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II.

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»Wach’ auf, Klärchen, Herzchen, hörst du mich nicht? Wach’ auf, wach’ auf, ich sage dir etwas.«

Mit diesen Worten bemühte sich am nächsten Morgen in aller Frühe Rike, das Dienstmädchen, Klärchen zu wecken. Das Kind schlug endlich die Augen auf und sah erstaunt auf Rike, die neben ihrem Bett stand und ihr schon die Strümpfe herreichte. Klärchen ging noch nicht in die Schule und so hatte sie bisher ausschlafen dürfen, und es war für sie etwas ganz Ungewohntes, geweckt zu werden. Sie war noch recht kindlich für ihr Alter, ein herziges Mädchen, der Liebling von allen im Haus und selbst voll Liebe für alle, die sie umgaben. »Warum weckst du mich, Rike?« fragte die Kleine ganz neugierig.

»Steh’ nur geschwind auf, ich sag’ dir’s schon, Herzenskind. Aber wir müssen schnell machen,« und nun half Rike dem Kind, das bald ganz munter war, beim Waschen und Ankleiden.

»Aber jetzt sag’ mir doch, Rike, was es gibt?« fragte Klärchen.

»Gestern abend hat der Herr Vormund gesagt, ich soll dich wecken, du sollst mit seiner Schwester abreisen.«

»Mit meiner Patin?«

»Ja.«

»Warum denn?«

»Weil die Mama gestorben ist.«

»Wie lange soll ich bei der Patin bleiben?«

Hatte Rike die Frage überhört? Sie gab keine Antwort darauf, sie knüpfte eifrig Klärchens Stiefelchen zu und beugte sich so darüber, daß Klärchen ihr Gesicht nicht sehen konnte. Plötzlich aber fiel ein Tropfen herunter auf die Stiefel und Rike wischte die Augen. Da blickte Klärchen sie teilnehmend an, strich ihr schmeichelnd mit ihren runden Kinderhändchen über die Backen und sagte: »Gelt, Rike, du bist traurig wegen der Mama.«

Rike konnte nur nicken, griff nach Klärchens schwarzem Kleid, ließ sie hineinschlupfen und sagte dann: »Komm nur schnell, ich habe dir schon dein Frühstück gerichtet, du hast gar nicht mehr lange Zeit.«

»Wo ist der Konrad und der Heinrich?«

»Die schlafen noch.«

»Gehen sie denn nicht mit mir?«

Rike konnte wieder nur mit dem Kopfe schütteln.

In diesem Augenblick klingelte es unten an der Haustüre. Rike sah hinunter. »Wahrhaftig, das ist schon der Herr Vormund. Du sollst herunter kommen, es sei höchste Zeit. Schnell deinen Mantel, so, und deinen Hut!«

»Aber ich soll doch mit der Patin?«

»Die wird am Bahnhof auf dich warten.«

Jetzt war Klärchen fertig und Rike wollte mit ihr hinunter.

»Ich muß aber doch Konrad und Heinrich lebwohl sagen.«

»Du hast keine Zeit mehr, mein Herzchen.«

»O nur einen Augenblick,« rief die Kleine und sprang hinüber in das Schlafzimmer, wo die beiden Brüder, die nachts so spät eingeschlafen waren, noch schliefen. »Lebwohl, Konrad, lebwohl, Heinrich, ich muß zur Patin,« rief sie, aber noch ehe die Brüder recht wach waren, tönte die Hausglocke noch einmal so heftig und laut, daß die Kleine erschreckt hinaussprang und schnell mit Rike die Treppe hinunter eilte.

Der Herr Rat schien sehr ungeduldig, zeigte ein böses Gesicht, und als Rike vollends das Kind noch an sich drückte und ihm unter lautem Schluchzen lebewohl sagte, rief er: »Sie alberne Gans, muß sie dem Kind das Herz noch schwer machen?« Ungeduldig zog er das Kind von ihr weg und führte es in großen, eiligen Schritten nach der Bahn.

Als Rike wieder hinaufkam, wurde sie von Konrad und Heinrich mit Fragen bestürmt. »Wo ist Klärchen hingekommen? Mit wem ist sie gegangen? Warum hat man uns das nicht vorher gesagt? Warum hast du uns nicht früher geweckt?«

Da sie nun hörten, daß der Vormund ausdrücklich befohlen habe, sie nicht zu wecken, geriet Heinrich in eine wahre Wut, wollte der kleinen Schwester nacheilen und sie mit Gewalt zurückholen. Nur mit Mühe konnten Rike und Konrad ihn überzeugen, daß das vergeblich wäre. Wie ein Balsam war es für die aufgeregten Gemüter, als ganz unerwartet in aller Frühe die Tante, Frau Professor Kuhn, eintrat. Sie war die Schwester der verstorbenen Mutter und ihr sehr nahe gestanden. Sie sah sogleich, wie es stand: daß Konrad kaum seinen tiefen Schmerz bemeistern konnte, und Heinrich sich ganz dem Zorn hingab. »Ich habe mir’s gedacht, wie es euch ums Herz sein wird, liebe Kinder, darum bin ich so frühe schon zu euch gekommen. Ich hätte so gerne gestern abend den Vormund bestimmt, daß er die Sache anders einrichte, aber er hielt es so fürs Beste und da konnte ich nichts machen.«

»Das ist einfach grausam und abscheulich vom Vormund,« fuhr Heinrich auf, »uns heimlich so die Schwester wegzunehmen ohne Abschied!«

»Der Kleinen ist’s vielleicht wirklich so am leichtesten geworden,« begütigte die Tante, »sie war gewiß nicht so traurig, als wenn sie euren Schmerz gesehen hätte.«

»Ja, das ist wahr,« sagte Rike, »gar nicht geweint hat sie und so gutwillig hat sie sich fortführen lassen wie ein Lämmlein zur Schlachtbank.«

»Der Vergleich paßt nun doch gottlob nicht,« sagte lächelnd die Tante, »mit der Schlachtbank wollen wir das Haus der Patin nicht vergleichen.« Dabei legte sie den Hut ab, setzte sich zu den Kindern, trank ein Täßchen Kaffee mit ihnen und war so liebreich, daß die Brüder sich allmählich beruhigten.

»Was ist wegen uns beiden beschlossen worden, Tante?« fragte Konrad; »können wir im Haus bleiben?«

»Nein, das nicht, ihr würdet gar bald selbst einsehen, daß ihr in einer Haushaltung ohne Vater und Mutter nicht versorgt wäret. Wenn ihr aber gern zu uns kommt, so nehmen wir euch ganz als Kinder auf, der Onkel und ich. Am liebsten hätten wir freilich euch alle drei mitgenommen, aber wir können es mit dem besten Willen nicht machen. Es wird schon jetzt das Haus fast zu eng sein, aber wir wollen uns gerne behelfen, und meine drei Buben und auch die vier Kostgänger freuen sich auf euch.«

Konrad stand auf, küßte die Tante tief bewegt und dankte ihr für ihre Güte und auch Heinrich war wieder getrost, ohne die Mutter und Klärchen wäre es doch nicht mehr schön gewesen im Haus. Die Tante hatte aber noch einen Trost. »Die Patin wohnt ja in Waldeck, das wißt ihr; es ist nur ein halbes Stündchen mit der Bahn oder ein paar Stunden zu Fuß; da könnt ihr Sonntags Klärchen besuchen.«

»Das ist fein, Tante,« sagte Heinrich. »Wenn nur die Patin so wäre wie du oder die Mutter, dann wäre ich ganz getrost wegen Klärchen. Aber sie ist so ganz anders, ich glaube, Klärchen wird sich fürchten vor ihr.«

»Es soll aber ein vortreffliches Fräulein sein, die Patin; sie tut sehr viel für Arme und Vereine, da muß sie doch ein gutes Herz haben, und Klärchen wird das schon herausfühlen.«

»Wann dürfen wir zu euch übersiedeln, Tante?«

»Sowie ich daheim alles für euch gerüstet habe und hier die Haushaltung aufgelöst ist, holt euch der Onkel. Bis dahin haltet euch still und lieb bei eurer Rike.«

Die Tante ging und die Knaben blieben in dem Haus zurück, das ihnen ganz verändert schien. Seit dem Tod der Mutter und der Abreise des Schwesterchens war jeder Sonnenschein daraus gewichen und sie mußten sich selbst sagen: Es wäre nicht schön, so fortzuleben.

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