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VI.

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Es war ein Uhr, als Herr Stahlhammer mit seinem Mündel in der Wohnung seiner Schwester ankam. Als Mine die Tür aufmachte und unerwartet an der Hand des Vormunds das Kind vor sich sah, von dem sie schon gehofft hatte, daß es vielleicht für immer wegbleiben würde, machte sie ein sehr erstauntes Gesicht. Für erstaunte Gesichter hatte aber Herr Stahlhammer keinen Sinn. Was er tat, war doch immer vernünftig, und über das Vernünftige hat niemand zu staunen. Er ließ sie deshalb nicht zu Wort kommen, sondern fragte kurz: »Fräulein Stahlhammer zu Hause?« und ging, als dies bejaht wurde, mit dem Kind ins Zimmer. »Ich bringe das Kind zurück,« sagte er zu seiner Schwester und mit einem Blick auf den Tisch, von dem sie offenbar im Begriff war, das Tischtuch wegzunehmen, setzte er mißfällig hinzu: »Schon fertig? Mir unbegreiflich, wie man so frühzeitig essen mag! Ich bin natürlich um mein Essen gekommen durch diese unangenehme Sache.«

Fräulein Stahlhammer sah die unvermuteten Gäste an, den übelgelaunten Bruder und dann das Kind. Da kam es zurück nach zwei Tagen, stand da fremd und verschüchtert, mit deutlichen Spuren vergossener Tränen; einen erfreulichen Anblick boten die beiden nicht! Sie wollte dem Kind den Mantel ausziehen.

»Ich denke, du sorgst zuerst für mich,« sagte der Rat, »das Kind kann sich wohl selbst bedienen.«

Fräulein Stahlhammer ging in die Küche, die Kleine in das Schlafzimmer, ihr Mäntelchen abzulegen. Ach, da stand das leere Puppenbett, nun war es vorbei mit ihrer Selbstbeherrschung! Noch beim Essen fielen die Tränen in die Suppe und es war kein Wunder, daß der Vormund zu seiner Schwester sagte: »Das Kind macht mich nervös mit seinem ewigen Geheul, kannst du nicht Maßregeln treffen, es abzustellen?« Da wurde Mine gerufen, sie sollte die Kleine zu Bett bringen. Fräulein Stahlhammer dachte nicht anders, als daß die Rückkehr zu ihr dem Kinde so schwer falle, denn den wahren Grund des Kummers kannte sie nicht. Kaum war Klärchen mit Mine allein, so brach sie in den Schmerzensruf aus: »Mein Wickelkind habe ich fallen lassen, im kalten Schnee liegt’s auf seinem Gesicht und friert!«

»Leise, leise, daß man dich nicht hört,« mahnte das Mädchen, »warum hast du es nicht aufgehoben, wenn es hinuntergefallen ist?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht!« schluchzte das Kind.

»Sag’s nur niemand, daß du deine Puppe verloren hast, sonst geht dir’s schlecht! Schlupfe unter die Decke, daß man dich nicht weinen hört; so ist’s recht, jetzt schlafe!«

Nachdem der Vormund getafelt hatte, sagte er zu Fräulein Stahlhammer: »Wie gedenkst du das Kind zu strafen dafür, daß es ohne Erlaubnis das Haus verlassen hat?«

»Ach, Bruder, das Kind ist doch genug bestraft; du siehst ja, wie unglücklich es ist. Und überdies ist es nur natürlich, daß es seinem Onkel gefolgt ist.«

»Es muß aber lernen, daß es nichts unternehmen darf ohne deine oder meine Genehmigung. Bestrafst du es jetzt, so weiß es das für künftige Fälle. Das wirst du mir zugeben?« Und als seine Schwester nicht gleich Antwort gab, fügte der Rat etwas gereizt hinzu: »Oder meinst du vielleicht, wenn du sie nicht strafst, sieht sie ihr Unrecht besser ein?«

»Rudolf, du quälst mich. Ich kann das arme Wesen dafür nicht strafen; du kannst das Kind wegnehmen, – ich habe es ja nie gewollt – aber wenn du es bei mir lassen willst, dann muß ich es so behandeln, wie mich mein Herz treibt.«

»Quälen wollte ich dich nicht, nur belehren, aber du läßt dich nicht belehren. Statt Gründe vorzubringen, kommst du mit deinem Herzen. So sieh eben zu, wie du zurechtkommst. Ich will mich nicht weiter einmischen, nur an das eine möchte ich dich noch mahnen: ohne Strenge wird kein Kind erzogen. Erinnere dich, wie hart wir beide erzogen wurden.«

»Gewiß,« sagte die Patin, »das gebe ich ja zu, Strenge muß sein.«

»Nun ja, das wollte ich auch nur betonen; wenn du es in diesem besonderen Fall durchaus nicht für angemessen hältst, so will ich da nicht eingreifen.« So klang die Unterredung noch versöhnlich aus. Ein paar Stunden später war der Vormund auf der Heimreise begriffen.

Wenn wir es mit Klärchen gut meinen, so müssen wir uns jetzt nach ihrem verlorenen Wickelkind umsehen.

Ein altes Mütterchen, das an seinem Fenster saß, während Herr Stahlhammer mit Klärchen vorüberging, hatte die Puppe fallen sehen. Sie öffnete das Fenster; es ging nur nicht so schnell, denn zuerst mußte vorsichtig der Vorhang weggezogen werden. Als sie sich hinauslehnte, waren die Beiden schon ein gutes Stück vom Haus weg und der schwache Ruf der Frau wurde vom Wagengerassel übertönt. Ein kleiner Junge sprang vorüber. »Reich’ mir die Puppe herauf!« rief die alte Frau, und so kam das verlorene Gut in ihre Hände. Sie hatte das ängstliche Zurückschauen Klärchens bemerkt und der schmerzliche Blick ging ihr nach. Wenn sie sich auch immer wieder sagte: »Ein dummes Dinglein ist’s gewesen, daß es seine Puppe nicht aufgehoben hat, es geschieht ihr recht,« so konnte sie sich doch nicht eher beruhigen, als bis sie in das Anzeigeblatt eine Anzeige eingesandt hatte: »Eine Wickelpuppe gefunden. Bahnhofstraße 5 p.«

Als am nächsten Tag Frau Professor Kuhn nach ihrer Gewohnheit den Anzeiger las, fiel ihr Blick auf das Wort »Wickelpuppe«. Sie hatte ja erst mit so viel Liebe eine solche Puppe gekleidet. Gut, daß Klärchen in der Eile wenigstens ihre Schätze noch mitgenommen hatte. Wie traurig, wenn sie auch ihr Wickelkind entbehren müßte! Wo hatte man die Puppe gefunden? In der Bahnhofstraße. Durch die mußte Klärchen mit dem Vormund gekommen sein. Wie merkwürdig, daß zwei Wickelpuppen an diesem Wintertag durch die Bahnhofstraße getragen wurden! Oder sollte es gar die von Klärchen sein? Ja, das Kind hatte so vielerlei zu tragen gehabt; gewiß hatte es die Puppe fallen lassen, ohne es zu bemerken. Die Tante hatte kaum vor den Kindern diese Befürchtung ausgesprochen, als auch Heinrich schon davonrannte nach der Bahnhofstraße. Frohlockend kam er nach kurzer Zeit mit dem kostbaren Gut zurück. Das Lächeln der Vorübergehenden, die den Lateinschüler so fröhlich mit der Wickelpuppe springen sahen, beachtete er nicht. Die Leute meinten wohl, es sei eine gewöhnliche Puppe, ein Spielzeug; aber das war es ja nicht, es war etwas anderes, war Klärchens Ein und Alles!

In der Familie des Professors hatte Klärchens Entführung allgemeine Entrüstung hervorgerufen, und nun, da noch das Mitleid hinzukam, reifte bei Konrad ein Entschluß. Er wollte die Puppe nach Waldeck bringen und dort bleiben über die ganzen Weihnachtsferien, um zu sehen, ob Fräulein Stahlhammer immer so hart gegen ihr Patchen sei, wie es ihnen allen am heiligen Abend erschienen war. Als er am Familientisch diesen Vorschlag machte, kamen von allen Seiten Entgegnungen.

»Fräulein Stahlhammer wird jetzt niemand aus unserem Haus willkommen heißen,« meinte der Onkel; die Tante fürchtete, der Vormund werde es nicht billigen; Heinrich fand, daß er überall sonst seine Ferien lieber zubringen würde als bei Fräulein Stahlhammer. Aber allen wäre es von Wert gewesen, Näheres zu erfahren über Klärchens neue Heimat, und so war das Ende der Beratung doch, daß Konrad nach Waldeck gehen und dort sein Glück probieren solle. Er schnürte sein Bündelchen und machte sich auf den Weg.

An diesem Tag ging Klärchen so müßig umher, daß es der Patin auffallen mußte, denn sie war gewöhnt, die Kleine immer mit ihrer Puppe beschäftigt zu sehen. »Wo ist denn heute deine Puppe?« fragte sie. Klärchen erschrak, nach Mines Warnung wagte sie nicht die Wahrheit zu sagen. »Hole doch deine Puppe herein,« wiederholte Fräulein Stahlhammer, »wo hast du sie denn?«

»Ich weiß nicht,« sagte Klärchen.

»So suche oder frage Mine danach.«

Klärchen ging in die Küche. »Mine, was soll ich sagen, die Patin fragt nach der Puppe?«

»Sagst nur, du habest sie bei der Tante gelassen.«

»Ich habe aber schon gesagt, daß ich nicht wisse, wo sie ist.«

»Dann sagst du wieder so.«

Lange scheute sich die Kleine, wieder ins Zimmer zu gehen; als sie es endlich tat, stand Fräulein Stahlhammer in Hut und Mantel da, im Begriff, einen Ausgang zu machen. Klärchen hoffte schon, sie würde nicht mehr gefragt, aber das erste Wort der Patin war: »Nun, hast du die Puppe? Hast du sie nicht gefunden? Und Mine auch nicht?« Die Kleine war in sichtlicher Verlegenheit, die Patin merkte, daß etwas nicht in Richtigkeit war. »Nun sag’ mir einmal, wo sie ist, Klärchen?« Da schlug die Kleine die Augen nieder und sagte: »Ich weiß nicht.«

Fräulein Stahlhammer suchte Mine auf. »Das Kind will mir nicht sagen, wo die Puppe ist. Wissen Sie etwas davon?«

»Ach, das arme Wurm getraut sich’s nur nicht zu gestehen, sie hat ja die Puppe mit auf die Reise genommen und unterwegs verloren.«

Fräulein Stahlhammer war peinlich berührt. Das Kind hatte Mine ihr Vertrauen geschenkt, ihr selbst aber die Unwahrheit gesagt. Ja, diesmal mußte Strafe sein; das war ein anderer Fall, lügen durfte das Kind nicht, um keinen Preis. Als sie wieder ins Zimmer kam, warf die Kleine einen ängstlichen Blick auf sie, ein böses Gewissen war deutlich auf dem Gesicht geschrieben. »Klärchen,« sagte die Patin, »warum hast du mir nicht gesagt, daß du deine Puppe verloren hast? Warum hast du gesagt: ich weiß nicht? Da hast du mich angelogen, und das ist ganz abscheulich, so mag ich dich nicht, und so mag der liebe Gott dich nicht. Sieh, wenn ein Kind so böse ist, dann wird es genommen und zur Strafe da hinauf gesetzt.« Mit diesen Worten faßte Fräulein Stahlhammer die kleine Gestalt, hob sie hoch hinauf und setzte sie oben auf den Schrank, der an der Wand stand. Die Kleine schrie, streckte beide Arme ängstlich an die Wand und wagte gar nicht, von der Höhe herunter zu schauen. »Da bleibst du nun sitzen,« sagte Fräulein Stahlhammer, »und nimmst dir vor, daß du ein andermal nicht mehr lügen willst. Alle unartigen Kinder werden da oben ganz brav. Sei nur still, denn solange du noch weinst, bist du noch ganz unartig und fällst vielleicht herunter. Wenn du aber brav sein willst und ruhig, dann kannst du gar nicht fallen, und wenn ich heimkomme, hebe ich dich herunter.«

Als Klärchen das hörte, war sie ganz still; die Patin ging. Draußen sagte sie noch zu Mine: »Ich habe das Kind zur Strafe auf den Schrank gesetzt. Wenn ich in einer halben Stunde nicht kommen sollte, dann holen Sie sie herunter, aber früher nicht.«

Die Patin ging; neugierig schlich Mine sich ins Zimmer. Wirklich, da saß die Kleine hoch droben, regungslos an die Wand gedrückt. Mine fühlte sich selbst schuldig, ihr Gewissen schlug, gerne hätte sie die Kleine aus ihrer Lage erlöst. »Ich möchte dich gerne herunterholen, Klärchen,« sagte sie, »aber wenn die Patin vielleicht noch einmal umkehrt, zankt sie.«

»Nein, du darfst mich nicht holen, sonst falle ich,« sagte Klärchen. »Bloß, wenn man brav ist, hält man fest, die Patin hat’s gesagt. Gelt, ich bin jetzt brav? Ich lüge jetzt nicht und ich lüge auch das nächstemal nicht, wenn ich ein Wickelkind verliere. Gelt, dann kann ich gar nicht fallen?«

»Nein, nein, du fällst nicht,« beruhigte Mine. Sie hatte wirklich Mitleid. »Ich gehe schnell hinaus, weil jemand geklingelt hat, aber dann komme ich gleich wieder herein zu dir.« Geklingelt hatte Konrad. Daß er gerade in diesem Augenblick erschien, paßte Mine vortrefflich; er sollte nur seine kleine Schwester in ihrer traurigen Lage sehen, das konnte schon zu dem Entschluß beitragen, sie nicht hier zu lassen. Sie führte ihn unvorbereitet ins Zimmer und der gute Junge erschrak, als er sein Klärchen in solcher Höhe erblickte. Sie aber strahlte, als sie ihn hereinkommen sah. »Konrad, Konrad!« rief sie, wagte sich aber nicht zu rühren. »Fräulein Stahlhammer hat sie da hinauf gesetzt,« sagte Mine, »zur Strafe; ich darf es nicht herunterholen, das arme Kind. Gut, daß Sie da sind, dann ist sie doch nicht so allein, denn ich sollte kochen,« und sie eilte in die Küche.

Konrads erster Gedanke war, wie er wohl seine Schwester befreien könne, denn er war empört, sie in dieser hilflosen Lage zu finden. Aber als er nur ein Wort von seiner Absicht sagte, wehrte Klärchen ab. »Ich muß bleiben,« sagte sie, »bis die Patin heimkommt, ich muß still sein, daß ich nicht falle.« »Aber was hast du denn Böses getan?« fragte Konrad, und mit tiefem Ernst im Gesichtchen antwortete die Kleine: »Gelogen!« Das war auch nach Konrads Ermessen ein ernster Fall. »Wegen meinem Wickelkind,« sagte Klärchen. »Konrad, es ist in den Schnee gefallen,« und nun brach wieder der Jammer hervor. Aber da hatte Konrad den besten Trost. Schnell packte er sein kleines Ränzchen aus und hob hoch in die Höhe, daß es Klärchen wohl hätte erreichen können, das wiedergefundene Kleinod. Aber so groß auch ihr Verlangen war, sie wagte nicht, sich vorzubeugen. »Mein Wickelkind!« rief sie und winkte zärtlich mit den Händchen. »Warte, ich bringe dir’s.« Mit diesen Worten zog Konrad einen Tisch herbei, stieg hinauf und legte die Puppe in Klärchens Arme und nun, da er doch schon so hoch war, schwang er sich vollends auf den Schrank, setzte sich neben die kleine Schwester, legte den Arm hinter sie, und so beschützt fühlte sich die Kleine ganz glücklich; streichelte bald den Bruder, bald die Puppe, bekannte auch ihre Unwahrheit und nahm die brüderlichen Ermahnungen zur Wahrhaftigkeit sehr ernst auf.

Während so das Geschwisterpaar nebeneinander saß, kam Fräulein Stahlhammer mit eilenden Schritten schon wieder auf ihr Haus zu. Sie hatte mehrere Besorgungen machen wollen, aber sie war kaum eine Viertelstunde aus dem Haus gewesen, als der Gedanke an Klärchen sie beunruhigte. Wenn das Kind herunterfiele? Aber sie selbst war auf diesem Strafplatz als kleines Mädchen auch gesessen und öfter als einmal ihr Bruder, und man konnte doch von dem breiten festen Schrank gar nicht herunterfallen. Aber Klärchen war zarter, ängstlicher, wenn sie sich zu sehr aufregte oder wenn sie einschliefe? Nein, sie wollte lieber ihre Ausgänge ein andermal machen und heimgehen. »Ich hätte nicht fortgehen sollen,« sagte sie sich, »aber meine Mutter ist auch einmal fortgegangen.« Ja, Fräulein Stahlhammer wußte es noch genau, ihr Bruder war wohl schon eine Stunde lang zur Strafe droben gesessen, und so oft ihn die Mutter fragte, ob er nun brav sein wolle, hatte er trutzig die Antwort verweigert. So war die Mutter fortgegangen und er hatte bis Abend ausharren müssen. Ob wohl auch Klärchen so trutzig sein würde? Wie würde sie sie wohl finden? Ungewöhnlich rasch stieg sie die Treppe hinauf, schloß die Wohnung auf und öffnete mit wahrem Herzklopfen die Türe des Zimmers. An viele Möglichkeiten hatte sie gedacht, aber an die nicht, daß statt eines Kindes zwei auf dem Schrank sitzen würden. Wie ein Schutzengel erschien ihr der Knabe da oben, der die ängstliche Kleine umschlungen hielt; nur waren die langen Beine, die da in beschmutzten Stiefeln am Schrank herunter hingen, so gar nicht engelhaft anzusehen. Und nun machte der Schutzengel einen Satz herunter auf den Tisch, von da auf den Boden, grüßte in einiger Verlegenheit und sagte: »Ich bin gerade zufällig mit der Puppe gekommen und habe sie Klärchen hinaufgereicht.«

Im ersten Augenblick war Fräulein Stahlhammer nur glücklich gewesen, daß sie das Kind wohlbehalten vor sich sah, im zweiten dachte sie: Hätte lieber mein Bruder statt ihr Bruder Klärchen so getroffen. Was wird er denken und daheim berichten von mir! »Klärchen ist in Strafe,« sagte sie jetzt, »weil sie mir die Wahrheit nicht gesagt hat. Aber sie will jetzt gewiß wieder brav sein,« fuhr sie fort, sich zu dem Kinde wendend und voll Sorge, ob es nun einen peinlichen Auftritt geben werde. »Ich bin schon die ganze Zeit brav gewesen,« sagte Klärchen, »der Schrank hat auch gar nicht gewackelt.«

»So ist’s recht,« sagte die Patin, der es ganz leicht ums Herz wurde, »dann komm, mein Kind!« Und sie faßte Klärchen und hob sie herunter.

Es war inzwischen Mittag geworden und Fräulein Stahlhammer lud Konrad zu Tisch. Er nahm es dankbar an; noch hatte er die Frage nicht über die Lippen gebracht, ob er einige Tage bleiben dürfe. Daheim war er wie ein Märtyrer angesehen worden, daß er seine Ferienzeit bei Fräulein Stahlhammer zubringen wollte, jetzt aber kam er sich nur wie ein zudringlicher Gast vor. Die Schwester kam ihm unwillkürlich zu Hilfe.

»Darf denn der Konrad jetzt oft da essen?« fragte sie und rückte ihren Stuhl ganz dicht an den seinigen.

»Das will er selbst nicht,« sagte Fräulein Stahlhammer, »sonst dürfte er’s wohl.«

»O doch, ich möchte schon, wenn Sie es erlauben,« sagte er, sich an die Patin wendend, »dürfte ich einige Tage dableiben?« Fräulein Stahlhammer schien betroffen. Sie hatte so ein unbestimmtes Gefühl, als habe man ihr einen Kundschafter ins Haus geschickt, denn freiwillig war noch nie ein Kind zu ihr gekommen.

»Warum möchtest du da bleiben?« fragte sie und sah ihn fest dabei an. Unwillkürlich erinnerte sich Konrad, wie er daheim gesagt hatte, er möchte dahinter kommen, wie Fräulein Stahlhammer eigentlich sei, und das harte Urteil, das man über sie gefällt hatte, kam ihm ins Gedächtnis. Er geriet in sichtliche Verlegenheit; den wahren Grund konnte er nicht angeben, Ausflüchte zu machen war er nicht gewöhnt. Aber Fräulein Stahlhammer brauchte auch keine Antwort mehr. Sie wußte genug. Ruhig und fest, ihre große Gestalt stramm aufrichtend, sagte sie: »O ja, du kannst hier bleiben so lange du willst; dein Onkel und deine Tante können auch selbst kommen, und es ist mir sogar lieber, sie bleiben länger da als wenn sie, wie dein Onkel an Weihnachten, auf fünf Minuten kommen und dann ganz falsche Eindrücke mit wegnehmen.«

Es war gut, daß Klärchen in der Herzensfreude über des Bruders längeren Besuch voll Fröhlichkeit war und harmlos plauderte, sonst wäre das Mittagessen wohl etwas peinlich gewesen.

Fräulein Stahlhammer war unwillkürlich zurückhaltend; es lag ihrem Wesen fern, sich einen guten Schein geben zu wollen; sie war in diesen Tagen eher weniger herzlich gegen Klärchen als sonst, und das Kind, da es seinen geliebten Bruder als Gespielen hatte, wandte sich nie an die Patin. Die Geschwister waren viel allein miteinander und da ging der Kleinen das Herz auf, und allmählich kam alles zu Tag, was sie erlebt hatte. Immer kehrte in ihren Berichten der Satz wieder: »Das darf man nicht vor der Patin sagen, Mine hat es verboten.« Auch daß Mine oft fortging und Klärchen ganz allein zu Hause ließ, kam unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit heraus, und Konrad war noch keine acht Tage im Haus, als er schon den Eindruck hatte, daß die anscheinend so wohlmeinende Mine auf sein Schwesterchen nur einen schlimmen Einfluß ausübe, obwohl er nicht recht durchschauen konnte, warum. Mit schwerem Herzen trennte er sich, als die Feiertage vorüber waren, von der Kleinen, die ihn nicht ziehen lassen wollte. Es war ihm, als ließe er sie unter Fremden, während er selbst in einen trauten, fröhlichen Familienkreis heimkehren durfte.

Herr und Frau Professor Kuhn hatten inzwischen einen Beschluß gefaßt. Wenn Konrad mit ungünstigen Berichten zurückkäme, so wollten sie an Ostern, wo einer ihrer Kostgänger abgehen würde, dem Vormund anbieten, Klärchen zu sich zu nehmen.

Und nun kam Konrad, noch betrübt von dem Abschiedsschmerz, und gleich der Beginn seiner Erzählung, wie er die Kleine auf dem Schrank in Strafe getroffen habe, weil sie nicht gewagt habe, das Ungeschick mit der Puppe einzugestehen, erregte einen Sturm der Entrüstung; und als er noch den zweifelhaften Einfluß Mines hervorhob, wurde beschlossen, noch heute an den Vormund zu schreiben. Der Professor faßte einen Brief ab, in dem er sich erbot, Klärchen zu sich zu nehmen, da sie ja nur auf Probe bei Fräulein Stahlhammer untergebracht sei. Die Geschwister wären wohl am glücklichsten, wenn sie beisammen wären.

Herr Stahlhammer saß eben am Frühstück, als der Brief ankam. Er erbrach ihn schon mit gerunzelter Stirne und sie wurde nicht heller beim Durchlesen. Am nächsten Sonntag fuhr er zu seiner Schwester hinaus und legte den Brief vor sie. »Da lies,« sagte er, »dieses Getue mit dem Kind ist mir allmählich zuwider.« Fräulein Stahlhammer las den Brief. Der Kundschafter hatte also keine befriedigende Kunde gebracht. Das tat ihr weh. Sie tat doch an dem Kind was sie konnte. Sie hätte es vielleicht selbst nach einem halben Jahr gern abgegeben, aber daß diese Familie es ihr abverlangte, verletzte sie. Konrad war nett gewesen, sie hatte ihm zugetraut, daß er Gutes berichten würde. Er kam ihr falsch vor. »Was soll ich den Leuten antworten?« fragte ihr Bruder.

»Daß ich das Kind behalten will,« sagte Fräulein Stahlhammer bestimmt.

»Dauernd?«

»Ja, dauernd!«

»Das ist mir sehr angenehm, Schwester. Ich werde dem Professor Bescheid geben und dann wird hoffentlich von dem Mädchen nicht mehr gesprochen, bis es konfirmiert ist; wenn alle Mündel so viel Plage machten, fände man keinen Vormund mehr!« Diesmal zog der Rat sehr befriedigt heimwärts und schrieb ganz artig, er danke für den Vorschlag; seine Schwester wolle das Kind dauernd behalten, es sei dort in vorzüglicher Pflege.

Als nach ihres Bruders Weggehen Fräulein Stahlhammer ihr Pflegekind aufsuchte, und es allein in einer Ecke des Schlafzimmers still sitzend fand, kam es ihr vor, als habe sie dem Kind ein schweres Leid angetan. Ein fröhlicher Familienkreis hatte sich ihr geboten und sie hatte es daraus verbannt durch ihr Wort: »Ich will es behalten.« Und dieses Wort hatte sie nicht aus edlen Gründen gesprochen.

Bitter enttäuscht waren die Brüder, als die abschlägige Antwort des Vormunds eintraf. Zu ändern war daran nichts mehr, das sahen sie ein, aber etwas konnte doch getan werden, so dachte wenigstens Heinrich und er schmiedete ganz im stillen Pläne. Mußte Klärchen bei der Patin bleiben, so sollte wenigstens Mine fort, und das wollte er bewerkstelligen.

Am nächsten Sonntag wanderte er ganz allein nach Waldeck. Von vier bis sechs Uhr war die Patin im Verein der Dienstmädchen, das wußte er. Er strich ums Haus herum, bis er die hohe Gestalt der Fräulein Stahlhammer über die Straße schreiten sah, und bis sie endlich seinen Blicken in der Ferne entschwand; dann ging er hinauf und als ihm Mine öffnete, folgte er ihr in die Küche, ohne nach seiner Schwester zu fragen. Heinrich war ein gut Stück kleiner als Konrad, sah noch recht kindlich aus für seine zwölf Jahre, aber ein schelmisches, aufgewecktes Gesicht sah unter dem welligen Haar hervor.

»Was willst du denn von mir, Heinrich?« fragte das Mädchen verwundert. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, Mine,« sagte er und zog aus seiner Tasche ein Zeitungsblatt hervor. Neugierig sah sie hinein, als er das Blatt aufschlug. »Da lesen Sie einmal, Mine, das ist unser Lokalanzeiger, da sind lauter schöne Stellen für Dienstmädchen ausgeschrieben. Zum Beispiel da: »Ein Dienstmädchen gesucht bei hohem Lohn,« und da »Bei guter Behandlung« und vollends die Anzeige müssen Sie lesen »Alljährlich steigender Lohn und beste Behandlung.« Mit großer Aufmerksamkeit folgte Mine Heinrichs Fingerzeig. »Fein,« sagte sie, »aber ich will ja gar nicht fort von hier.«

»Warum denn nicht? In der großen Stadt ist’s doch schöner.«

»Schon, aber ich habe hier einen guten Bekannten.«

»Ach, gute Bekannte bekommen Sie bei uns auch, sogar einen Jungfrauenverein gibt’s.«

»Das ist doch wieder was anderes,« sagte Mine, »und warum soll ich denn fort?«

»Ich habe eben so gedacht,« sagte der Schelm ganz ernsthaft, »das Klärchen macht doch schon Arbeit und wenn nun mein Bruder und ich auch noch kommen –«

»Zu uns? Ins Haus? Für ganz?«

»Wir Geschwister möchten eben gern beisammen sein und Platz ist ja da. Wir haben freilich viele Sachen. Zum Beispiel meine Raupensammlung; die müßte ich schon in der Küche aufstellen, denn im Zimmer paßt das nicht, weil die Raupen doch manchmal durchgehen.«

»Pfui tausend, sei mir still davon,« sagte Mine.

»Oho, meine Raupen sind schön, da sehen Sie doch einmal,« und auf einmal zog er aus seiner Tasche ein Gläschen, in dem ein paar Raupen von der dicksten Sorte herumkrochen. Er band es auf, Mine wich ein paar Schritte zurück, er folgte ihr.

»Geh mir weg mit dem häßlichen Getier, ich kann’s nicht leiden.«

»So? das ist aber ärgerlich. Denn wo ich bin, da sind auch Raupen und beim besten Willen kann man das nicht vermeiden, daß sie manchmal herumkriechen.«

»Schöne Aussicht!«

»Darum meine ich eben auch, ob Sie nicht einen andern schönen Dienst suchen wollen?«

»Ja, wenn drei Kinder ins Haus kommen und Ungeziefer dazu, dann gern. Es gibt ja auch hier Plätze genug. Mach doch dein Raupenglas wieder zu.«

»Gleich, gleich, lassen Sie doch sehen, ich meine, es krabbelt schon eine an Ihrem Rücken, ja, jetzt kommt sie an den Hals.« Mine tat einen lauten Schrei. »Tu sie weg, du abscheulicher Bub du, gleich tu sie weg!«

»Ja,« sagte Heinrich, »aber sachte, daß ihr nichts geschieht, es ist eine von meinen größten,« und der Schlingel berührte Mine sachte am Hals, so daß sie die Raupe zu verspüren meinte. »Ich bitte dich, Heinrich, sei so gut, nimm sie weg.«

»Ja, wenn Sie mir versprechen, daß Sie gehen.«

»Gern, gern, ich mag ja gar nicht mehr bleiben. Ist das Tier weg?«

»Gleich kommt’s weg. Gehen Sie im nächsten Monat?«

»Ja, ja, auf den Ersten, so bald wie möglich.«

»Dann ist’s recht; da ist ja schon die Raupe wieder im Glas, sehen Sie nur.« Lachend lief er dem zürnenden Mädchen davon. »Jetzt will ich zu Klärchen,« sagte er.

Als sich Mine ein wenig beruhigt hatte, nahm sie das Zeitungsblatt wieder; die feine Stelle mit dem alljährlich wachsenden Lohn fesselte sie doch und gab ihr zu denken; schließlich konnte man seine guten Bekannten auch von der Stadt aus treffen. Heinrich machte sich zeitig auf den Heimweg. Er war in vergnügter Stimmung. Der erste Plan war gelungen, nun kam der zweite. Zu Hause sagte er gar nichts davon, denn Onkel und Tante wollten sich nicht in die Angelegenheiten von Fräulein Stahlhammer mischen; es war ja auch nicht nötig, das konnte er schon selbst besorgen. Er wollte auch Konrad nicht einweihen, denn der hatte immer so vielerlei Bedenken und würde auch jetzt immer nur sagen: »Das geht nicht.« Es mußte aber fein gehen!

Gesammelte Kindergeschichten & Romane von Agnes Sapper

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