufzuhängen. Die Frau Stadtschultheiß habe ja auch das Holz vor dem Haus nicht weggeräumt, so streng werde es also nicht genommen. Was Lumpen und dergleichen seien, wolle sie hinten hin hängen, aber ihre schöne Wäsche nehme sie keinem Prinzen zuliebe ab!«
»Ach Hagemann,« sagte die Frau Stadtschultheiß, »können Sie denn nicht der Frau sagen, sie dürfe ihre Wäsche in meinem Garten hinter dem Haus aufhängen? Wir können doch meinen Mann nicht noch einmal wegen der Wäsche fragen.«
»Die tut’s eben nicht! Die kennen Sie schlecht, wenn Sie meinen, daß die jetzt nachgibt und die Wäsche wieder abzieht und in der Frau Stadtschultheiß Garten aufhängt.«
»Ach, so soll sie hängen bleiben, geht denn das nicht?«
»Wenn der Herr Stadtschultheiß die hohen Herrschaften am Bahnhof abholt und vorbeifährt und sieht das, dann fällt die Schuld auf mich.«
»So gehen Sie selbst zu meinem Mann, ich mag ihn nicht schon wieder stören,« sagte die junge Frau und führte den Polizeidiener durch Wohn- und Schlafzimmer bis an das Gaststübchen, wo auf das Klopfen ein sehr deutliches »Herein!« erfolgte. Sie hörte, wie der Mann seinen Rapport machte; ach, auch die Bemerkung, daß sie Holz vor dem Haus hatten, wiederholte er; wäre sie lieber selbst zu ihrem Mann gegangen, das hätte sie gewiß weggelassen! Und nun hörte sie ihren Mann mit starker Stimme sagen: »Die Matzbeck hat die Wäsche binnen einer Viertelstunde vollständig abzuziehen, widrigenfalls die Polizei das Abziehen besorgt. Verstanden? Sie haben für die Ausführung zu sorgen. Was das Holz vor meinem Haus betrifft, so ist das auf der Seite, nicht vorn, und wird überdies so mit Grün überdeckt, daß es zum Schmuck dient.«
Der Polizeidiener ging seiner Wege. Die Frau Stadtschultheiß folgte ihm die Treppe hinunter und überzeugte sich, ob der Holzstoß wirklich zum Schmuck diene. Ja, Anne hatte ihre Sache gut gemacht, und Hänschen hatte noch einen Wedel abbekommen, mit dem er nun fröhlich die Treppe hinaufging. Fast gleichzeitig kam wieder ein Störenfried. Der junge Schreiber war es, der auf dem Rathaus verwendet wurde. In ein paar Sätzen kam er die Treppe herauf gesprungen und fragte eilfertig: »Ist der Herr Stadtschultheiß da?«
»Ja, aber er ist nicht zu sprechen. Was wollen Sie denn, Meyer?«
»Der Vorstand des landwirtschaftlichen Vereins hat mich geschickt von der Wiese draußen. Der Knecht vom Weidenhof hat zur Viehausstellung einen Stier gebracht nur am Strick; er will ihm keine Kette anlegen, wie’s doch vorgeschrieben ist, weil er sagt, das Tier sei’s nicht gewöhnt und werde wild. Der Vorstand hat mich schnell hergeschickt, er fürchtet, es könnte ein Unglück geben.«
»Was meint denn der Vorstand, daß man tun soll?«
»Er meint, man soll sogleich den Herrn Stadtschultheiß fragen.«
Diesmal trat die junge Frau laut bei ihrem Mann ein. »Wenn du nur die Rede früher studiert hättest,« sagte sie, »am letzten Morgen ist doch keine Ruhe! Nun ist wieder etwas los mit einem Stier, soll ich ihn hereinlassen?«
»Den Stier? Du scheinst schon in so grimmiger Laune zu sein,« sagte der Mann, »hast aber keine Ursache dazu, wo du doch gar keine Unannehmlichkeiten von der Sache hast! Übrigens war bis gestern bestimmt, daß der Oberamtmann die Festrede halten solle, und erst heute ließ er mir sagen, daß er sich zu unwohl fühle, sonst wäre ich nicht so spät daran. Daß du auch noch schlechter Laune bist, das fehlte gerade noch an diesem Tage, das ist doch sonst nicht deine Art.« Er ging hinaus und hörte den Bericht wegen des Stiers.
»Der Knecht hat sofort dem Stier die vorschriftsmäßige Kette anzulegen, wobei ihm in der Stallung die nötige Hilfe vom Schlachtmeister geleistet werden soll. Widersetzt er sich, so ist der Knecht in Arrest abzuführen, der Stier von der Ausstellung auszuschließen und im Stall anzuketten.«
Der Stadtschultheiß ging nicht mehr in das Gaststübchen zurück. »Es ist besser, ich kleide mich jetzt an,« sagte er, »und gehe wieder aufs Rathaus, dort ist es noch ruhiger als daheim.« Er verschwand im Schlafzimmer, wo sein Festgewand hergerichtet war. Aber etwas fehlte doch. Nach einer Weile ertönte seine Stimme: »Julie, wo ist meine weiße Halsbinde?«
Frau Römer, die eben ihrem kleinen Mädelein die Flasche reichte, rief: »Auf dem Tisch bei deinem Hut und den Handschuhen.«
»Nein, da ist sie nicht. Könntest du nicht einmal kommen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.«
Schnöde wurde der Kleinen die Flasche vom Munde genommen, die Mutter sprang auf, lieber sollte das Kind warten als der Mann.
»Die Binde muß da liegen, ich habe sie doch hingelegt, ist sie denn vielleicht hinter das Schränkchen gerutscht?«
Nun ging ein Suchen an, das immer ungemütlicher wurde, dazu schrie die Kleine zum Erbarmen.
»So gib mir die andere, die du mir gestern gezeigt hast,« sagte Römer.
»Die war dir ja zu alt und abgewetzt.«
»So schlimm war sie ja nicht, gib sie nur her.«
»Die ist jetzt nicht mehr vorhanden. Ich schicke aber Anne in den Laden, in fünf Minuten ist sie wieder da.« Und hinaus rannte die Frau.
»Anne, schnell, spring so schnell du springen kannst, zu Geschwister Keller; eine weiße Halsbinde für meinen Mann, ich zahle sie morgen.«
Anne flog nur so davon. Die Mutter erbarmte sich inzwischen der schreienden Kleinen, wahrhaftig, Tränen standen dem kleinen Wesen im Auge.
»Wo hast du denn aber die alte Binde hingebracht?« fragte der Stadtschultheiß; »findest du denn auch diese nicht? Das ist aber eine Unordnung!« Nun kam das Geständnis: »Die alte habe ich dem Bubi geschenkt, der hat sich damit geschmückt und soviel Spaß daran gehabt.« Der Mann sagte gar nichts mehr.
Nun kam atemlos Anne zurück. Frau Römer hörte sie kommen und eilte ihr entgegen, mochte immerhin die Kleine wieder eine Pause im Trinken machen. »Fräulein Keller hat keine Binden mehr, sie habe eigens ein halbes Dutzend für den heutigen Tag kommen lassen, aber sie seien alle weggegangen,« berichtete Anne.
»Und im andern Geschäft?«
»Fräulein Keller meint, da gäbe es keine. Aber sie hat gesagt, wenn der Herr Oberamtmann, der gestern schon unwohl war, heute nicht besser sei, so schicke die Frau Oberamtmann die Halsbinde wieder zurück, die sie gekauft habe; das habe sie sich gleich ausbedungen. Und nun meint Fräulein Keller, ich soll bei Frau Oberamtmann anfragen.«
»Natürlich sollst du, Anne, wärst du doch gleich hingesprungen!«
Als Frau Römer wieder zu ihrer Kleinen zurückkehren wollte, sah sie ihren Hans, der mit dem Tannenwedel in der Hand, die weiße Binde um den Hals, militärisch auf dem Gang auf und ab spazierte und dabei laut vor sich hinsang: »Ich bin ein geplagter Mann.« Er nahm sich so drollig aus, der kleine Mann mit seinen dicken roten Bäckchen; heute hatte sie noch kaum einen Blick gehabt für ihren Bubi, sie nickte ihm zu und sah ihn an. War wohl im äußersten Notfall die alte Binde auch jetzt noch zu brauchen? »Laß sehen, Bubi!« Aber was war denn das? Die Binde sah ja schöner aus als gestern. Das war gar nicht die alte – keine Frage, Hans hatte die neue erwischt! Aber sie war noch rein, noch unverdorben. Rasch machte sie sie los unter dringenden Fragen, wie Hans dazu gekommen sei? Genommen hatte er sie, weil er die andere nicht mehr fand. »Bitte, Mama, gib mir dafür eine andere.«
Sie war aber ungnädig, die Mama, einen Klaps gab sie ihm, weiter nichts, und eilte an dem weinenden Töchterchen vorbei rasch zu ihrem Mann. »Da ist die Halsbinde.«
»Wo war sie denn?« Die Mama wollte des Vaters Zorn nicht auf des Kleinen Haupt laden. »Entschuldige,« sagte sie, »ich höre jemand kommen.« Ein Mädchen war draußen. »Höfliche Empfehlungen von Fräulein Keller und sie habe doch noch ins andere Geschäft geschickt, und da seien zwei Binden zur Auswahl.«
»So, so, das ist ja recht freundlich, ich lasse danken.« Und nun kam Anne schnaufend daher: »Der Herr Oberamtmann befinden sich schlechter und können nicht ausgehen. Frau Oberamtmann schickt die beiden Halsbinden, die sie zur Auswahl genommen habe.« Nun waren genug weiße Binden im Haus. Die Frau Stadtschultheiß ließ sich’s aber nicht merken. »Das ist recht, Anne,« sagte sie, »du glühst ja ganz.«
»Es ist bloß von der Hitze,« antwortete das gute Mädchen.
»Setze dich zu der Kleinen ans Bettchen, ruhe dich ein wenig aus; gib ihr die Flasche vollends, wenn die Milch nicht zu kalt geworden ist.«
Anne ging zu dem Kind. »Sie schläft ja,« sagte sie.
»So? Hat sie die Hoffnung aufgegeben, da hat sie recht; es ist eine verständige Tochter.«
Der Stadtschultheiß kam nun im festlichen Anzug zum Vorschein und schickte sich an zu gehen.
»Wann kommst du wieder?« fragte seine Frau.
»Ich weiß nicht. Um elf Uhr Empfang, dann auf die Wiese zur Ausstellung; um zwölf Uhr etwa in die Bauernstube – da sehen wir uns wohl einen Augenblick; um ein Uhr Festessen, dann Preisverteilung auf der Wiese. Mit einbrechender Dunkelheit Stadtbeleuchtung – dazu wird dir ja unser Hausherr helfen; dann Felsenbeleuchtung; sodann Abfahrt des Prinzen und der Prinzessin. Zum Abendessen haben wir Herren uns in den Schwan verabredet. Es kann spät werden, ich will den Hausschlüssel mitnehmen.«
Kürzer als sonst, wenn es sich um einen ganzen Tag handelte, verabschiedete sich Römer. Seine Frau wußte nicht recht, war er nur ganz mit seinen Gedanken beschäftigt oder war er nicht recht zufrieden mit ihr. Sie jedenfalls war mit sich selbst nicht zufrieden; er hatte sich heute morgen vom Rathaus heimgeflüchtet und hatte zu Hause nur Verdruß gehabt, das ging ihr nach und bedrückte sie. Kurz vor elf Uhr fuhren die Wagen am Haus vorbei, die die Gäste abholen sollten; in einem saß ihr Mann, er war im Gespräch mit einem anderen Herrn und sah nicht herauf nach dem Fenster, an dem seine Frau stand, mit der Kleinen auf dem Arm, und ihm gern einen Gruß zugewinkt hätte.
Gegen zwölf Uhr machte sie sich mit Hans auf den Weg nach der Bauernstube. Sie begegneten dem Polizeidiener Hagemann.
»Wie ist es denn heute morgen mit der Wäscherin gegangen?« fragte sie ihn.
»Wie ich komme und richte aus, daß die Wäsche polizeilich abgezogen werden soll, sagt die Matzbeck zu mir: ›Was wollen Sie denn? Die Wäsche ist ja schon trocken, die muß ich so wie so abziehen‹, und sie hat sie heruntergenommen.«
»Ist die wirklich so schnell getrocknet?«
»Bewahre, Frau Stadtschultheiß, die Matzbeck hat nur so gesagt, wie sie den Ernst gemerkt hat, weil halt die Weiber immer recht behalten müssen!«
In dem Gemach, das als Bauernstube eingerichtet war, hatten sich einige Damen versammelt, denen der Vorzug zuteil werden sollte, das junge prinzliche Ehepaar zu sehen. Unter ihnen war als jüngste unsere Frau Stadtschultheiß mit ihrem kleinen Jungen, der sich ganz prächtig in bäuerlicher Tracht ausnahm. Er stand nahe dem Fenster hinter seiner kleinen Bäuerin, dem Töchterlein des Oberamtmanns, das man an einen Spinnrocken gesetzt hatte; es war ein nettes Pärchen. Eine der anwesenden Damen, die Frau eines Fabrikbesitzers, die in jungen Jahren als Erzieherin im Hause der Prinzessin angestellt war, gab den Kindern Verhaltungsmaßregeln, wie sie beim Eintritt der Gäste knicksen sollten und wie Hans dann, wenn sie ihm einen Wink gäbe, der Prinzessin den Strauß überreichen sollte.
Im Hintergrund des Zimmers stand ein riesiger Kleiderkasten und neben diesem, unter der geöffneten Türe eines Nebengemachs, hielten sich die Damen auf, um den Eindruck der Bauernstube nicht zu stören. Den Müttern des Pärchens war es nicht behaglich zumute, um so mehr als die Kinder anfingen, ungeduldig und mißmutig zu werden, und Frau Römer dachte daran, was ihr Mann von der Unsicherheit der kleinen Kinder gesagt hatte. Heute wäre es ihr ganz besonders leid gewesen, wenn ihr Hans irgend welche Störung verursacht hätte. Nun hörte man die Erwarteten kommen; rasch zogen sich die Damen zurück, nur die Frau des Fabrikbesitzers als persönliche Bekannte der Prinzessin hielt sich in der Nähe der Kinder, grüßte nun mit einer tadellosen Verbeugung die Eintretenden und wurde auch von der jungen Prinzessin sofort erkannt und begrüßt. Hinter den hohen, jugendlichen Gestalten des Prinzen und seiner Gemahlin erschienen als Begleiter mehrere Herren, worunter der Stadtschultheiß und der Vorstand des Landwirtschaftlichen Vereins, der nun auf alle Eigentümlichkeiten der schwäbischen Bauernstube aufmerksam machte. »Einige Damen,« sagte er, indem er in den Hintergrund deutete, »haben sich besonders bemüht um die getreue Ausstattung und haben auch echte kleine Bewohner gestellt.«
Die Prinzessin näherte sich freundlich den Kindern, der Prinz folgte, an seiner Seite der Stadtschultheiß. »Was stellst du denn vor?« fragte die Prinzessin das kleine Mädchen, sich freundlich zu ihr beugend.
»Ich bin eine Bäuerin von der schwäbischen Alb,« antwortete die Kleine mit höflichem Knicks. »Und du?« fragte sie, sich Hans zuwendend. Der sah sehr ernsthaft zu der schönen jungen Frau auf und antwortete mit tiefer Empfindung: »Ich bin ein geplagter Mann.« Über diese unverhoffte Antwort entstand große Heiterkeit. Der Prinz lachte laut und herzlich und sagte dann, zu Römer gewandt: »Da muß man unwillkürlich fragen, was ist denn der Papa dieses Kleinen?«
Römer sagte lächelnd: »Er ist hier Stadtschultheiß.«
»Das läßt allerlei Schlüsse zu,« entgegnete heiter der Prinz; »ja, ja, an dieser Äußerung bin ich vielleicht gar nicht ganz unschuldig!«
Hans hielt noch immer seinen Strauß, obwohl er schon leichte Winke von verschiedenen Seiten bekommen hatte. Die Dame, die hinter ihm stand, merkte, daß sie deutlicher werden mußte. »Hans,« sagte sie, »du willst ja deinen Strauß der Frau Prinzessin geben!«
»Oder vielleicht der Mama?« rief der Kleine und sprang lustig durchs Zimmer auf seine Mutter zu, die sich ganz bescheiden hinter die älteren Damen zurückgezogen hatte. So war denn richtig die Störung eingetreten. Was tun? Eine Unterhandlung konnte Frau Römer nicht mit dem Kind anfangen, so folgte sie einer raschen Eingebung, nahm den Strauß aus der Kinderhand, trat mit Hänschen vor und sagte bittend zur Prinzessin: »Wollen Sie die Blumen wohl von mir annehmen?«
»Ja gewiß, gern,« sagte die Prinzessin liebenswürdig, »was haben Sie für einen prächtigen Jungen, er hat uns den größten Spaß gemacht, der kleine geplagte Mann.«
Noch ein paar Minuten verweilten die Gäste, dann verließen sie die Stube; der ganze Aufenthalt hatte vielleicht zehn Minuten gedauert und wieviel Arbeit und Überlegung hatte die Herstellung der Bauernstube gekostet!
Die Frauen blieben allein mit den Kindern zurück. Lebhaft wurde das Vorgefallene besprochen. »Es hat sich alles ganz gut gemacht,« entschied schließlich die ehemalige Erzieherin als Sachverständige, »nur das eine war ein faux pas,
liebe Frau Stadtschultheiß, Sie hätten sagen müssen: ›Wollen Königliche Hoheit die Blumen annehmen‹; wollen ›Sie‹ ist doch gar zu vertraulich. Aber die Prinzessin wird es Ihnen nicht nachtragen,« setzte sie begütigend hinzu.
Der jungen Frau Römer war es beklommen zumute. Wie die prinzlichen Hoheiten über sie dächten, das war es nicht, was sie bekümmerte, aber ob ihr Mann über sie und das Kind ärgerlich war? Als sie mit ihrem kleinen Bauernjungen in diesen Gedanken heimging, sagte sie sich, daß am Abend die schöne Beleuchtung ihres Hauses alles wieder gut machen müsse. Ihr Mann sollte es sehen, wenn er mit dem Prinzen vorbeifuhr, daß sie doch ein Gefühl dafür hatte, was der richtigen Stadtschultheißin geziemte, trotz des Holzstoßes vor dem Haus, trotz des Zwischenfalls in der Bauernstube.
Dreihundert kleine irdene Schälchen hatte sie sich beim Seifensieder mit Unschlitt füllen lassen und nun machte sie sich daran, jedem einzelnen Döchtchen einen Tropfen Petroleum zu geben, denn vom Seifensieder hatte sie gehört, daß sie auf diese Weise am leichtesten anzuzünden wären. Ja, von ihr aus war alles bereit, wenn sich nur endlich der Schreiner gezeigt hätte!
Der Nachmittag rückte vor, dreimal hatte sie Anne hinuntergeschickt und jedesmal hatte diese die Antwort gebracht, Herr Wahl werde jetzt gleich kommen.
Endlich ging sie selbst hinunter. »Aber Frau Wahl, was ist denn mit Ihrem Mann? Warum kommt er denn nicht?«
Die Frau versicherte, daß sie ihn seit zwei Stunden erwarte. Sie wollte sich jetzt aber selbst auf den Weg machen, ihren Mann zu suchen. Es dauerte gewiß eine Stunde, bis sie ihn endlich brachte, aber er war in schlimmer Verfassung. Mit schwerer Zunge versicherte er, daß er die Sache gleich besorgen werde. Wieder verstrich eine Weile, da kam seine Frau herauf und sagte beschämt: »Es ist meinem Mann nicht gut, er hat sich aufs Bett gelegt; es wird auch besser sein, er schläft ein wenig.«
Unsere junge Frau war so entrüstet, daß sie kein Wort mehr für die Hausfrau hatte; auf den Schreiner mußte sie ja doch verzichten. »Anne,« sagte sie, »was tun wir jetzt, wer kann uns helfen?«
»Ich weiß, was wir tun,« sagte Anne. »Ich steige selbst auf die Leiter, wenn’s dunkel wird und die Leute es nicht so bemerken. Ich will nur erst einmal nach der Leiter sehen, ob die wenigstens imstand ist.« Hinter dem Haus, an dem Holzschuppen war sie aufbewahrt. Anne schleppte sie herbei, Frau Römer sah vom Fenster aus zu. Nun lehnte die Leiter am Haus. »Sie ist ja zu kurz!« rief Anne herauf.
»Freilich, das habe ich immer gefürchtet!«
»Was machen Sie denn da?« fragte der Bäcker, der gegenüber wohnte und neugierig herbeikam. Frau Römer schöpfte Hoffnung. Der Mann konnte vielleicht helfen. Sie von oben und Anne von unten legten ihm den Plan dar. Die Lichter sollten an dem vorspringenden Sims, der die Front des Hauses schmückte, angebracht werden. »Hat das der Herr Stadtschultheiß angeordnet?« fragte er.
»Nein, ich möchte es ja zu seiner Überraschung tun.« Der Mann schüttelte den Kopf und schwieg. Unsere junge Frau oben sah das, und wahrhaftig stampfte sie ein wenig mit dem Fuß, – ihre Ungeduld war zu groß. »Die Leute hier sind doch unausstehlich langweilig und schwerfällig,« dachte sie, »hätte ich nur meine Hamburger hier!«
»Frau Stadtschultheiß,« rief von unten der Bäcker, »wenn ich etwas sagen darf, dann rate ich Ihnen, lassen Sie das bleiben. Erstens hängen die Fahnen über dem Sims und könnten Feuer fangen, und zweitens ist’s auch zugig an der Ecke, der Wind bläst doch alles aus.«
Was war dagegen vorzubringen? Frau Römer schwieg. Aber Anne ergab sich nicht so schnell. »O Herr Breitling,« sagte sie, »Sie wollen nur nicht. Die Fahnen könnte man einziehen, wenn’s Nacht wird, und wie sollten denn die Lichter auslöschen, da könnte ja kein Mensch beleuchten. Gehen Sie zu, helfen Sie uns auch ein wenig, hole ich doch alle Tage die Wecken bei Ihnen und am Sonntag die Brezeln!«
Der Mann sagte darauf gar nichts, zog sein Feuerzeug aus der Tasche und zündete ein Streichhölzchen an – im Nu war es vom Wind ausgeblasen. »Glauben Sie’s jetzt?« sagte er, »in der Fensternische, da geht’s, da sind die Lichter geschützt, aber, frei längs der Hausmauer, da löschen alle aus. Helfen tät ich gern, daran fehlt’s nicht.«
Einen Augenblick war es stille. »Anne, trage die Leiter an ihren Platz,« ließ sich nun von oben eine bekümmerte Stimme vernehmen, und das Fenster wurde geschlossen. Heute wollte doch auch gar nichts gelingen! Zum Weinen war es der jungen Frau, als sie ihre dreihundert Lämpchen sah. Sie hatte es sich etwas kosten lassen! Wie schön hatte sie es sich ausgemalt!
Anne kam herein. »Das sind Leute,« sagte sie, »der Schreiner und der Bäcker!«
»Gegen den Bäcker will ich nichts sagen, aber der Schreiner!«
Ja, der Schreiner, über den entlud sich nun der ganze Zorn, denn einen Sündenbock will der Mensch haben.
Es wurde dunkel. Da und dort zündeten Leute schon Lämpchen an. Ein kühler Abendwind erhob sich. »Wir haben wenigstens viele Fenster,« sagte Frau Römer, »und Lichter für beide Stockwerke.« Und nun fing sie oben im Dachstock an den Kammern an und stellte einstweilen die Lämpchen vor die Fenster, eines dicht ans andere; es war ja keine Gefahr, daß sie nicht reichten. Dann ebenso an allen Fenstern des ersten Stockwerks. In der Ferne hörte man ein Knattern und Knallen von Raketen, und die großen Felsen, die das Städtchen auf einer Seite umsäumten, erglänzten in bengalischer Beleuchtung.
Jetzt war es Zeit zum Anzünden. Anne wurde hinaufgeschickt, es in der Kammer zu besorgen; unten wollte es Frau Römer tun. Aber der Wind, der Wind! Kaum brannten zwei, drei Flämmchen, so kam der starke Luftzug und blies sie aus. Und gerade auf der Seite des Eckhauses, die freistand und die von weiter Ferne beim Hereinfahren von den Felsen den Gästen ins Auge fallen mußte, gerade auf dieser Seite löschten beharrlich die schwachen Flämmchen aus. Wie war es denn wohl in den andern Häusern? Die junge Frau lehnte sich hinaus und sah an der Häuserreihe hinunter – schön beleuchtet glänzte sie ihr entgegen, Licht an Licht. Sie meinte es wenigstens, denn daß auch an den anderen Häusern viele Lichter wieder verlöscht waren, konnte sie nicht erkennen; sie sah nur, was brannte, und das war freilich mehr als an diesem ausgesetzten Punkt. Jetzt kam auch Anne verzweifelt herunter. »Droben verlöschen sie alle! wie ist’s denn unten?«
»Ebenso!«
»Meines brennt,« rief vergnügt der kleine Hans, der vor einem angezündeten Lämpchen stand, das auf dem Tisch hell brannte.
»Ja, im Zimmer, das glaube ich gern,« sagte Anne.
»Anne, ich weiß, wie wir es machen, wir stellen sie herein auf den inneren Fenstersims!« rief jetzt Frau Römer; »schnell, geh hinunter vors Haus und sieh, wie es sich ausnimmt,« und während das Mädchen hinuntersprang, legte sie ein paar Bücher auf den inneren Sims des geschlossenen Fensters und stellte die Lichter hoch. Anne kam wieder: »Prächtig sieht’s aus, kein Mensch bemerkt, daß die Lichter nicht außen stehen, die Fenster sind ja alle frisch geputzt.«
Jetzt ging es ans Werk. »Hans, bring alle deine Bausteine herbei, schnell, schnell!« und mit Bausteinen und Büchern wurden nun sämtliche Fenstersimse so hoch belegt, daß die Lichter durch die Scheiben sichtbar wurden. Und dann wurden sie angezündet. Ob es nun wohl ging? Unsere junge Frau hätte sich ja nicht gewundert, wenn heute Lämpchen und Zündhölzer ihren Dienst versagt hätten. Aber sie brannten so gutmütig an, stellten sich ganz unschuldig. Einen Qualm gab das freilich in die Zimmer! Im Eckzimmer mit seinen vier Fenstern allein vierzig Unschlittlichtchen! und nirgends konnte man ein Fenster öffnen. Einerlei, wenn man auch nicht mehr im Zimmer atmen konnte, wenn es nur hell hinunterleuchtete! Und das tat es! Eine strahlende Helle war in allen Zimmern, und Anne nahm Hänschen mit hinunter, daß er es von der Straße aus sehen konnte. »Darf ich ein wenig mit ihm fortrennen zum Feuerwerk?« rief sie herauf.
»Ja, ja, geht nur miteinander.«
Das kleine Mädelein war aus dem qualmenden Zimmer hinausgeflüchtet worden in die Küche; da schlief sie ganz sanft, während ihre Mutter unruhig im Haus herumging. Die ungewohnte Helle, die zunehmende Hitze hatte etwas Beunruhigendes. Sie ging hinauf in die Kammer. Droben wurde es so heiß, der weiße Lack an den Fenstern fing an zu riechen, alles fühlte sich warm an. Wenn nur kein Brand entstand! Sie lief wieder ins untere Stockwerk, waren doch alle Vorhänge fest zurückgesteckt? Es war fast nicht auszuhalten, die Hitze, der Qualm und dabei die Angst! Eine Kanne Wasser in der Hand ging sie unablässig von einem Zimmer ins andere, wohl eine halbe Stunde lang. Endlich hörte man drunten auf der Straße Wagengerassel. Sie eilte ans Fenster: der Prinz und die Prinzessin, die Herren ihrer Begleitung, darunter der Stadtschultheiß, fuhren am Haus vorüber in den Gasthof zurück; das Feuerwerk war aus, die schaulustige Menge strömte ins Städtchen zurück. Gott Lob und Dank, die Lichter durften ausgelöscht werden!
* * *
Es war neun Uhr abends, Ruhe herrschte im Haus, Frau Römer saß allein auf ihrem kleinen Sofa am Tisch und ruhte aus. Die Kinder und Anne schliefen schon. Ordnung war wiederhergestellt und frische Luft strömte durch die Fenster. Da näherte sich durch die stille Straße ein lauter, fester Tritt, ein Schlüssel wurde in die Haustüre gesteckt. »Mein Mann kann es nicht sein, aber doch ist er’s!« sagte sich die junge Frau und eilte hinaus. Ja, er war es.
»Du kommst schon?« sagte sie erstaunt. »Ich hätte gedacht, heute wird es spät!«
»Ja,« sagte er, »die andern sitzen auch noch fest beisammen!«
»Und du?«
»Ich habe mich in aller Stille davongemacht. Ich wollte auch einmal wieder bei meiner Frau sein.« Dies Wort zerstreute alle Sorgen der jungen Frau, sie fühlte es: alles war schön und gut zwischen ihnen und nun wurde es gemütlich! Sie gingen miteinander ins Zimmer und setzten sich behaglich zusammen.
»Ist das schön, wenn so ein Tag vorbei ist!« sagte Römer.
»Ist alles gut gelungen?«
»So ziemlich,« sagte er. »Die Beleuchtung der Häuser war ja durch den Wind recht lückenhaft, nur unser Haus war glänzend. Schon von ferne fragte mich die Prinzessin, wem dies strahlende Häuschen gehöre. Ich war nicht wenig stolz, hätte fast gesagt: meiner Frau. Das Strahlen wenigstens kam von dir, wie hast du es denn gemacht? Überall sonst waren doch die meisten Lichter verlöscht.«
Sie erzählte all ihre Erlebnisse. »So, deshalb riecht es so merkwürdig im ganzen Haus? Also hast auch du Angst ausgestanden während des Feuerwerks, ich aber auch!«
»Wieso du?«
»Du hast doch heute morgen gehört, daß ein Pulverwagen hier durchkommen wollte. Nun, der Eilbote, der das hintertreiben sollte, der geistreiche Mann, hat den Fußweg eingeschlagen, auf dem er dem Pulverwagen natürlich nicht begegnete! Wie wir nun abends hinausfahren nach den Felsen, die beleuchtet wurden, und aussteigen, kommt der Ratsdiener auf mich zu. Ich seh ihm gleich an, daß etwas nicht in Ordnung ist, ich nehme ihn beiseite. ›Sehen Sie dort hinüber, Herr Stadtschultheiß,‹ sagt er. ›Auf der alten Straße, an der andern Seite vom Fluß, fährt der Pulverwagen!‹ Ich sehe hinüber: langsam bewegt sich dort der große, schwarze Wagen, mit der vorgeschriebenen roten Laterne und dem roten Fähnchen, unheimlich anzusehen. Und dabei steigen schon zischend die Raketen auf und der Wind jagt die Funken nach allen Seiten hoch in die Luft. ›Was ist zu tun?‹ fragte mich der Ratsdiener. ›Es ist nicht mehr zu ändern,‹ sagte ich, ›lassen Sie sich nichts merken, daß kein Schrecken unter den Leuten entsteht. Gehen Sie hinüber, sorgen Sie, daß der Wagen ohne Aufenthalt weiterfährt, aber langsam und ruhig; wenn er nicht umwirft, kann nichts geschehen. Durch den eisernen Deckel dringt kein Funke.‹ Er ist ein wackerer Mann, der alte Ratsdiener, und hat sich heute wieder bewährt, du könntest ihm morgen eine Flasche Wein schicken. Wie er von mir weggeht, höre ich, wie ihn ein Mann anredet: ›Sagen Sie, ist denn das da drüben nicht ein Pulverwagen?‹ ›Das macht doch nichts,‹ sagt der Ratsdiener mit größter Seelenruhe; ›auf dem Wagen können Sie ein Feuerwerk abbrennen und es dringt kein Funke hinein.‹ ›So, so,‹ sagt der andere sofort beruhigt. Du kannst dir aber denken, wie es mir zumute war, während das Feuerwerk so in der Luft herumschwärmte. So oft es unbemerkt ging, mußte ich mich umwenden und hinübersehen nach dem kleinen roten Licht, das allmählich weiterrückte auf der Straße. Langsam kroch die Gefahr davon, bis sie endlich hinter dem Berg verschwand.«
»Und der Prinz hat nichts davon erfahren?«
»Nein, er war in fröhlicher Laune bis zuletzt und ebenso die Prinzessin, die mir noch an der Bahn einen Gruß an Hans auftrug. Er ruht jetzt wohl von seiner Plage?«
Ja, der Kleine ruhte und ebenso genoß der Vater den friedlichen Abend; in der Wohnung des Stadtschultheißen gab es jetzt keinen geplagten Mann!