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III.
ОглавлениеAm Nachmittag stand Mine, das Dienstmädchen von Fräulein Stahlhammer, unter der Haustüre und plauderte mit dem Mädchen des Nachbarhauses. »Ist’s wahr, daß dein Fräulein heute ein Waisenkind mit heimgebracht hat, das ganz bei euch bleiben soll?«
»Es ist schon so, wenigstens für ein halbes Jahr auf Probe; ein kleines nettes Dingchen ist es, das einen ganz treuherzig anblickt. In seinem schwarzen Trauerkleidchen sieht es ganz ernsthaft aus und tut einem leid, so früh verwaist.«
»Nun, es wird’s gut bekommen bei euch, und bald wieder lustig sein.« Aber Mine schüttelte den Kopf. »Ich kann’s nicht brauchen, es muß mir wieder fort aus dem Haus.«
»Wie du redest! Das wird dein Ernst nicht sein!«
»Freilich ist’s mein Ernst. Kann ich ein Kind brauchen? Kann ich wie bisher abends ausgehen, wenn das Fräulein im Verein oder in der Ausschußsitzung ist und das Kind daheim läßt? Kann ich Sonntags hin, wo ich will, wenn das Fräulein im Mägdehaus zum Vorlesen ist und mir das Kind übergibt?«
»Es ist wahr, so gut hast du’s dann nimmer wie bisher, aber du wirst’s nicht ändern können.« – »Das wollen wir erst sehen! Es waren schon einmal zwei Waisenkinder da, aber nicht lange, dafür habe ich gesorgt!«
»Du wirst doch dem unschuldigen Kind nichts tun?«
»Behüt’ mich Gott, da würde ich mich der Sünde fürchten! Im Gegenteil, ich tue ja dem armen Würmchen nur Gutes, wenn ich sorge, daß es anderswohin kommt, wo es lustiger zugeht. Das wird ganz schlau gemacht, du wirst sehen, es bleibt kein halbes Jahr. Aber ich muß hinauf, mein Fräulein hat schon zweimal gerufen; sonst braucht sie nie etwas um diese Zeit, so ist’s eben, wenn ein Kind da ist, fort muß es!«
Oben in dem großen Wohnzimmer saß Fräulein Stahlhammer und ihr gegenüber das Kind. Ihm kam es so unheimlich vor in dem fremden Raum bei der Patin, die sie kaum kannte. Noch nie war die Kleine von zu Hause fort gewesen, und nun überkam sie ein schmerzliches Heimweh, und anstatt die Milch zu trinken, die vor ihr stand, fing sie ganz bitterlich an zu schluchzen. »So war es damals auch,« dachte Fräulein Stahlhammer, »als die zwei Waisenkinder den ersten Tag bei mir zubrachten; es ist Kindern unheimlich bei mir, und wenn die größeren sich nicht bei mir eingewöhnten, wie sollte es das kleine Geschöpfchen fertig bringen?« Ihr Herz trieb sie, Klärchen zu trösten, aber sie wollte dieses Kind nicht auch mit Liebe verwöhnen, sie hielt sich zurück und sagte: »Du wirst wohl müde sein, weil du früh aufgestanden bist; ich will Mine rufen, daß sie dein Bett richtet, dann schläfst du ein Stündchen.« Als das Bett gerichtet war und Fräulein Stahlhammer das weinende Kind ins Schlafzimmer führen wollte, ergriff Mine rasch die kleine Gestalt, hob sie auf den Arm und sagte: »Es wird besser sein, wenn ich sie das erstemal lege, sie fürchtet sich wohl noch vor der großen Patin,« und Fräulein Stahlhammer ließ es zu. Beim Auskleiden sagte Mine zu der Kleinen: »Weinen darfst du nicht, sonst wird die Patin böse, darfst auch nicht merken lassen, daß du nach deiner Mama Heimweh hast. Wenn du Heimweh hast, dann sag’ du’s nur immer mir, vor der Patin sei ganz still.«
Bald hatte Klärchen sich in den Schlaf geweint und Mine verließ das Zimmer. »Ich will schon für das Kind sorgen, wenn es aufwacht, solange Sie in Ihrem Verein sind,« sagte Mine zu Fräulein Stahlhammer und diese dachte: »Wie froh bin ich, daß Mine die Kinder gern hat und besser versteht als ich.« Ehe sie aber in den Verein ging, schlich sie leise in das Schlafzimmer, saß lange an dem Kinderbett, sah auf das liebliche, unschuldige Gesichtchen und flüsterte endlich: »O, wie müßte es so köstlich sein, wenn das kleine Wesen mich lieb haben könnte!«
Klärchen gehörte nicht zu den Kindern, die sich schnell an neue Verhältnisse gewöhnen. In den nächsten Tagen schlich sie gar trübselig umher, die Sehnsucht nach der Mutter und den Brüdern erfüllte ihr ganzes Herz. Es dauerte nicht lange, so machte der Vormund seinen ersten Besuch, denn es lag ihm sehr daran, daß seine Schwester gut zurecht käme mit dem aufgedrungenen Pflegekind. Er traf die Kleine bei dem Mädchen, Fräulein Stahlhammer war nicht zu Hause. »Nun, wie geht es mit dem Kind?« fragte er die ihm wohlbekannte Dienerin. »O, nicht gut, Herr Rat,« antwortete diese, »das Kind gewöhnt sich nicht an seine Patin, es mag sie nicht.« Klärchen stand dabei und sah ängstlich und erschrocken auf, als sie diese Worte hörte und bemerkte, wie sich die Züge des Vormunds verfinsterten. »So etwas sollten Sie gar nicht vor dem Kinde sagen,« sprach er verweisend zu dem Mädchen, nahm Klärchen an der Hand und führte sie in das Zimmer. Er wollte das Kind gehörig ausschelten und ihm den Kopf zurechtsetzen, wie er es seiner Schwester versprochen hatte. Als er aber das kleine Wesen zitternd vor sich stehen sah, so recht wie ein hilfsbedürftiges Geschöpfchen, da kam doch etwas wie Mitleid über den großen, starken Mann. »Ich tue dir nichts,« sagte er, »du brauchst nicht so vor mir zu zittern. Aber höre, was ich dir sage: Dein Vater ist gestorben und deine Mutter ist gestorben, und die Brüder sind fort und euer Haus ist leer. Es ist gar niemand da, der für dich sorgen mag außer deiner Patin; du mußt ihr gehorchen, ihr dankbar sein und sie lieb haben wie deine Mama; sonst bist du ein ganz undankbares Kind, verstehst du das?«
»Ja,« antwortete leise die Kleine.
»Versprich mir, daß du nicht undankbar sein willst.«
»Ich will nicht undankbar sein,« wiederholte Klärchen und sah dabei ganz ernsthaft aus; denn sie hatte die Rede des Vormunds wohl verstanden und fing an zu begreifen, daß die Patin ihr etwas Gutes tun wollte, indem sie sie zu sich nahm, und in ihrem guten Herzen regte sich sofort etwas wie Liebe und Dankbarkeit.
»Mine,« sagte sie später zu dem Mädchen, »ich muß die Patin lieb haben wie meine Mama, sonst bin ich undankbar.«
»Das kann man nicht von dir verlangen,« sagte Mine, »kein Kind hat die Patin so lieb wie seine Mutter, und sie ist ja auch gar keine Mutter und hat dich nicht so lieb wie ihr Kind.«
»Aber gelt, ein bißchen lieb hat sie mich doch, sie hat mich ja auch zu sich genommen.«
»Aber nicht aus Liebe, bloß weil es der Vormund verlangt hat,« sagte Mine. Da fiel ein trüber Schatten über das Gesichtchen der Kleinen und die erwachende Liebe erlosch bei den kalten Worten: »Bloß weil es der Vormund verlangt hat.«