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VIII.

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Am nächsten Sonntag, als Mine eben in ihrer Küche abspülte, klingelte es und ein Mädchen meldete sich. Sie sei aus der Stadt hierhergeschickt worden, weil man hier ein Dienstmädchen suche. Mine traute kaum ihren Ohren. »Das ist aber unerhört,« rief sie, »ich habe ja noch gar nicht gekündigt und mein Fräulein weiß von nichts. Wer hat Sie denn geschickt? Gewiß Frau Professor Kuhn?«

»Nein, die kenne ich nicht, im Hof ist’s besprochen worden.«

»Das kann ich nicht begreifen. Ja was mache ich denn jetzt? Versuchen Sie’s eben und gehen Sie hinein. Wenn das Fräulein Sie will, dann soll’s mir auch recht sein.«

»Da ist ein Mädchen,« sagte Mine, indem sie die Türe aufmachte zu dem Eßzimmer und sich rasch wieder zurückzog. Fräulein Stahlhammer saß da, die Zeitung lesend, und Klärchen war mit ihrer Puppe beschäftigt. »Was möchten Sie von mir?« fragte Fräulein Stahlhammer, »wer sind Sie?«

»Katharine Schwarz heiße ich und weil ich gehört habe, daß Sie ein Mädchen suchen, wollte ich mich vorstellen.«

»Das ist jedenfalls eine Verwechselung,« sagte Fräulein Stahlhammer, »ich suche keines. Wer hat Ihnen denn das gesagt?«

»Im Hof ist’s gesprochen worden.«

»So, da wird viel geklatscht. Ich habe mein Mädchen schon seit fünf Jahren und behalte sie auch.«

»Dann bin ich ganz umsonst von der Stadt herüber gefahren,« sagte das Mädchen. »Ich wäre erst so gerne gekommen; so ein stilles Plätzchen bei guten Leuten, das gefiele mir.«

»Das tut mir leid für Sie. Vielleicht ist’s in einem der Nachbarhäuser. Meine Mine weiß das. Kommen sie einmal mit mir in die Küche.« Das Mädchen folgte ihr. »Mine, nehmen Sie sich um das Mädchen an, sie ist irrtümlicher Weise zu uns gekommen. Schenken Sie ihr eine Tasse Kaffee ein, vielleicht wissen Sie hier auch ein Plätzchen für sie.«

Nun waren die beiden zusammen in der Küche; Mine räumte noch ihr letztes Geschirr auf und Katharina ließ sich den Kaffee schmecken, nachdem sie zuerst große Umstände gemacht hatte, ihn anzunehmen. »Da gefiele mir’s,« sagte sie, »so ein freundliches Fräulein, das gleich Kaffee einschenken läßt und so stattlich und hochgewachsen und alles so nobel und fein im Haus, und dem Kind sieht man’s von fern an, wie gut es ist.« Im Lauf des Gesprächs hatte Mine bald herausgebracht, daß kein anderer als Heinrich das Mädchen hergeschickt hatte. Ja, der Schlingel, wenn der wirklich ins Haus kam mit seinen Raupen und der große Bruder auch noch dazu, dann waren ihre guten Tage dahin! Sie hatte ja eigentlich auch versprochen zu gehen.

Inzwischen hatte Klärchen zur Patin gesagt: »Kann das gute Mädchen nicht bei uns bleiben?«

»Wir haben ja unsere Mine,« sagte die Patin, »die ist auch gut.« Fräulein Stahlhammer nahm wieder die Zeitung, aber es war nicht viel mit dem Lesen. Nie hatte sie noch daran gedacht, Mine zu entlassen, und jetzt auf einmal kam ihr der Gedanke, wie verlockend es wäre, mit dem jungen Mädchen, das so freundlich aussah, ganz neu anzufangen. Mine war im Lauf der Jahre so selbständig geworden, sie nahm ihr auch die Kleine ganz aus der Hand. Sie sagte so oft: »Die Kleine spürt’s, daß Sie seine Mutter nicht sind,« das tat ihr jedesmal weh. Ein neues Mädchen würde so etwas nicht denken und jedenfalls nicht sagen. Was wohl Mine zu dem Vorschlag sagen würde, daß sie diesem Mädchen weichen sollte? Unentschlossen ging sie auf und ab, es fehlte ihr der Mut. »Was würde mein Bruder von mir denken?« sagte sie sich selbst, »er würde zu mir sagen: »Du, die große Stahlhammer, traust dich nicht mit deinem Mädchen zu reden?« Wirklich, sie war allmählich dieser Mine gegenüber ganz schüchtern geworden. Sie schämte sich ihrer Schwäche.

»Klärchen, sage doch Mine, sie möge herein kommen.« Mine kam, Klärchen blieb in der Küche und schloß Freundschaft mit Katharine.

»Es scheint ein ordentliches Mädchen zu sein?« sagte Fräulein Stahlhammer zu Mine. »Ja, ein gutes Zeugnis hat sie bei sich und ein armes Ding ist’s, dem’s immer hart gegangen ist bisher.«

Nun nahm Fräulein Stahlhammer einen Anlauf: »Wie wär es, Mine, wenn ich es mit diesem Mädchen versuchte und Sie mit einem andern Dienst?«

Zu Fräulein Stahlhammers großem Erstaunen war Mine’s sofortige Antwort: »Gerade wollte ich’s auch vorschlagen!«

* * *

Einen Monat später war Mine abgezogen, in der Küche hauste das neue Mädchen. Es war der erste Abend. Bisher war es immer Mine gewesen, die Klärchen begleitet hatte, wenn sie zu Bett ging; heute besorgte das die Patin selbst, sie wollte es nun immer tun. Sie blieb noch ein wenig sitzen am Bett der Kleinen und diese plauderte ganz zutraulich. »Kommst du jetzt alle Tage selbst mit mir?« fragte das Kind. »Ja, wenn ich nicht im Verein bin.«

»Hat unsere Katharina auch einen Verein?«

»Nein, Kind, Mine hat ja auch keinen gehabt.«

»Aber sie ist doch oft abends fortgegangen, wenn du fort warst?«

»Wirklich? Das hast du mir nie gesagt. Hat sie dich dann allein gelassen?«

»Ja, aber das hat man gar nicht sagen dürfen, nur dem Konrad habe ich’s gesagt.«

»Das mußt du dir nicht verbieten lassen, Klärchen. Wenn die Katharina einmal will, daß du mir etwas nicht sagst, dann mußt du gleich antworten: Der Patin sage ich alles.«

»So? So soll ich’s machen?« sagte die Kleine ganz verwundert.

»Ja, so sollst du’s machen, so machen es alle lieben kleinen Kinder.«

Die Patin gab dem Kind einen Kuß und beide hatten das Gefühl, es sei etwas weg, das sie bisher getrennt hatte.

Mehrere Sonntage waren vergangen, ohne daß zur Familie des Professors irgend etwas aus dem Hause Stahlhammer gedrungen wäre. Die Brüder scheuten sich, hinzugehen, wußten sie doch nicht, wie Heinrichs Einmischung in die Dienstbotensache aufgenommen worden war. Da begegnete diesem eines Tages auf dem Schulweg Mine, und mit stolzer Befriedigung erfuhr er, daß die von ihm gesandte Katharine wirklich Gnade gefunden und Mine ihr Platz gemacht hatte. Aber Mine wußte auch noch das allerneuste. Fräulein Stahlhammer läge krank zu Bett und werde wahrscheinlich bald sterben. Er hatte das kaum zu Hause erzählt, als seine Tante erklärte: »Das ist für mich die Gelegenheit, endlich einmal Fräulein Stahlhammer aufzusuchen; schon lange liegt es mir schwer auf der Seele, daß kein freundliches Einverständnis zwischen uns herrscht, ich mache ihr einen Krankenbesuch!«

Es war einer der ersten schönen Frühlingstage, als sie hinausfuhr aus der großen Stadt und das hübsche Häuschen aufsuchte, das am Ende des Städtchens lag, ganz nahe an den Anlagen, die bald in den Wald übergingen. Das neue Dienstmädchen fragte Fräulein Stahlhammer gar nicht erst, ob sie zu sprechen sei, sondern ließ den Besuch ohne weiteres ein. Im Schlafzimmer lag, unwohl, aber durchaus nicht schwer krank, Fräulein Stahlhammer im Bett und das Kind saß nahe dabei, spielend an seinem Tischchen.

Die Tante hatte zuerst keine Aufmerksamkeit für das Kind, sie trat ans Bett und sagte: »Ich habe gehört, daß Sie krank sind, und wollte mich deshalb nach Ihnen umsehen.«

»Danke,« sagte Fräulein Stahlhammer, »es geht mir schon besser; aber Ihr Besuch ist mir sehr lieb, ich wollte Ihnen schon in diesen Tagen schreiben und kann es doch nicht recht.«

Hocherfreut über diesen unerwartet freundlichen Empfang setzte sich die Tante ans Bett und nach einigen Reden über die Art der Krankheit sagte Fräulein Stahlhammer: »Was ich mit Ihnen besprechen wollte, mag ich nicht gern vor der Kleinen sagen.«

Lebhaft erhob sich die Tante, trug das Kindertischchen mit allem was darauf lag, in das Wohnzimmer, die kleine Nichte folgte und die zwei Frauen waren allein. »Ich habe Klärchen so viel beobachtet, seit ich krank bin,« sagte die Patin, »sie plaudert immer laut mit ihrer Puppe und da höre ich denn, wie sie so innig von ihrer Mama spricht, wie sie ihrem Puppenkind verspricht, wenn es groß sei, dürfe es zu Onkel und Tante und zu den Brüdern. Ja, einmal, als sie im Eifer des Spiels ganz meine Gegenwart vergessen hatte, hörte ich sie sagen: Wenn du nicht brav bist, mußt du zur Patin nach Waldeck.«

»Das dumme Gänschen,« rief die Tante, »Sie sollten gar nicht darauf hören, was sie mit ihrer Puppe schwätzt.«

»Ich habe es aber gehört,« sagte die Patin, »und ich weiß jetzt, daß sie mein Haus nur als einen Strafplatz ansieht; ich glaube, es war nicht recht von mir, daß ich das Kind von Ihnen fernhalten wollte. So gerne ich Klärchen gehabt hätte, wenn sie sich wohl bei mir gefühlt hätte, so möchte ich sie doch Ihnen übergeben, weil sie bei Ihnen eine glücklichere Kinderzeit haben wird.«

Die Tante merkte wohl, daß es Fräulein Stahlhammer schwer wurde, diese Worte auszusprechen. Sie tat ihr so leid, die einsame Kranke. »Ich begreife nicht,« sagte sie, »warum das Kind Ihre Liebe nicht durchfühlt. Es ist vielleicht ein Mißverständnis dabei. Aber freilich, das Natürlichste ist, daß ein Kind unter andern Kindern aufwächst. Leider sind es bei uns lauter Knaben.«

»Ihnen wird Klärchen ein liebes Töchterchen werden,« sagte Fräulein Stahlhammer.

»Wir nehmen sie auch gerne zu uns. Zu Ostern läßt es sich zwar nicht mehr einrichten, aber von den Sommerferien an können wir sie aufnehmen.«

»Dann behalte ich sie noch diesen Sommer hindurch,« sagte die Patin bereitwillig. »Ihre Brüder können sie besuchen so oft sie wollen, und ich werde ihr auch eine kleine Kamerädin verschaffen. Eine meiner Bekannten hat auch so ein einzelnes Töchterchen im gleichen Alter. Bis jetzt hielt ich das Kind absichtlich fern, damit Klärchen sich mehr an mich anschließe, aber nun, da sie doch fort kommt, ist’s gleichgültig.«

»Bitte sprechen Sie dann selbst mit dem Vormund darüber,« sagte Frau Professor Kuhn, »mein Mann würde wohl nicht gern noch einmal bei ihm seinen Vorschlag wiederholen.«

»Ja, das werde ich tun. Ich weiß, daß seit Weihnachten die beiden Männer nicht gut miteinander stehen. Glauben Sie mir, ich war damals nicht so herzlos, als Sie denken mußten; ich wollte dem Kind am Christfest bescheren, der geputzte Baum stand schon versteckt im Kämmerlein. Das Kind wußte es nur nicht und Mine sagte leider nichts davon.«

»So war es?« sagte die Tante. »Das zu hören freut mich noch nachträglich; ich werde es daheim erzählen, ich selbst war trotz allem Anschein immer von Ihrer edlen Gesinnung überzeugt.« Sie drückte warm die Hand der Patin und fügte herzlich hinzu: »Wenn Sie wieder wohl sind, kommen Sie mit dem Kind zu uns, nicht wahr; wir wollen uns näher kennen lernen und späterhin, wenn Klärchen ganz bei uns ist und Sie besuchen uns, dann werden Sie auf einmal merken, daß das Kind Sie doch lieb hat.«

»Wollen Sie Klärchen rufen? Ich möchte es ihr gleich mitteilen.« Die Tante führte das Kind herein. »Klärchen,« sagte die Patin, sich im Bett aufrichtend, »weißt du, was deine Tante mit mir ausgedacht hat? Im Sommer, wenn deine Brüder Ferien haben, darfst du zu ihnen und darfst ganz und für immer bei Onkel und Tante bleiben!«

»Aber der Vormund holt mich gleich wieder,« sagte Klärchen.

»Diesmal nicht,« sagte die Patin, »jetzt erlaubt er es, er führt dich vielleicht selbst in die Stadt.«

Nun sah man der Kleinen an, daß sie die Wichtigkeit der Nachricht erfaßte. Sie schmiegte sich zärtlich an die Tante und sagte: »Dann bist du meine Mama und der Onkel ist mein Papa und die Brüder sind wieder alle Tage meine Brüder!«

»Ja, so wird es,« sagte die Tante; aber sie schob sanft die Kleine weg zur Patin hin und sagte: »Sieh, deine Patin hat das so eingerichtet, weil sie weiß, daß es dich freut.«

»So,« sagte Klärchen freundlich, »hast du’s eingerichtet? Gelt dann bist du auch froh, wenn ich fort bin, dann sind alle, alle froh!« rief sie in einem Ton, der glückselig klang, wie ihn die Patin noch nicht an ihr gehört hatte.

Fräulein Stahlhammer erholte sich langsam und für diesen Sommer gab sie ihre Tätigkeit in den Vereinen auf, sie sollte so viel wie möglich im Freien sein. Sie nahm Klärchen mit sich zu den täglichen Gängen in den nahen Wald; und nicht nur Klärchen, sondern auch die kleine Altersgenossin, die sie ihr zur Kamerädin bestimmt hatte. Es war ein Ereignis für Klärchen, als zum erstenmal die kleine Mathilde sich zu ihr gesellte, denn eine Freundin hatte sie noch nie gehabt.

Von nun an, wenn Fräulein Stahlhammer an einer Bank am Saume des Waldes Rast machte, spielten die Kinder stundenlang mit ihren Puppen im Moos und Gebüsch und waren voll Fröhlichkeit miteinander. Mathilde kam in aller Unbefangenheit zu Fräulein Stahlhammer mit all ihren Anliegen, und Klärchen, die zuerst staunte über diese Zutraulichkeit, gewöhnte sich bald selbst daran; vergessen schien jetzt die Vergangenheit, vergessen auch die Zukunft, die Gegenwart war schön.

Eines Tages, als Fräulein Stahlhammer wieder auf der Bank im Wald saß und die Kinder spielten, kam des Wegs eine ganze Schar kleiner Mädchen, zwei Lehrerinnen an der Spitze. Sie machten mit ihren Schülerinnen einen Waldspaziergang, und da sie Fräulein Stahlhammer kannten, blieben sie ein wenig stehen und begrüßten sie. Mathilde, die manche der Kinder kannte, kam herbeigesprungen, Klärchen hielt sich zur Patin.

»Im Herbst kommt ihr beiden wohl auch in die Schule, nicht wahr?« sagte eine der Lehrerinnen freundlich zu den Kindern.

»Ich schon,« sagte Mathilde, »ich freue mich darauf, aber Klärchen kommt fort.«

Die lustige Schar zog wieder davon und die Kinder kehrten zu ihren Puppen zurück. Aber Klärchen war nicht recht bei der Sache und nach einer Weile kam sie zögernd zur Bank her, auf der die Patin lesend saß, legte ihr die Hände auf den Schoß und sagte leise: »Patin?«

Diese sah auf die Kleine hinunter: »Was willst du, Kind?«

»Patin, darf ich zu den Brüdern, oder muß ich hin?«

»Du darfst, du mußt nicht.«

»Patin, dann will ich lieber bei dir bleiben, darf ich?«

»Ob du darfst?« sagte die Patin; ihr Buch fiel auf den Boden, denn das Kind war auf einmal auf ihrem Schoß, das Kind, das doch schon bald Schulkind werden sollte; und es schlang beide Arme um ihren Hals und Fräulein Stahlhammer drückte es an sich und besaß nun, was sie so lange gewünscht hatte: ein Kinderherz, das sie lieb hatte! Wie sie es gewonnen hatte, wußte sie selbst nicht zu sagen; seitdem sie nicht mehr danach gestrebt hatte, war es ihr zugefallen. Und es wurde ihr fester, unbestrittener Besitz. Klärchen bestand die Probe: Mit Bangen ließ die Patin das Kind für einige Tage zu den Brüdern zu Besuch, um zu sehen, ob es sich nicht getäuscht habe; aber aus dem lauten Getümmel des knabenreichen Hauses in der Großstadt verlangte es bald zurück in das stille, ländliche Häuschen, zu der Patin und zu der kleinen Freundin. Onkel und Tante freuten sich darüber, auch die Brüder fanden sich nun leicht darein, sahen sie doch ihr Schwesterchen glücklich.

Und der Vormund? Er kam, als er von dem veränderten Entschluß hörte, nach langer Zeit wieder einmal eines Morgens heraus nach Waldeck. Er sagte zu Katharine, die ihm die Türe öffnete: »Wenn Sie mich künftig nicht eine Viertelstunde warten lassen, ist es mir lieber;« die Schwester fragte er: »Hältst du es mit all deinen Beschlüssen so, daß du sie dreimal umstößt?« Er empfahl Klärchen: »Sei nur recht dankbar!« und dann kehrte er mit der Überzeugung, ein gewissenhafter Vormund zu sein, möglichst bald aus dem »elenden Nest« zurück, zur feinen Mittagstafel in der Stadt.

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