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Im Thüringer Wald.
ОглавлениеIm Thüringer Wald, hoch droben zwischen den Bergen, liegt das Dörflein Oberhain. Kleine, schiefergraue Häuslein ohne Scheunen und Ställe, ohne Gärten und Felder stehen eins neben dem andern dicht am Berg, im Schatten der nahen Waldbäume. Wenn im Frühjahr die kleinen Kartoffeläcker bestellt sind, die sich am Berghang hinziehen, ist die Arbeit getan. Im Sommer erklingt nicht das Dengeln der Sensen, denn es gibt kein Heu auf den kleinen, nassen Wiesen. Im Herbst sieht man keinen Erntewagen, denn niemand hat Garben einzubringen; im Winter hört man nicht dreschen, denn es ist kein Korn gewachsen. Keine Viehherde zieht durchs Dorf, nur ein paar Geißen grasen da und dort oder ein Schweinlein läßt sein Grunzen vernehmen. So sieht ein Dorf aus ohne Bauern. Aber doch leben Leute genug in den schieferbedeckten Häuschen, Leute, die von früh bis spät fleißig sind. Was mögen sie wohl treiben?
Es war im Juni des Jahres 1900 früh am Morgen. Aus der Türe eines der Häuschen trat eine kleine Frau; sie war nicht kräftig und rotbackig wie eine Bäuerin, schmächtig und blaß sah sie aus; doch ging sie ganz munter ums Haus und holte von den Reisern, die dort aufgeschichtet lagen, ein Büschel. Die Türe hatte sie weit offen stehen lassen und man konnte durch dieselbe in das Zimmer sehen und in die Kammer daneben. In dieser standen zwei Betten. Aus dem einen war eben die Frau herausgeschlüpft und der Mann lag noch darin. Im andern Bett ruhten zwei Kinder; eigentlich gehörte wohl noch ein drittes hinein, aber das war offenbar herausgefallen, denn es lag auf dem Boden, war halb unter die Bettstatt hinuntergekugelt, schlief aber dort unten ganz ruhig weiter.
Als die Frau mit dem Holz wieder in die Stube kam und Feuer im Ofen anmachte, verließ der Mann das Bett, kleidete sich an, hob den kleinen Kerl unter der Bettstatt hervor, legte ihn in sein Bett und sagte zu seiner Frau: »Den Johann haben sie wieder herausgeworfen, hast nicht gesehen, daß er auf dem Boden gelegen ist?« »Wohl,« sagte die Frau, »aber es ist ja nicht kalt und schadet ihm nichts.«
»Ja, ja, im Sommer tut sich’s noch, aber die Kinder werden alle Tag’ größer, sie haben zu dritt nimmer Platz in dem Bett, wie soll’s im Winter werden?« »Geh, sorg dich nicht um den Winter, jetzt um Pfingsten herum,« sagte munter die kleine Frau und setzte einen Topf voll Kartoffeln aufs Feuer.
Als der anfing zu sprudeln, erwachten die Kinder fast alle zur gleichen Zeit und bald saß die ganze Familie einträchtig um den Tisch. Mit dem Anrichten der Kartoffeln machte die Hausfrau nicht viele Umstände, sie wurden mitten auf den Tisch geschüttet, da kollerten sie schon von selbst nach allen Seiten und jedes langte zu und aß.
»Mutter, der Johann schiebt die Kartoffeln mit den Schalen hinein,« sagte Marie, die Sechsjährige. Aber die Mutter lachte bloß: »Er denkt halt, so geben sie mehr aus,« sagte sie. »Geh, Marie, schäl du sie dem Johann,« mahnte der Vater, und die Schwester tat es auch, aber lange hatte sie nicht die Geduld dazu und einige Schalen bekam der Kleine immerhin noch mit zu essen.
Nach dem Frühstück wischte Frau Greiner mit beiden Armen den Tisch ab, daß die Kartoffelschalen nach rechts und links auf den Boden flogen und rieb mit ihrer Schürze darüber. Vater Greiner war inzwischen an den Ofen gegangen, in dem trotz des warmen Junimorgens noch das Feuer brannte. Dort stand ein Kessel, von dem kein lieblicher Duft ausströmte: Aus alten Papierabfällen und Kreide, aus Mehl und Leimwasser rührte da Greiner einen wunderlichen Brei zusammen und bald brodelte die Masse und erfüllte mit ihrem Dunst das ganze Stübchen. Papiermasché war es, das er da bereitet hatte, und nun ging er an seine Arbeit. Er hatte neben sich eine Anzahl von Formen, so etwa, wie unsere Kinder Formen haben, wenn sie mit Sand spielen. Sie füllen ihre Förmchen mit dem feuchten Sand und pressen ihn hinein, und wenn sie dieselben umstürzen, so stehen kleine Törtchen oder dergleichen da. So füllte Greiner in seine Formen das Papiermasché, drückte es fest an, und was herauskam, das waren Puppenköpfe, lauter Puppenköpfe. Schön sahen diese noch nicht aus, sie waren weiß und weich, hatten noch keine Augen, und vorsichtig mußten sie zum Trocknen auf die Stäbchen gesteckt werden, die an Brettern rings um den Ofen gestellt waren. So saß nun auf seinem Holzstuhl Vater Greiner stundenlang zwischen dem übelriechenden Brei und all den dampfenden Köpfchen, arbeitete und hustete dabei, denn seine Lunge war krank geworden von der schlechten Luft.
Seine Frau hatte aber auch nicht umsonst den Tisch sauber gemacht. Bald lag auf demselben ein Ballen weißen Hemdentuches, aus dem sie Stoff zu Puppenkörpern herausschnitt; das ging so flink, im Nu war ein ganzer Stoß geschnitten. Dann ging’s ans Nähen; ringsum mußte der Balg zugenäht werden, nur oben, wo später der Kopf darauf kommt, blieb er offen. War er genäht, so mußte er umgewendet werden, aber das tat Frau Greiner nie selbst, dazu war ihre Zeit zu kostbar. Jetzt lagen ein paar Bälge fertig genäht da. »Philipp, da komm her,« rief die Mutter dem Fünfjährigen zu, »umwenden! Philippchen, umwenden!«
Das Philippchen wollte nicht recht. Es kugelte mit dem dreijährigen Bruder, dem Johann, auf dem Boden herum; da war so allerlei: Sägspäne, die man beim Ausstopfen der Puppenkörper verstreut hatte, Papierabfälle und Kartoffelschalen; denn nur am Samstag wurde das alles zusammengekehrt, unter der Woche gönnte sich Frau Greiner nicht die Zeit. Und heute war Freitag, da waren schon Abfälle aller Art auf dem Boden und damit unterhielten sich die zwei Kleinen.
»Philippchen, geh zur Mutter,« sagte jetzt der Vater, »wenn die Marie aus der Schule heimkommt, dann darfst du wieder springen, aber jetzt mußt du halt dran, da hilft nichts.« Das Philippchen setzte sich nun auf die Bank am Tisch und nahm einen der genähten Puppenbälge. Er stülpte ihn um, das ging leicht; aber dann kam eine mühsame Arbeit: die Ärmchen und Beinchen umzukehren; doch mit seinen feinen Fingerchen konnte er das besser als große Leute. Wenn er nur auch immer fleißig weiter gearbeitet hätte; aber die Mutter spornte ihn an, wenn er seine Hände ruhen ließ:
»Philipp, was wird der Herr sagen, wenn ich morgen zu ihm nach Sonneberg komme und kann nicht so viel abliefern, als ich versprochen habe!«
»Was sagt er dann, Mutter?«
»So,« sagt er, »so wenig Bälge bringt Ihr? Der Korb ist ja nur halb voll.«
»Was sagst du dann, Mutter?«
»Dann sag’ ich: Ja, Herr, es ist ein Jammer, mein Philipp ist halt so faul.«
»Was sagt dann der Herr, Mutter?«
»Dann sagt er: ›Euch geb’ ich keine Arbeit mehr, da geb’ ich’s lieber dem Haldengreiner, der ist fleißiger.‹
»Und dann, Mutter?«
»Und dann müssen wir alle Hungers sterben.«
Auf das hin regte Philipp fleißig seine Fingerlein und sah eine ganze Weile nicht von seiner Arbeit auf.
»Es ist ein Elend, daß man’s mit allem Fleiß nicht weiter bringt,« fing der Hausvater nach einer Weile an.
»Warte nur, es kommt schon besser,« sagte die Frau, »am letzten Samstag ist in Sonneberg allgemein die Rede gewesen, daß aus Amerika große Bestellungen gekommen sind, da gibt’s Arbeit genug!«
»Was hilft’s, wenn’s nicht besser bezahlt wird? Wir bringen doch nicht mehr fertig.«
»Das mußt nicht meinen. Der Johann ist jetzt schon drei Jahre, mit vier kann man ihn schon anweisen und mit fünf hilft er so viel wie der Philipp!«
»Dafür muß der dann in die Schule, das gibt auch wieder einen Ausfall in der Arbeit.«
»Die paar Schulstunden mußt nicht so rechnen,« sagte die Frau, »die bringen sie bei Nacht herein. Dem Haldengreiner sein Achtjähriger, der hat schon manche Nacht durchgeschafft.«
»Weiß schon, dann schlafen sie in der Schul’, soll gar nicht gut sein für die Kinder; dumm und schwach bleiben sie, hat der alte Lehrer gesagt, und der neue Lehrer sagt’s auch und er hat recht.«
»Geh zu, was der Lehrer sagt, mußt nicht so anschlagen, er möcht’ halt, daß die Kinder lernen. Der alte hat’s immer gewollt, und der neue ist auch nicht besser. Da ist einer wie der andere aufs Lernen aus.«
»Aber ist’s nicht wahr, daß wir Leute schwach sind? Sogar der Schulz sagt, die wenigsten von unseren Burschen geben Soldaten.«
»Was Soldaten, wir brauchen doch keine, es ist ja seit dreißig Jahren Frieden im Land!«
»Jetzt, Frau, du redest aber dumm daher.«
Die Frau lachte. »Wird halt der Lehrer recht haben, daß wir dumm sind. Aber wieviel Nächte hab’ ich auch schon durchgeschafft! Aber was willst denn machen? Wir können’s doch nicht ändern. Geh, stopf du dir die Pfeife, daß dir die schweren Gedanken vergehen, am Samstag bring’ ich dir wieder ein Päckchen Tabak mit.«
Der Trost verfing am besten; über den Qualm der Pfeife kam der sorgliche Hausvater in gemütliche Stimmung.
Inzwischen wurde es immer dumpfer und heißer in dem Stübchen; der Johann wollte auch nicht mehr gut tun, da kam gerade zur rechten Zeit die Schwester aus der Schule heim. Sie hatte noch nicht die Bücher abgelegt, als Philipp schon den Puppenbalg aus der Hand warf, den er eben in Arbeit hatte: »Da, Marie,« rief er, »jetzt komm du her.« »Halt,« sagte der Vater, »zuerst müssen die Köpfe hinaus in die Sonne, so lang bleibst du noch sitzen, Philipp.« Der kleine fünfjährige Arbeiter setzte sich mit weinerlichem Gesicht wieder an die Arbeit; Marie nahm eines der Bretter, auf dem die Köpfe standen, und trug sie hinaus. Sie wußte schon, wie sie’s zu machen hatte: am Gartenzaun wurde ein Köpfchen neben dem andern aufgesteckt, auch auf die Fensterbretter außen wurden sie zum Trocknen gestellt, überall, wo irgend ein Platz zu finden war. An sonnigen Tagen waren gar viele Gärten und Häuser im Dorf so eigenartig geschmückt.
Jetzt kam Marie wieder zurück in die Stube; der kleine Philipp sah begierig auf, ob ihn die Schwester nun ablösen würde. Die aber nahm ihre Schiefertafel, ihr Schulbuch und ihren Griffel und machte alle Anstalten, ihre Schulaufgabe zu schreiben. Aber da erhob sich allgemeine Einsprache: »Was fällt dir denn ein, Marie,« rief die Mutter, »gerad’ nur von der Schul’ heim und wieder schreiben, du bist wohl nicht recht bei Verstand! Als ob wir keine Arbeit hätten! Elias, siehst nicht den Übermut?« rief sie dem Mann zu. Der wandte sich um und wollte auch etwas dagegen sagen, aber da kam der Husten und verhinderte die Einsprache; sie war auch nicht mehr nötig, denn der Philipp fing so laut an zu heulen, daß Marie ihren »Übermut« aufgab, die Bücher beiseite schob und des kleinen Bruders Arbeit nahm, ohne ein Wort zu sagen.
»So, Philippchen,« sagte die Mutter, »jetzt gehst du in die Wirtschaft und holst um zwanzig Pfennige Speck zu Mittag; nimmst auch den Johann mit, daß er auch sein Vergnügen hat.«
»Er hat gar keinen Rock an, darf er im Hemd mit?«
»Den Rock mußt ihm halt anziehen, er liegt in der Kammer auf dem Bett.«
»Ja, der hat schon gestern keinen Häckel mehr gehabt, den kann man nimmer zumachen.«
»Sei nicht so dumm, Philippchen, suchst eben, ob du nicht eine Stecknadel findest, daß der Rock so lange hält, bis ihr wieder heimkommt.«
»Könntest nicht so einen Häckel hinnähen?« fragte der Vater.
»Es ist halt alles zerrissen,« sagte die Mutter, »aber am Sonntag will ich’s schon richten. Johann, gelt, tust dein Röckchen schön halten, daß es auf der Gasse nicht herunterfällt!«
»Das Geld, Mutter, hast keine zwanzig Pfennig?«
»Was fragst so dumm, Philipp, du weißt doch, daß am Freitag das Geld aus ist; sag nur, die Mutter zahlt’s morgen, wenn sie von Sonneberg mit dem Geld heimkommt.« Die Kinder gingen; der Johann hielt mit beiden Händchen seinen Rock hoch, denn die krumme Stecknadel, die der Philipp gefunden hatte, taugte nicht viel und der Rock wollte immer herunterrutschen auf dem Weg zum Wirt, der zugleich der Metzger war.
»Wenn man’s doch richten könnt’,« sagte Greiner zu seiner Frau, »daß man immer gleich bezahlen täte, was man holt!«
»Der Wirt borgt gern,« entgegnete die Frau leichthin.
»Aber doch rechnet er mehr an; elf Pfennige statt zehn, wenn er hat borgen müssen, und der Krämer macht’s auch so.«
»So ist’s halt, Elias, das kannst doch nicht ändern, es war immer schon so.«
»Aber anders wär’s halt doch besser. Wenn man nur ein einziges Mal ein klein Sümmchen ins Haus bekäm’, daß man das alte zahlen könnt’ und das neue auch; von da an dürft’ mir nichts mehr auf Borg geholt werden, kein Lot Kaffee. Aber wir bringen’s nie zu einem Sümmchen und wenn wir uns die Finger wund arbeiten.«
»So red’ doch nicht so viel, mußt sonst doch nur husten, wer kann’s denn wissen, ob’s nicht einmal besser kommt? Deine Schwester ist doch auch eine reiche Frau geworden und lebt in Köln am Rhein und muß gar nichts arbeiten.«
»Ja, die hat ihr Glück gemacht, aber an uns denkt sie nicht; das macht halt, sie ist so jung schon fortgekommen und hat unser Elend vergessen, die weiß gar nicht, wie wohl unsereinem einmal ein Goldstücklein tät! Schon lang hat sie nichts geschickt.«
»Weil sie auch gar so weit weg ist!«
»Von Köln aus könnt’ man schon etwas schicken; unsere Puppen schickt man doch sogar bis nach Amerika.«
»Amerika! Das ist nicht so weit, da fahren die Schiffe alle Tage herüber und hinüber und am Samstag kannst in Sonneberg oft genug so einen Herrn aus Amerika sehen und aus England auch; aber aus Köln kommt keiner, das muß viel weiter weg sein.«
»Viel näher ist’s, Frau, das könntest auch wissen, nach Amerika mußt übers Meer.«
»Und nach Köln wirst über den Rhein müssen, der soll auch so ein großes Wasser sein.«
»Der ist doch nur ein Fluß!«
»Meinetwegen, ich hab’ auch keinen Fluß und kein Meer gesehen.«
Jetzt unterbrachen die Kinder, die den Speck brachten, die Unterhaltung. Die Mutter setzte wieder Kartoffeln zu, und um 12 Uhr legte die ganze Familie für ein Stündchen die eintönige Arbeit beiseite und die müden Hände durften ein wenig ruhen.
»Warum hast heute so schnell deine Schulaufgabe schreiben wollen?« fragte Vater Greiner sein Schulmädchen. Marie wollte nicht heraus mit der Sprache. »Warum, sag’s, bist abgestraft worden? Hast doch gestern abend geschrieben!«
»Ja,« antwortete Marie, »aber der Lehrer hat’s nicht lesen können; ich soll’s bei Tag schreiben, sagt er, gleich zuerst. Denn was wir bei der Nacht schreiben, könne er gar nicht lesen, so schlecht sei’s.«
»Wart nur,« tröstete die Mutter, »im Winter, wenn die stille Zeit kommt und keine Arbeit im Haus, dann kannst schreiben, wann du willst, den ganzen Tag. Aber jetzt geht’s halt nicht, jetzt kommt die strengste Zeit für uns, da muß schon der Lehrer nachgeben.«
Ja, es war strenge Arbeitszeit im ganzen Dorf, denn im Sommer werden die Puppen gemacht, die im Winter auf dem Weihnachtstisch liegen sollen. Bis spät in die Nacht hinein arbeitete Vater Greiner und seine Frau, um alles fertig zu bringen. Am Samstagmorgen standen sie frühe auf. Da wurde der riesengroße Huckelkorb vollgepackt mit all den fertigen Puppenkörpern, die Köpfe wurden in großen Schachteln noch oben auf den Korb geschnürt und ein langes Tuch darüber gebunden. Solch einen Korb aufzuhuckeln, ist ein ganzes Kunststück, und mancher kräftige Mann möchte die Bürde nicht auf sich nehmen. Aber Frau Greiner, so schwächlich sie erschien, war von Jugend auf gewöhnt, die Last zu tragen, und nahm sie auch heute fröhlich auf sich. Ihr Mann zog noch sorglich die Schnur fest, daß nichts ins Wanken geraten konnte von den oben aufgepackten Schachteln, die hoch über den Kopf der Frau hinausragten, und die Kinder sahen ernsthaft zu; sie wußten schon, daß der Samstag immer der wichtigste Tag war, an dem die Mutter die Arbeit ablieferte und neue heimbrachte, und Geld dazu für die ganze Woche. Ein gut Stück Weg liefen sie neben ihr, dann mußten sie umkehren, aber diesmal nicht alle. Für Marie war heute ein besonderer Samstag vor andern, sie durfte mit in die Stadt, und die Mutter wollte für sie einen eigenen Huckelkorb einkaufen, damit sie künftig helfen könnte tragen, wenn es gar zu viel für die Mutter würde.
Und so wanderte sie neben der Mutter her durchs Dörfchen. Aber sie blieben nicht lange allein, denn da und dort kamen aus den kleinen Häusern Frauen und Mädchen mit schwerbeladenen Huckelkörben und mit kleinen Handwagen; sie zogen alle dieselbe Straße nach Sonneberg. Zwischen den schönen Waldbergen hindurch gingen sie gebückt unter der Last, aber doch in fröhlichem Geplauder, und als sie in die Nähe der Stadt kamen, sahen sie von anderen Ortschaften her ähnliche Gestalten der Stadt zupilgern.
»Mutter, was haben die in ihren Körben? Die tragen nicht so schwer wie du,« fragte Marie. »Das sind die von Lauscha,« sagte Frau Greiner, »die machen Glaskugeln und Christbaumschmuck und Puppenaugen. Die sind auch nicht besser bezahlt als wir, aber jetzt paß auf, der dort mit dem schweren Korb, das ist ein Augeneinsetzer, die sind am besten bezahlt.« Achtungsvoll sahen Mutter und Tochter nach dem Mann mit dem schweren Korb.
Nun machte die Straße eine Biegung und Sonneberg, die freundliche Stadt, erschien mit ihren schönen, schiefergedeckten Häusern mitten unter grünen Hügeln. Hier strömten von allen Seiten die Bewohner der umliegenden Ortschaften zusammen und suchten die großen Geschäfte auf, die aus den abgelieferten Köpfen, Körpern und Gliedern die Puppen fertig machen und in alle Welt hinaus versenden. Marie ging neben der Mutter her, sah nach den schönen Häusern hinauf und las die Aufschriften: »Spielwarenfabrik« hieß es an dem einen, »Fabrik gekleideter Puppen« an dem andern, und so fort; die ganze Stadt schien wegen der Puppen da zu sein. Darüber wunderte sich Marie auch gar nicht; ihre Eltern, ja fast alle Menschen, die sie kannte, lebten ja auch durch die Puppen.
Jetzt endlich waren sie an der Fabrik angelangt, für die Greiner arbeitete, und mit Herzklopfen folgte Marie ihrer Mutter durch das große Eingangstor in den Hofraum und durch eine Tür in ein Arbeitszimmer, in dem schon mehrere Frauen und Mädchen standen und warteten.
Eine Frau packte eben die Puppenkörper aus, die sie gebracht hatte, und ein Herr mit der Brille auf der Nase sah einen jeden prüfend an, warf ihn dann neben sich in einen großen Kasten und zählte dabei. Die Frau sah ängstlich zu. Jetzt warf der Herr einen der Körper beiseite und am Schluß noch einen.
»Zwei gehen ab, die sind ungleich gearbeitet, müssen noch einmal aufgetrennt werden.« Die Frau legte sie stillschweigend wieder in ihren Korb, bekam dann einen Zettel, auf dem stand, wieviel sie abgeliefert hatte, und ging mit diesem in das nächste Zimmer, wo sie ausbezahlt wurde und neue Aufträge für die nächste Woche erhielt. So kam eine der Frauen nach der anderen an die Reihe, auch Frau Greiner lieferte ab. Ihre Arbeit wurde tadellos befunden und vergnügt strich sie ihr Geld ein. Für die nächste Woche gab’s Arbeit genug, fast mehr als Frau Greiner versprechen konnte. Der Herr vermerkte es in seinem Buch.
»Mutter, so viel bringen wir doch nicht fertig?« fragte Marie, als sie aus dem Zimmer waren. – »Ich weiß wohl, aber das darf man nicht sagen, sonst heißt’s später, wenn’s weniger Arbeit gibt, gleich: Ihr habt uns auch im Sommer im Stich gelassen, wie die Arbeit drängte.«
»Aber wenn wir’s in dieser Woche nicht fertig bringen? O da möcht’ ich nicht dabei sein, wenn du zu dem Herrn kommst und zu wenig ablieferst, da würd’ ich mich fürchten!«
»Wir werden schon fertig; wenn der Tag nicht reicht, so gibt’s doch noch die Nacht. Jetzt komm, jetzt gehen wir zur Großmutter und schauen, wie’s der Alten geht, und deinen Korb kaufen wir auch.«
Die Großmutter wohnte ganz oben im alten Teil des Städtchens, wo kleine Häuschen in engen Gassen sich am Berg hinziehen. Marie war vor Jahren einmal dagewesen und hatte ihre Großmutter und die Tante, bei der sie wohnte, besuchen dürfen, sie konnte sich’s kaum mehr erinnern.
Sie stiegen eine schmale Treppe hinauf und kamen in einen dunklen Gang. Marie hielt sich an der Mutter. »Gelt, dir kommt’s dunkel vor?« sagte die Mutter, »aber ich find’ gut meinen Weg, ich bin ja da aufgewachsen, und wie ich so alt war wie du, bin ich durch den Gang gesprungen, wie wenn’s heller Tag wär’.« Sie kamen an einer Tür vorbei, man hörte sprechen. »Das ist noch nicht die rechte Stub’, da wohnt ein Stimmacher; weißt so einer, der den Puppen die Stimme einsetzt, daß sie Papa und Mama sagen können. Und da gegenüber ist jetzt einer, der macht Puppenschuh’, hörst nicht seine Maschine?«
»Aber da wohnen viel Leut’, Mutter!«
»Was meinst auch, in Sonneberg sind die Wohnungen gar teuer, aber jetzt sind wir an der rechten Tür, da wohnen wir.« Ohne anzuklopfen machte Frau Greiner die Türe auf: »Guten Tag, Mutter, guten Tag, Regine. Seid ihr wohlauf? Marie, kennst die Großmutter noch? Geh vor, gib ihr die Hand und deiner Tante Regine auch.«
Die alte Frau, die am Fenster saß, nickte freundlich den Ankommenden zu und erwiderte den Gruß. Aber sie stand nicht auf von ihrem Stuhl, denn sie war an der Arbeit. Einen Puppenkopf hatte sie vor sich, einen ganz fertigen, schön bemalten, mit Augen im Kopf, aber oben war das Köpfchen noch offen, dem leimte sie eben das Deckelchen auf, mit dem schön gelockten Haar. Und die Tante, die kniete eben vor dem Ofen und zog aus der Röhre ein Backblech hervor. Aber Kuchen war nicht auf dem Blech, etwas ganz anderes kam zum Vorschein. Glasröhrchen, umwickelt mit blonder und brauner Mohärwolle, die wie Haar aussah, lagen da nebeneinander auf dem Blech und waren im Ofen getrocknet worden. Mit geschickten Fingern streifte Regine die aufgewickelte Wolle vom Glasröhrchen ab, und nun war es eine festgerollte schöne Locke, fertig zum Aufkleben auf den Puppenkopf.
Wenn auch die beiden Frauen ihre Arbeit kaum unterbrachen, waren sie doch freundlich gegen ihre Besuche, fragten nach Mann und Kind und wunderten sich, daß Marie schon so groß sei. Auf dem Ofen stand eine Kanne mit Kaffee. »Schenk dir ein und deiner Marie auch,« sagte die Großmutter, »hol das Brot aus der Schublade und schneid euch ab, es ist euch vergönnt.«
Da saßen sie und aßen und Marie sah dabei auf die Tante, wie sie so blitzschnell die Löckchen abstreifte und von der schönen Mohärwolle, die neben ihr stand, neue feuchte Strängchen um die Glasröhrchen wickelte, daß in kurzer Zeit das Blech wieder voll war und in die Herdröhre wanderte. »Das Frisieren ist schöner als das Bälgemachen, Mutter,« sagte Marie, »das möcht’ ich lieber tun.«
»Gefällt dir’s?« sagte ihre Tante. »Wenn du aus der Schule bist, dann kommst du nur zu uns und hilfst mir. Die Großmutter wird alt, der zittern jetzt schon die Hände.« Aber Frau Greiner lachte. »Du wärst nicht dumm,« sagte sie zu ihrer Schwester. »So lang die Kinder klein sind, soll ich sie haben, und wenn sie aus der Schul’ sind, sollen sie dir verdienen helfen. Die Marie wird schon daheim bleiben müssen. Wir haben jetzt auch Arbeit genug, ich kann sie nimmer allein tragen; einen Korb will ich der Marie kaufen, daß sie mir künftig tragen hilft. Wir müssen gehen, daß wir vor Abend noch heimkommen.«
Stolz kehrte Marie mit dem neuen Huckelkorb auf dem Rücken von Sonneberg heim. Im Dorf hielten sie sich mehr als einmal auf, ehe sie ins eigene Haus kamen. Beim Metzger und beim Krämer, beim Bäcker und bei der Nachbarin, die Geißmilch verkaufte, waren Schulden zu bezahlen und überall wurde noch ein wenig eingekauft, so daß die kleine Barschaft schon ziemlich zusammengeschmolzen war, als sie ihr Haus erreichten. Der kleine Philipp sprang ihnen entgegen.
»Ihr kommt so spät heut’,« sagte er, »es steht schon lang einer da und wartet auf dich.«
»Wer ist’s denn?«
»Der den Stoff verkauft, der will Geld.« »O den kann ich schon gar nicht leiden,« sagte die Mutter, »hätt’ ihn der Vater doch fortgeschickt.« »Der Vater ist auf dem Kartoffelacker, den Johann hat er mitgenommen.«
Vor dem Hause setzte Frau Greiner den Huckelkorb ab, mit dem sie gar nicht durch die niedrige Türe gekonnt hätte, und dann trat sie ins Zimmer. Am Fenster stand der Kaufmann, der von Zeit zu Zeit in den Ort kam und das Tuch verkaufte, aus dem die Puppenkörper angefertigt wurden. Ihm war Frau Greiner viel schuldig, und so ungern sie ihr Geldchen, das sauer verdiente, hergab, so langsam sie auch die Markstücke aufzählte, sie durfte sie doch nicht behalten, sie wanderten in die große Geldbörse des Kaufmanns. Er hätte ihr sonst keinen neuen Stoff gegeben und sie brauchte doch so viel für die Bestellungen, die sie angenommen hatte. Nachdem sie bezahlt hatte, rollte er bereitwillig seinen Ballen auf, und sie konnte von dem schönen weißen Stoff haben so viel sie wollte.
»Wollen Sie ihn nicht gleich zahlen, Frau Greiner, oder wenigstens einen Teil davon? Sie haben ja noch Geld, wie ich sehe, und Sie bekommen jeden Meter um zehn Pfennig billiger, wenn Sie gleich bezahlen.«
Aber Frau Greiner entsetzte sich ordentlich über den Vorschlag. »Noch mehr zahlen!« rief sie. »Was meinen Sie denn, von was sollten wir denn leben in der Woche? Und muß ich nicht auch was zurücklegen für den Hauszins und etwas für die Steuer und für die Sterbekasse? Und gerade heut’, wo wir einen Huckelkorb gekauft haben! Marie, zeig deinen Korb. Sehen Sie? Gleich bar hab’ ich die Hälfte vom Preis auf den Ladentisch hinlegen müssen, sonst hätte ich ihn gar nicht mitbekommen; nein, bis Ende der Woche reicht’s nimmer zu einem Päckchen Zichorie, das kann ich schon jetzt sehen.«
»Nun, ich bin ja zufrieden, ich habe es ja nur gut mit Ihnen gemeint,« beschwichtigte der Kaufmann. »Jetzt ist ja die beste Zeit vom Jahr. Leben Sie wohl, und guten Verdienst!«
Frau Greiner verwahrte das kleine Geldsümmchen im Schrank; auch den Stoff schloß sie sorgfältig hinein, denn am Samstag abend wurde nicht mehr gearbeitet. Der Mann kam ganz erschöpft vom Acker heim, er war die Feldarbeit nicht gewöhnt, auch die Frau war müde von dem langen Marsch. Aber als sie dann mit den Kindern um den Tisch mit den Kartoffeln saßen, wurden sie alle wieder guten Muts. Es sah auch heute abend ganz nett in der Stube aus, die Arbeit war weggeräumt, der Boden aufgekehrt. Das hatte der Mann besorgt, während die Frau in der Stadt war, und nun machte er Feierabend und setzte sich auf die Bank vor dem Haus; die Nachbarn erschienen auch, da und dort standen sie beisammen und plauderten.
Aber die Frauen hatten noch nicht Feierabend. »Schlupft ins Bett, Kinder, daß ich euere Hemden waschen kann,« sagte Frau Greiner. Die Kleinen besaßen jedes nur ein Hemd, das wurde immer in der Nacht von Samstag auf Sonntag gewaschen und am Ofen getrocknet. Marie hatte schon zwei Hemden, dafür mußte sie aber auch schon helfen beim Waschen. Heute kam’s ihr sauer an, sie war so müde, und als die Mutter einmal von der Waschwanne an den Brunnen ging, um Wasser zu holen und wieder ins Haus zurückkam, war die kleine Wäscherin nicht mehr zu sehen und nicht zu errufen – sie war schnell ins Bett geschlupft und schlief schon fest. Frau Greiner lachte und ließ sich’s gefallen.
Am Montag morgen saß die Familie wieder an der Arbeit und jedes von ihnen hätte gedacht, daß dieser Tag und all die nächsten genau so verstreichen würden, wie die vorigen, denn eintönig floß das Leben dieser fleißigen Leute dahin; doch diese Woche brachte einen andern Ton. Er kam durch den ins Haus, der gar oft Aufregung bringt: durch den Postboten. Der Postbote war gar kein so seltener Gast in der Familie Greiner, denn er brachte manchmal Anerbietungen von Kaufleuten, manchmal auch Mahnungen wegen rückständiger Zahlungen. Derentwegen machte er die Türe gar nicht auf, sondern legte sie nur durchs Fenster aufs Gesimse. Heute aber kam er ins Zimmer und sagte: »Daß ihr nur nicht erschreckt: diesmal bringe ich einen Trauerbrief!« Sie erschraken aber doch. »Ich habe ja sonst keine Zeit, die Sachen zu lesen,« sagte der Postbote, »aber die Anzeige habe ich lesen müssen, weil’s mich doch gewundert hat, wer an euch so vornehm schreibt und weil’s so eine ganz besondere Traueranzeige ist.« Er ging. Die Anzeige kam aus Köln. Die Aufschrift lautete: an »Herrn Fabrikbesitzer Greiner mit Familie« und der Inhalt war freilich zum Erschrecken: Herr und Frau Fabrikant Langbeck in Köln waren an einem Tag infolge eines Unglücksfalls plötzlich gestorben. Frau Langbeck war Greiners Schwester. Greiner und seine Frau standen ganz erschüttert beisammen und starrten auf die Nachricht und konnten sie kaum glauben. Und dann hätten sie so gerne Näheres gewußt. Was für ein Unglücksfall konnte das gewesen sein? Immer wieder lasen sie das Blatt, aber es standen nur so wenige Worte darin.
»Haben wir nicht erst in den letzten Tagen von deiner Schwester gesprochen?« sagte Frau Greiner. »Vielleicht gerade in der Stunde, in der sie verunglückt ist; das war eine Ahnung, es war mir gleich damals so traurig zumute.«
Auch die Kinder, die manchmal von ihren reichen Verwandten in Köln gehört hatten, staunten das schwarzgeränderte Papier an, das solche Trauerkunde gebracht hatte. Aber nach einer Viertelstunde saßen Greiner und seine Frau wieder an der Arbeit, und wenn er auch seine Schwester wirklich betrauerte, und wenn sie auch voll Mitleid an die verwaisten Kinder dachte, Zeit durfte nicht versäumt werden; er mußte doch wieder an seine Formen zurück und sie mußte die Bälge nähen, wie wenn nichts geschehen wäre.
Und doch sollte das, was geschehen war, mehr Einfluß auf ihr Leben haben, als sie ahnten. Es vergingen ein paar Tage, da reichte der Postbote wieder einen Brief mit Trauerrand durchs Fenster, der wieder an Herrn Fabrikbesitzer Greiner überschrieben war.
»Was ist aber das!« rief Frau Greiner entsetzt. »Jetzt sind wohl auch noch die Kinder verunglückt. Ich habe doch auch so viel an sie denken müssen. Ich will’s nur gleich vorlesen, du hast ja doch die Hände voll Brei!« Der Brief war von einem Verwandten des verstorbenen Fabrikanten Langbeck. Er teilte mit, es habe sich leider herausgestellt, daß das Geschäft des Verstorbenen zurückgegangen sei und er sein Vermögen eingebüßt habe. Nun müsse gesorgt werden für die drei mittellos hinterbliebenen Kinder: ein Mädchen von sieben Jahren, ein Knabe von vier, und einer von einem halben Jahr. Greiner möchte erklären, ob er nicht eins oder zwei der Waisen aufnehmen könne. Die Kinder seien etwas verwöhnt, weil sie in einem reichen Hause aufgewachsen seien, aber guten Charakters. Nur der vierjährige sei ein wilder Junge und brauche gute Zucht. Baldiger Bescheid wäre erwünscht.
Greiner nahm diese Anfrage schwer auf. Ihn drückte ohnedies die Sorge für seine Familie; es war kein Brot übrig und war kein Platz frei für ein weiteres Familienglied. Er war kränklich und schwach und wollte sich keine neue Lasten aufbürden, die alte drückte ihn schon schwer genug. Aber seine Frau sah’s anders an. »Wir nehmen das Mädchen,« sagte sie, »die Große, die Siebenjährige. Bedenk doch nur den Nutzen! Ein Bett hat sie, denn in reichen Familien hat jedes ein Bett, das muß sie mitbringen, da kann unsere Marie bei ihr schlafen, denk nur die Wohltat. Und dann die Arbeit, die sie tun kann! Sieben Jahre, wahrscheinlich bald acht, gleich kann sie Bälge füllen und jedes Jahr verdient sie mehr. Und dann bedenk doch, es sind doch deiner Schwester Kinder!«
Vater Greiner wurde ganz überstimmt, denn auch die Kinder stellten sich auf der Mutter Seite, Marie vor allem freute sich bei dem Gedanken an eine große Schwester. Aber wenn er auch nicht mehr viel sagte, es lag ihm doch schwer auf der Seele, und oft mußte ihn seine Frau in den nächsten Tagen drängen, bis endlich ein Brief nach Köln abging, in dem sich Greiner bereit erklärte, Edith, das siebenjährige Töchterchen, aufzunehmen. Gleich darauf kam der dritte Brief aus Köln. Er war von der Hand eines jungen Mädchens geschrieben, das als Kinderfräulein in der Familie Langbeck diente, und gerichtet an Frau Greiner. Sie teilte mit, daß Edith, schon ehe Greiners Brief angekommen war, eine freundliche Unterkunft gefunden habe, nicht so die Knaben. Sie bitte nun im Einvernehmen mit dem Vormund herzlich, statt Edith das jüngste Knäblein, den kleinen Alex, aufzunehmen. »Es ist ein goldiges Kind,« schrieb das Fräulein. »Es war unser aller Liebling; ich mag gar nicht daran denken, daß ich mich nun von ihm trennen muß, und ganz gewiß werden auch Sie und Ihr Herr Gemahl die größte Freude an ihm haben, und er wird herrlich gedeihen in der köstlichen Luft des Thüringer Waldes. Ich bin im Begriff, in meine Heimat zu reisen, komme nahe an Thüringen vorbei und wurde von dem Vormund der Kinder gebeten, Ihnen den Kleinen zu übergeben. So bringe ich Alex, wenn Sie nicht abtelegraphieren, schon übermorgen. Alex ist mit Soxhlet[*] aufgezogen, ich bringe diesen deshalb auch mit. Wenn Sie dadurch auch mehr Mühe haben, wird es doch für die ersten Wochen, bis der Kleine eingewöhnt ist, gut sein.« Der Brief war unterschrieben: »Elisabeth Moll, Kindergärtnerin.«
Frau Greiner hatte den Brief vorgelesen. Bei dem Wort »Soxhlet« stockte sie, das Wort hatte sie noch nie gelesen. »Wen bringt sie mit?« fragte Greiner. »Den Soxhlet bringt sie mit; das muß der größere Bruder sein, der vierjährige, der wilde, von dem sie neulich geschrieben haben.«
»Soxhlet, den Namen habe ich aber noch nie gehört,« sagte Greiner. »Die vornehmen Leut’ haben immer so tolle Namen«, meinte die Frau. »Alex steht gerade so wenig im Kalender, und Edith heißt bei uns auch niemand. Es kann auch gar niemand anders sein, als der größere Bub, sie schreibt ja, das Mädchen habe eine Unterkunft gefunden, aber die Buben nicht. So schicken sie halt beide zu uns, das ist eine schöne Bescherung!«
Diesmal war sogar Frau Greiner besorgt, wie das gehen solle, und große Bestürzung herrschte in der Familie. Vater Greiner war ungehalten. »Mir kommt’s auch gar nicht recht vor, wenn man schreibt, man wolle ein Mädchen und man schickt einem dann zwei Buben! Man hätt’s nicht tun sollen, und wenn’s auch meiner Schwester Kinder sind!«
»Wer weiß, ob sie nur Betten mitbringen,« sagte Frau Greiner. »Kinder, da dürft ihr euch schmal machen.«
»Wie heißt der Böse, Mutter?« fragte Marie.
»Soxhlet heißt er.«
»Bei wem schläft der? Vor dem fürcht’ ich mich, gelt, den legst nicht zu mir?«
»Der kommt ja nur für ein paar Wochen,« sagte die Mutter.
»Ja, wenn das nur wahr ist,« sagte Greiner. »Wenn ihn aber niemand abholt, dann bleibt er halt an uns hängen, auf die Straße kannst ihn doch nicht setzen.«
»Du meine Güte, du denkst auch gleich ans Schlimmste,« rief Frau Greiner. »Das wär doch gar zu arg. Es ist schon der Kleine schlimm, der schreit noch bei Tag und Nacht, und das ist noch das ärgste, wenn man nicht einmal seine paar Stunden Nachtruh’ hat. Aber auch noch so einen Wilden dazu, der die Sägspäne verstreut oder deine Köpfe umstößt, so einen können wir nicht brauchen. Weißt noch, wie der Lehrer einmal so Kostbuben gehabt hat? Gleich ist der eine zum Täuflingsmacher und hat das Papiermasché umgeworfen! Jetzt rechne nur einmal die Kosten!«
»Sie schreibt doch etwas vom abtelegraphieren; kann man das nicht telegraphieren, daß sie den Soxhlet nicht mitbringen sollen?«
»Wenn’s halt nicht recht teuer ist, so ein Telegramm nach Köln.«
»Man könnt’ ja fragen, was es kostet.«
»Jedes Wort wird da gerechnet, bis du nur überschreibst: an Fräulein Elisabeth Moll in Köln am Rhein, äußere Ringstraße Nr. 5, hast schon – zähl’ einmal – hast schon zehn Wörter und steht noch nichts vom Soxhlet darin. Dann, so barsch möcht’ ich auch nicht sein, daß ich nur schreibe, sie sollen ihn nicht mitbringen, man müßt’ doch auch erklären, warum. Wieviel gäb’ das Wörter! Das geht nicht in ein Telegramm.«
»Und zum Brief ist’s zu spät?«
»Ja, zu spät.«
Jetzt wurde es ganz still im Zimmer. Vater Greiner bückte sich wieder über seine Arbeit wie immer, nur sah sein abgemagertes Gesicht noch sorgenvoller aus, als sonst, und auch Frau Greiner hatte nicht ihren gewohnten fröhlichen Ausdruck. Marie hatte sich gefreut auf die Genossin, nun kamen statt ihrer kleine Buben, von denen hatte sie schon vorher genug. So machte auch sie ein betrübtes Gesicht, während sie die Puppenbälge mit Sägspänen ausstopfte, und es lag eine rechte Mißstimmung über der ganzen Familie. Aber nach einem kleinen Weilchen erschien schon wieder ein heiterer Zug auf dem Gesicht von Frau Greiner, und indem sie nach ihrem Mann hinsah, sagte sie: »So hat dich wohl niemand genannt, ›mein Herr Gemahl!‹« und sie lachte und die Kinder auch. »Was wohl das Fräulein, wenn sie kommt, für Augen macht, wenn sie meinen Herrn Gemahl sieht in seinem großen Schurz voll Papiermaschétropfen und in seinem verflickten Kittel? Ich meine, die stellen sich alles viel nobler bei uns vor, weil sie doch auch immer an den Herrn Fabrikbesitzer schreiben. Die denkt nicht, daß du nur ein Drücker bist und bei uns alles so armselig ist.«
Ja, damit hatte Frau Greiner richtig geraten. Fräulein Elisabeth Moll, die seit einem Jahr in der Familie Langbeck treue Dienste leistete, hatte sich eine ganz falsche Vorstellung von der Familie Greiner gemacht. Frau Langbeck hatte von ihren Verwandten in Thüringen nur einmal gesprochen. »Mein Bruder,« hatte sie gesagt, »verfertigt solche Puppen, wie Edith hier eine hat. Auch mein Vater hat sich schon damit abgegeben.« Da nun Herr Langbeck Besitzer einer großen Fabrik war, so hatte sich das Fräulein unwillkürlich Herrn Greiner als den Besitzer einer eben so großen Puppenfabrik vorgestellt, und weil in der Familie Langbeck alles hübsch und vornehm eingerichtet war, so machte sie sich auch vom Haus Greiner ein solches Bild. Sie war es, die den Vormund auf diesen Bruder der Frau, auf den Fabrikbesitzer Greiner, aufmerksam gemacht hatte. Der Vormund fühlte sich sehr erleichtert, als sich eine anscheinend so günstige Aussicht für einen seiner kleinen Pflegebefohlenen eröffnete. Er war nicht allzu gewissenhaft, hielt es nicht für nötig, sich näher nach den Thüringer Verwandten zu erkundigen, noch auch mit ihnen persönlich in Briefwechsel zu treten. Im Vertrauen auf das bewährte Kinderfräulein beauftragte er dieses, bei der Familie Greiner anzufragen, und als kein absagendes Telegramm eintraf, wurden die Reisevorbereitungen getroffen.
In einen Reisekoffer packte das Fräulein die ganze niedliche Aussteuer des Kindes: all die spitzenbesetzten Hemdchen, die gestickten Kleidchen und die feine Bettwäsche. Den Kleinen kleidete sie mit besonderer Sorgfalt an, damit er den Verwandten einen guten Eindruck mache. In den Güterwagen wurde des kleinen Reisenden Korbwagen gestellt, daß er bei Ankunft in Thüringen sein gewohntes Bett gleich fände. So trat das junge Mädchen die Reise an, froh, das Haus verlassen zu dürfen, dessen Zusammenbruch sie miterlebt hatte, und in der besten Zuversicht, für ihr geliebtes Pflegekind treu gesorgt zu haben.
Der kleine Alex lachte fröhlich, als die Fahrt begann. Er wußte nicht, was dieser Tag für sein Leben bedeutete. Ahnungslos ließ er sich aus dem Haus des Reichtums und Wohllebens in die Stätte der Armut und Not versetzen.
Die ganze Nacht hindurch und den folgenden Morgen dauerte die Reise. Sonneberg war die letzte Station; hier mußte Elisabeth die Bahn verlassen. Der Korbwagen wurde ausgeladen, der schlafende Kleine liebevoll hineingebettet und nun stand sie da und sah sich um. Sie hatte sicher gehofft, hier abgeholt zu werden und wartete, sich umsehend, eine gute Weile. Es mußte für Herrn Fabrikant Greiner oder seine Gemahlin ein leichtes sein, sie und ihr zukünftiges Pflegekind aufzufinden.
Ach, sie wartete vergeblich. Greiner und seine Frau saßen an der Arbeit wie immer; keinem wäre auch nur der Gedanke gekommen, einen Arbeitstag zu versäumen, selbst wenn sie genau die Ankunftszeit der Reisenden gewußt hätten. Aber nun sah Fräulein Elisabeth jemand, der ihr als Wegweiser dienen konnte. Am Bahnhof standen wartend zwei Frauen. Die trugen eine große »Schanze«, einen flachen Korb, in dem wohl ein halbes Hundert Puppen dicht aneinandergeschichtet lagen, lauter Puppen, in Hemden und Häubchen, offenbar frisch aus der Fabrik – gewiß aus der Fabrik von Herrn Greiner, dachte das Fräulein. Sie ging auf die beiden Frauen zu und fragte, ob sie aus der Fabrik von Herrn Greiner in Oberhain kämen. Nein, daher kamen sie nicht, wußten auch nichts von dem Namen; aber das Dorf Oberhain war ihnen wohlbekannt und auch, daß heute kein Postwagen mehr dorthin ging. So erkundigte sich das junge Mädchen nach einem Gasthaus und bat dort um einen Wagen, der sie mit dem Kleinen sofort nach Oberhain fahren könnte. Ein solcher fand sich auch, groß genug, daß hintenauf der Korbwagen gepackt werden konnte, und Elisabeth stieg mit Alex ein, froh, endlich so weit zu sein. »Wo soll ich halten in Oberhain?« fragte der Kutscher.
»Bei Herrn Fabrikbesitzer Elias Greiner,« sagte Elisabeth, »die Wohnung kennen Sie ja wohl?« Nein, er kannte sie nicht, er war schon oft in Oberhain gewesen, hatte aber nie eine Fabrik bemerkt. Er wollte sie aber schon erfragen. Nun ging’s vorwärts, zuerst flott und rasch durchs Städtchen, dann langsamer die aufwärts steigende Straße hinan, rechts Wald, links Wald, ein herrlicher Anblick für die Städterin. Die köstliche Waldluft strömte herein, Elisabeth war in glücklichster Stimmung.
»Mein kleiner Schatz,« sagte sie zu dem schlummernden Kind, »gelt, ich habe dir eine schöne Heimat ausfindig gemacht, wie wirst du da rote Bäckchen bekommen, mein Liebling – aber Papa und Mama können sich nicht mehr darüber freuen, armer Schneck!«
Als die ersten Schieferhäuschen von Oberhain auftauchten, fuhr der Kutscher langsamer, wandte sich zurück und rief in den Wagen: »Wie soll die Fabrik heißen?«
»Elias Greiner.« Ein paar Schulkinder kamen des Wegs. »He,« rief der Kutscher sie an, »wo ist die Fabrik von Elias Greiner?« Die sahen sich an und kicherten und ein Junge sagte: »Bei uns im Dorfe ist keine Fabrik.« Fräulein Elisabeth wurde ängstlich. »Das kann ich nicht begreifen,« sagte sie. »Ich weiß aber gewiß, daß der Name richtig ist, wir haben erst vorige Woche so überschrieben und Antwort erhalten.«
»Wir wollen’s schon herausbringen,« sagte der Kutscher, »es heißt sich mancher Fabrikant, der keine Fabrik hat.« Er trieb die Pferde an, daß sie rasch durch die Dorfstraße fuhren bis ans Wirtshaus. Bei dem Geräusch des vorfahrenden Wagens trat der Wirt unter die Türe. Die Kutsche hielt, der Kleine wachte auf und fing an zu weinen. Neugierig sammelten sich einige Leute um die Kutsche, während der Kutscher vom Bock aus mit dem Wirt Beratung hielt. Elisabeth verstand nicht genau, was die beiden im Thüringer Dialekt miteinander verhandelten, aber sie hörte, wie der Wirt dem langsam Davonfahrenden nachrief: »Es kann gar kein anderer gemeint sein, als der Drücker Greiner; keiner sonst heißt Elias.«
Und nun ging’s noch ein Stück langsam weiter, die Dorfstraße wurde enge, ein Häuschen kam zum Vorschein mit einem halb zerfallenen Bretterzaun, über und über mit blassen Puppenköpfen ohne Augen besteckt – vor dem hielt der Kutscher, sprang vom Bock, öffnete den Schlag und sagte: »So, jetzt haben wir die Fabrik!« und sich dem Fenster zuwendend, wo Maries Kopf erschien, rief er: »Wohnt da der Elias Greiner?« Der hatte schon den Wagen halten hören, und nun kamen sie alle heraus: Voran die Frau, dann die Kinder, barfüßig alle, der Johann in bloßem Hemdchen, zuletzt der Mann. Ach, dem Fräulein wurde so weh ums Herz – das sollte die Fabrik sein, der Fabrikant! Ärmlichere Gestalten hatte sie kaum je gesehen! Noch hoffte sie, es möchte ein Irrtum sein, aber nun kam Greiner dicht heran, sah das Kind auf dem Arm des Fräuleins, betrachtete bewegt das liebliche Gesichtchen und sagte: »Das ist also meiner Schwester Kind!« »Ja,« sagte Elisabeth, aber unwillkürlich blieb sie dicht am Wagen stehen – keinen Schritt machte sie auf das Haus zu.
Frau Greiner fand bestätigt, was sie sich schon gedacht hatte – das junge Mädchen war enttäuscht über das, was sie vor sich sah, bitter enttäuscht. Sprachlos und ratlos stand sie da, das Kind fest an sich drückend. Frau Greiner war nicht gekränkt darüber, das junge Mädchen dauerte sie. »Kommen Sie nur herein, Fräulein,« sagte sie, »das Kind ist ja noch so klein, das merkt den Unterschied noch gar nicht. Gelt du, Kleiner, gelt du bist froh, wenn du nur etwas zu essen bekommst?« Freundlich blickte sie das Kind an und dieses lächelte wieder, und ehe sich’s Elisabeth versah, hatten diese ärmliche Mutter und dieses schön geputzte Kind die Arme nacheinander ausgestreckt und lachend trug Frau Greiner den kleinen Alex ins Häuschen.
Ihr folgten die Kinder, die bewundernd auf den neuen Ankömmling sahen, während Greiner half, den Koffer abzuladen, und Elisabeth den Kinderwagen richtete. Es war ihr schon ein wenig leichter ums Herz, hatte sie doch ihren kleinen Pflegling in Mutterarme übergeben. Sie folgte ins Zimmer. Da freilich war eine Hitze, ein Dunst und Geruch, daß sie nicht glaubte, bleiben zu können. »Sie haben Feuer an diesem heißen Tag?« fragte sie.
»Das bringt eben das Geschäft mit sich,« sagte Greiner und deutete auf seine Arbeit.
Jetzt aber sprach Frau Greiner die Frage aus, die allen längst auf den Lippen lag: »Haben Sie den Soxhlet nicht mitgebracht?«
»Doch,« sagte Elisabeth, »ich werde ihn gleich hereinholen, er ist draußen im Koffer, ich will nur zuerst dem Kleinen das Reisekleidchen abnehmen.« Greiner und seine Frau warfen sich vielsagende Blicke zu, sie wußten nun, daß Soxhlet kein menschliches Wesen war. Nicht so die Kinder. Für sie war die ganze elegante Erscheinung des Fräuleins mit dem Kind, der schöne Korbwagen, der feine Lederkoffer so wunderbar, daß es ihnen auf ein Wunder mehr auch nicht ankam, und sie glaubten nicht anders, als daß der wilde Soxhlet im Koffer eingesperrt sei. Neugierig schlichen sie miteinander hinaus in den kleinen Vorplatz, wo der Koffer abgestellt worden war. Marie blieb vorsichtig in einiger Entfernung stehen, Philipp aber trat näher.
»Bleib da!« rief die Schwester ängstlich und leise, daß es der Soxhlet nicht hören sollte. Als sich aber der unheimliche Koffer ganz still verhielt, wurden die Kinder kecker. Sie kamen nahe heran, Philipp wagte sogar mit dem Fuß einen Stoß gegen den Koffer, sprang aber dann doch vorsichtig zurück. »Hast nicht gehört, wie er gebrummt hat?« sagte Marie, »paß auf, daß er nicht herausfährt. Der muß doch arg bös sein, daß er so eingesperrt wird!«
Jetzt kam Fräulein Elisabeth mit dem Kofferschlüssel heraus, kniete nieder und schloß auf. Die Kinder blieben ängstlich und fluchtbereit in der Ferne stehen, wunderten sich, daß ihre Mutter so ruhig herantrat, und dann waren sie halb beruhigt, und doch halb enttäuscht, als der Deckel aufgehoben wurde und lauter harmlose Dinge, Kleidungsstücke und Wäsche hervorkamen. »Und da ist der Soxhlet,« sagte das Fräulein und vor den erstaunten Augen der Umstehenden zog sie ein Blechgestell mit einer Anzahl leerer Fläschchen heraus, ein Ding, so harmlos und unschuldig wie nur möglich, so daß die Kinder sich verblüfft ansahen. »Das ist der Soxhlet?« sagte Frau Greiner und machte dabei ein nicht eben geistreiches Gesicht.
»Sie haben sich den Soxhlet vielleicht anders vorgestellt,« sagte das Fräulein. »Ich will Ihnen gleich die Behandlung erklären. In der Berliner Anstalt, wo ich als Kindergärtnerin ausgebildet wurde, hat man uns so gelehrt: ›Um die Milch keimfrei zu machen, wird sie in die Fläschchen gefüllt, die mit durchlochter Gummiplatte bedeckt und in den Blechtopf voll kochenden Wassers gestellt werden, woselbst man sie fünf Minuten kochen läßt. Danach werden die Fläschchen durch Glaspfropfen geschlossen und die Milch noch eine halbe Stunde gekocht.‹« Frau Greiner hatte geduldig und aufmerksam zugehört. Jetzt schloß das Fräulein mit der Bemerkung: »Alex ist doch ein zartes Kind, über die Sommermonate sollten Sie ihn noch weiter so ernähren.«
»Ja,« sagte Frau Greiner, »ich will schon alles recht machen. Milch haben wir ja nicht, wir kaufen halt so viel, daß es grad zum Kaffee reicht. Aber den wird er schon auch mögen und auch Kartoffeln, und an Speck und Hering soll’s ihm gewiß nicht fehlen. Das ist bei uns zulande die Hauptnahrung.«
»Aber doch nicht für so kleine Kinder?« sagte Elisabeth entsetzt.
»Es ist ja kein Wochenkind mehr,« entgegnete Frau Greiner. »Seien Sie nur ruhig, ich will’s ihm schon in die Soxhletfläschchen tun, so oft eben Milch da ist.« Inzwischen hatte Elisabeth weiter ausgepackt. »Da sind seine Badehandtücher,« sagte sie, »und da ist der Badethermometer, ich habe ihn mitgebracht, aber ich weiß nicht,« setzte sie zweifelnd hinzu, »ob Sie den Thermometer ver – – – ob Sie an ihn gewöhnt sind? Wir haben das Bad auf 24 Grad erwärmt, ich glaube, auf dem Lande prüft man die Wärme mehr so mit dem Arm, oder nicht? Sie baden Ihre Kinder doch auch?«
»O ja, gebadet wird jedes, so bald als es auf die Welt kommt, aber hernach kommt man nimmer leicht dazu, das braucht’s auch nicht!«
»Ach,« sagte Elisabeth, »uns hat man gelehrt, daß die Hautpflege so wichtig sei bei den Kleinen; Alex ist auch so rein am ganzen Körperchen, wäre es nicht möglich, daß Sie ihn wenigstens immer am Samstag baden? Haben Sie eine Badewanne? Nein? Ich wollte ihm gerne noch eine kaufen von meinem Geld, wenn hier welche zu haben sind; oder ich schicke Ihnen eine aus Sonneberg.«
»Lassen Sie das nur, Fräulein, meine Waschwanne tut’s schon auch, und so oft ich Zeit habe, will ich ihn schon baden.«
»Ach ja, bitte, und dann hätte ich noch etwas auf dem Herzen: In dem Zimmer riecht es so stark und es ist so überhitzt; Sie werden das gar nicht so bemerken, weil Sie es gewöhnt sind; könnte Alex nicht in einem andern Zimmer sein?«
»Ein anderes Zimmer haben wir gerad’ nicht, aber wegen der Luft dürfen Sie gar nicht sorgen, liebes Fräulein, die ist berühmt im Thüringer Wald, deretwegen kommen die Leute oft weit hergereist. Sehen Sie nur meine Kinder an, die sind ja auch alle gesund, auch meine verstorbenen drei waren ganz gesund.«
»Woran sind sie denn gestorben?« fragte Elisabeth.
»Das eine ist verunglückt, das arme Tröpfle hat den heißen Brei über sich geschüttet, den mein Mann braucht zu den Köpfen; und eines hat’s auf der Lunge gehabt, und das dritte ist uns nur so über Nacht weggestorben, niemand hat recht gewußt, daß ihm was fehlt. Es hat uns weh getan, aber so ist’s halt; wir haben ja auch an dreien genug und jetzt sind’s eben auf einmal vier geworden!«
Während dieses Gesprächs waren alle Habseligkeiten des kleinen Alex ausgepackt worden mit vielen Anweisungen über die Verwendung; was jetzt noch im Koffer verblieb, war des Fräuleins Eigentum. Sie schloß wieder zu und kam mit Frau Greiner ins Zimmer, wo Vater Greiner an der Arbeit saß.
Der kleine Alex lag inzwischen in seinem Wagen, die Kinder standen bewundernd um ihn herum, Marie fuhr ihn vorsichtig hin und her. Elisabeth trat hinzu und sagte leise zu Marie: »Willst du ihm eine treue Schwester sein? Sieh, der arme Kleine hat es daheim so schön gehabt. Gelt, du fährst ihn manchmal spazieren und sorgst recht schön für ihn?« Die kleine Marie nickte und sah mit großen Augen das Fräulein an, das gegen die Tränen ankämpfte, als sie sich über den Kleinen beugte, ihn herzte und küßte und leise sagte: »Behüt’ dich Gott, mein Liebling, ich habe es gut mit dir gemeint, ich bin nicht schuld. Warum haben dich deine Eltern verlassen, wie konnten sie dir das antun?«
»Ich muß gehen,« sagte sie, indem sie zu Greiner trat, und sie nahm sich zusammen, um ihren Tränen zu wehren. »Ich habe Sie noch etwas fragen wollen,« sagte Greiner, und nun zitterten auch seine Lippen; »was war denn das für ein Unglücksfall mit meiner Schwester und ihrem Mann?«
»Sie starben beide in der Nacht, ehe der Zusammenbruch des Geschäfts bekannt wurde. Näheres kann ich nicht sagen.« Greiner fragte auch nicht weiter.
Ein paar Stunden später fuhr das Fräulein ihrer Heimat zu, und während sie nach langer Zeit wieder am elterlichen Tisch saß, nahm Alex auf dem Schoß der neuen Pflegemutter zum erstenmal Anteil am Familienmahl und so oft er den kleinen Mund aufsperrte, wurde ihm ein Stückchen Kartoffel hineingeschoben, ein sorgsam geschältes!
Danach, da es Feierabend, draußen aber noch hell und warm war, gingen sie alle zusammen hinaus. Frau Greiner trug stolz den schönen Kleinen auf dem Arm, und da er verwundert nach den Tannen sah, die am Wege standen und leise vom Wind bewegt wurden, hob sie ihn hoch bis zu den Ästen und rief ihm freundlich zu: »Da, schau nur, Alex, schau, jetzt bist du im Thüringer Wald!«
Wieviel Arbeitsstunden waren bei Greiners versäumt worden durch all die Briefe, durch die Ankunft des kleinen Pflegekinds und alles, was damit zusammenhing! Als am Samstag der große Huckelkorb vollgepackt wurde, fand sich, daß alles leicht hineinging und daß Maries neuer Korb ganz überflüssig war; bei weitem nicht alle versprochene Arbeit war fertig geworden. Marie blieb auch ganz gern daheim; den eleganten Kinderwagen mit dem schönen neuen Brüderchen vor dem Haus herumzufahren und allen staunenden Nachbarn zu zeigen war noch ein größeres Vergnügen, als mit der Mutter zu gehen. So wanderte Frau Greiner allein der Stadt zu, die Arbeit abzuliefern. Aber diesmal kam sie übel an! Der Sonneberger Fabrikant hatte fest gerechnet auf das, was sie versprochen hatte zu liefern; die Zeit drängte, was er heute nicht erhielt, konnte er nicht fertig stellen bis zu dem Tag, wo die Sendung abgehen sollte, um das Schiff zu erreichen, das nach Australien ging.
Frau Greiner entschuldigte sich, die Schwester ihres Mannes sei gestorben und sie hätten ein Waisenkind aufnehmen müssen. Die Entschuldigung wurde ganz ungnädig aufgenommen. Ob sie meine, daß das Schiff warte, bis alle Waisenkinder versorgt seien? Sie solle nicht mehr Arbeit versprechen, als sie leisten könne. Zum Unglück hatten noch einige Arbeiter weniger geliefert, als sie versprochen hatten, und so war der Fabrikant wirklich in Verlegenheit.
»Wenn ich mein Wort nicht halte,« sagte er, »so verliere ich meine Kundschaft, was wollen Sie dann machen, wenn keine Puppen mehr bestellt werden?« Ganz schuldbewußt und zerknirscht stand Frau Greiner da und wagte kein Wörtlein zu sagen, als ihr auf dem Zettel ein gehöriger Abzug am verabredeten Lohn gemacht wurde. Der Herr schien auch gar keine Lust zu haben, ihr neue Aufträge zu geben, und ließ sie lange stehen, wie wenn sie nicht mehr da wäre. Da aber noch große Bestellungen vorlagen, so bekam sie schließlich doch wieder Aufträge genug, und diesmal verließ sie ohne Verzug die Stadt und kehrte nicht einmal bei ihrer Mutter ein, um keine Zeit zu verlieren. Jetzt, in den besten Arbeitswochen, ein so elendes Sümmchen Geld heimzubringen, kam ihr fast wie eine Schande vor und sie fürchtete schon ihres Mannes grämliches Gesicht, wenn sie so wenig abliefern konnte. Im Sommer wollte er doch immer etwas zurücklegen für den Winter, wo das Puppengeschäft stockt. Aber schließlich konnte sie auch nichts dafür, es war ja sein Schwesterkind an allem schuld.
In diesen Gedanken ging sie ihrem Dorfe zu. Mit ihrem flinken Schritt holte sie bald einen jungen Burschen ein, der auch von Sonneberg kam und gemütlich, eine Zigarre rauchend, dem Dorfe zuschlenderte. Frau Greiner kannte ihn wohl, er war auch von Oberhain und war ein Neffe ihres Mannes. Die Woche über arbeitete er in Sonneberg in der Fabrik, Samstag abends kam er heim zu seinen Eltern. Frau Greiner hatte gern Reisegesellschaft, sie rief schon von ferne dem Burschen zu: »Georg, wart ein wenig!«
Er wandte sich um, gesellte sich zu ihr, und vom Geschäft plaudernd gingen sie nebeneinander her und kamen bis zu dem Punkte, wo der Fußweg nach Oberhain von der großen Straße abzweigt und ein Wegweiser nach verschiedenen Richtungen zeigt. An diesem Wegweiser stand ein Herr, der an seinem Reiseanzug leicht als Fremder zu erkennen war und der nun, als unsere beiden Leutchen an ihm vorbeikamen, mit fremder Betonung fragte, wie weit es noch bis Oberhain sei. Ein Stündchen war’s immerhin noch auf dem Fußweg, den aber ein Fremder leicht verfehlen konnte. So schloß sich der Herr an und sie gingen zu dritt weiter. Zuerst schweigsam, dann siegte bei Frau Greiner die Neugier über die Schüchternheit und sie fragte, ob der Herr kein Deutscher sei? Nein, er war Amerikaner, ein Kaufmann, der wegen des Puppengeschäfts nach Sonneberg gekommen war. Die deutsche Sprache hatte er aber gut gelernt, man konnte sich wohl mit ihm verständigen. Er fragte Frau Greiner, was sie zu Markte gebracht habe und was ihr Mann sei. »Mein Mann ist Drücker,« sagte Frau Greiner.
»Was ist das, Drücker?«
»Wenn man das Papiermasché in die Formen drückt, daß es Puppenköpfe gibt.«
»Helfen Sie auch drücken?«
»Nein, ich bin Balgnäherin, was die Körper für die Puppen gibt. Und die Kinder helfen auch, sie wenden um und stopfen aus mit Sägespänen.«
»Was fehlt noch an den Puppen, wenn Sie sie abliefern?«
»Dann haben sie noch keine Augen und –«
»Wer macht die Augen?«
»Die werden in Lauscha gemacht, da kommen ganze Schachteln voll her in allen Größen, die muß der Augeneinsetzer hineinmachen.«
»Ist das das Letzte?«
»Nein, die Maler müssen doch erst die Backen malen und die Lippen, und die Friseurin muß die Haare aufsetzen, dann wird erst der Kopf auf den Balg geleimt.«
»Das kann Ihr Mann nicht?«
»O, mein Mann kann das alles und als jung ist er in die Industrieschule geschickt worden, hat schon Köpfe und all die Formen machen lernen, aber dann ist sein Vater gestorben; gleich hat er dann das Lernen aufgeben müssen und hat seines Vaters Sach übernommen und ist halt auch wieder Drücker geworden. Mein Mann war von den besten einer auf der Schul’, aber er hat halt heim müssen, die Not ist gar groß bei uns.«
»Wieviel verdienen Sie in der Woche?«
»Ja Herr, das wechselt sehr, bald ist’s mehr, bald weniger. Es gibt Wochen im Winter, da bekommt man gar keine Bestellung.«
»Aber in der besten Zeit des Jahrs, auf wieviel bringen Sie es in der Woche, Sie mit Mann und Kindern?«
»Die vorige Woche hab’ ich fünfundzwanzig Mark heimgebracht, es ist auch schon auf dreißig gestiegen, aber da muß man schon die Nacht durcharbeiten. Und davon müssen wir alles selbst anschaffen, was wir zu den Puppen brauchen, gar nichts bekommen wir geliefert, das meiste geht dafür wieder hinaus und man bringt’s fast nicht dazu, daß man sich für den Winter etwas zurücklegt. Mein Mann sorgt sich jetzt schon wieder darum; ich nicht, im Sommer mag ich gar nicht an den Winter denken, sonst wird man ’s ganze Jahr nicht froh.«
»Ist Ihr Mann gesund?«
»Er hustet halt, das kommt von dem Staub vom Papiermasché und von den Sägspänen, aber krank ist er nicht, gottlob.«
Jetzt mischte sich Georg ins Gespräch. »Die kräftige Nahrung fehlt halt da außen auf dem Land, in der Stadt essen sie besser.«
»Ja, Fleisch gibt’s nicht viel bei uns, der Kaffee und die Kartoffeln sind die Hauptsache, bei uns heißt’s: Kartoffeln in der Früh, zu Mittag in der Brüh, des Abends mitsamt dem Kleid, Kartoffeln in Ewigkeit!«
Der Amerikaner fragte nun nicht weiter, der Weg wurde steiler und eine Viertelstunde gingen die drei still nebeneinander, bis sie die Höhe erreicht hatten, wo sie wieder auf die Landstraße einmündeten und von der Ferne einzelne schiefergraue Dächer sichtbar wurden.
»Das ist unser Dorf,« sagte Frau Greiner; »geht der Herr noch weiter heut’?«
»Ja, aber Mittwoch komme ich wieder hier durch und dann will ich Ihren Mann aufsuchen.« Er blieb stehen bei diesen Worten und sagte, indem er Frau Greiner ernst und forschend ansah: »Sagen Sie ihm einstweilen, daß ein Amerikaner zu ihm kommt und mit ihm sprechen will. Es ist vielleicht gut, wenn ich Ihnen vorher schon sage warum. Ich möchte so eine Familie, die den ganzen Puppenbetrieb versteht, mit hinübernehmen nach Amerika. Ich habe dort Ländereien, Wald; die Eisenbahn geht vorbei, es ist gar nicht viel anders wie hier. Ich sehe nicht ein, warum wir die Puppen alle so weit her holen sollen, das könnten wir drüben auch machen, wenn wir nur die Leute dazu hätten. Dreimal so viel Lohn als Sie hier in der besten Woche haben, kann ich Ihnen für drüben das ganze Jahr hindurch versprechen. Alles schriftlich, natürlich. Ich bin schon mit dieser Absicht herübergekommen und nehme jedenfalls Leute von hier mit. Wenn Sie klug sind, reden Sie Ihrem Manne zu.«
Frau Greiner sah den Amerikaner staunend und sprachlos an. Der junge Bursche lachte und sagte: »Ihr könnt ja gar nimmer reden, es versetzt Euch den Atem, gelt? Dreimal soviel und das ganze Jahr hindurch, das wäre nicht schlecht!«
»Und selbstverständlich freie Reise,« fügte der Amerikaner hinzu.
»Für alle? Wir haben drei Kinder, nein, jetzt vier, das vierte ist ein Waisenkind, das haben wir erst aufgenommen.«
»Das bleibt hier. Dazu gibt’s Waisenhäuser. Aber Ihre eigenen drei gehen mit. Die Kinderarbeit will ich bei uns auch einführen, dazu brauchen wir deutsche Kinder, die es vormachen als Beispiel, damit es unsere davon absehen. Verstehen Sie? Gut, also reden Sie mit Ihrem Mann und lassen Sie den Vorteil nicht hinaus, denn wenn Sie nicht gehen, so finde ich genug andere, die gerne gehen. Wie heißen Sie?«
Er zog sein Merkbuch, schrieb den Namen auf, reichte der Frau einen Taler, daß sie beim Mann ein gutes Wort für ihn einlege, und schlug die kleine Straße ein, die hier von der Oberhainer Straße abzweigte.
Frau Greiner stand still und sah ihm nach. »Hab’ ich nun das alles geträumt oder ist’s wahr?« sagte sie zu Georg. Es mußte wohl wahr sein, denn Georg behauptete, sie habe ein unerhörtes Glück und sie hätte nur gleich »ja« sagen sollen, damit ihr nicht andere Leute zuvorkämen. Warum sie denn auch gar kein Wort geantwortet habe?
»Es ist wahr,« sagte Frau Greiner, »ich war halt ganz wie aus den Wolken gefallen, denk nur, alle miteinander übers Meer, die weite Reise! Aber schön müßt’s sein, was könnt’ man da alles sehen, und ganz freie Überfahrt und drüben den dreifachen Lohn! Ach, der Herr wird jetzt doch nicht beleidigt sein, daß ich so dumm dreingeschaut hab’, er wird doch auch gewiß kommen? Was meinst, Georg?«
Immer rascher ging Frau Greiner dem Dorf zu, sie konnte es nicht mehr erwarten, mit ihrem Mann zu reden. Im Ort, gerade beim Wirtshaus, trennte sich ihr junger Begleiter von ihr. »Sag’s noch niemand, Georg, weißt, es gibt so viel Neider, schweig still davon, gelt?« empfahl sie ihm noch an; aber er lachte nur und ehe noch Frau Greiner, die ganz oben im Dorf wohnte, ihr Haus erreichte, hatte Georg die merkwürdige Begegnung schon all seinen Hausgenossen erzählt.
Es war schon fast eine wehmütige Abschiedsstimmung, mit der die junge Frau durchs Dorf ging. Sie sah nach rechts und nach links und grüßte mit besonderer Herzlichkeit die Dorfbewohner. Alle waren ihr bekannt, und in dem Augenblick waren sie ihr auch alle lieb, weil sie dachte, sie würde sich bald von ihnen trennen. Der Verdruß über die schlechte Einnahme war ganz überwunden durch die Hoffnung auf zukünftige Reichtümer, und dann hatte sie ja auch noch den Taler in der Hand als Unterpfand, als Beweis, wenn ihr Mann etwa die wunderbare Mär nicht glauben wollte.
Aus dem Hause drang ihr Kindergeschrei entgegen und als sie die Stubentüre aufmachte, wurde sie von allen Seiten mit der Nachricht begrüßt, Alex habe fast den ganzen Tag geschrien. Da lag das arme Büblein in seinem schönen Wagen, zog die Beinchen in die Höhe und kreischte wie ein Kind, das Schmerzen hat. Es war gar keine Möglichkeit, die große Neuigkeit mitzuteilen, die sie eben noch ganz erfüllt hatte, sie verstand ihre eigenen Worte nicht. Deshalb nur schnell die guten Kleider abgelegt, die große Schürze umgebunden und den Kleinen auf den Arm genommen. Lange wollte er sich nicht beruhigen. »Ein paar Stücklein Hering hat er heut’ mittag gegessen und seitdem schreit er,« berichtete Marie. Mütterlich sprach die Frau dem Kleinen zu, ob er gleich nichts davon verstand: »Gelt, armer Kerl, gelt dir tut’s weh; gelt, ja, das sind böse Leut, die geben dir deinen Soxhlet nicht, sei nur still, mein Schatz, ich kauf’ dir Milch, still, still! Marie, spring in Gottes Namen und hol’ noch einmal Milch; geh zu Bauers hinüber, von der schönen weißen Geiß sollen sie dir was melken; zahlst gleich einen Groschen dafür. Nimm so ein Fläschchen mit von seinem Soxhlet, daß ihm’s gut bekommt; still, mein Bübchen, die Marie bringt dir Milch; sollst es gut haben, so lang du noch bei uns bist. Mußt ja doch bald ins Waisenhaus. Still, mein Waislein, still!«
Es war spät abends, alle Kinder schliefen; Mann und Frau saßen beisammen und sprachen von dem großen Plan, den Frau Greiner mitgeteilt und warm befürwortet hatte. Wenn Greiner schon im alltäglichen Leben alles schwer nahm, wieviel mehr Bedenken machte er sich jetzt, wo die Frage an ihn herantrat, ob er mit Frau und Kind auswandern wolle in einen andern Weltteil! Es war kein Fertigwerden mit ihm; wenn seine Frau gegen alle seine Bedenken etwas vorgebracht hatte, so fing er beim ersten wieder an. Als sein Bundesgenosse meldete sich von Zeit zu Zeit der kleine Alex mit leisem Wimmern in unruhigem Schlaf. »Wo brächten wir das arme Kind unter?« fragte Greiner. Dann kam noch ein weiterer Bundesgenosse, das war der Husten: »Siehst doch, ich bin ein kranker Mann,« sagte er, »Kranke bleiben am besten daheim.«
Wenn aber dann seine Frau sagte: »In Gottes Namen, ich will dich auch nicht in die Fremde treiben, so bleiben wir halt hier und den Taler geb’ ich dem Herrn wieder zurück,« dann fing wieder Greiner an: »Freilich, die Hungerleiderei nimmt hierzulande kein End’, nur zwölf Mark hast heut’ heimgebracht und gescholten bist auch noch worden! Leicht könnt’ man’s schöner haben in Amerika. Wieviel sagst, den dreifachen Lohn, und alles will er schriftlich machen? Es ist wohl wert, daß man sich’s überlegt.«
So besprachen sie das Für und Wider und kamen zu keinem Entschluß. Es war eine schwüle Sommernacht, das Fensterchen der Schlafkammer stand offen. In seinen schweren Gedanken sah Greiner hinaus nach dem dunklen Wald und nach dem Mond, der mild herabschien; es war ihm, als sähe er dies alles zum erstenmal. Schön war’s doch im Thüringer Wald und leicht wäre es nicht, davonzugehen. Die Heimatliebe kam ihm deutlich zum Bewußtsein, und nun trat seine Frau zu ihm her ans Fensterlein und sie lachte nicht wie sonst über sein nachdenkliches Wesen, auch sie sah still und ernst hinaus ins Dunkle. »Magdalene,« sagte er, »kannst nicht mehr das Lied: ›In allen meinen Taten laß ich den Höchsten raten, der alles kann und weiß‹; wie geht’s da weiter?« Sie brachten den Vers zusammen, und trotz aller Unentschiedenheit war Friede in ihr Gemüt gekommen, als sie endlich ihr Lager aufsuchten.
Am nächsten Morgen, als gerade die Familie am Tisch saß und die Mutter den Kindern ihren Teil von der dünnen Kaffeebrühe verabreichte, näherten sich feste Schritte der Türe. Frau Greiner sah ihren Mann an: »Der Amerikaner,« flüsterte sie. »Herein!« Aber der eintrat, war ein anderer Gast, ein ganz unwillkommener. Es war der Steuerbote. Ein finsteres Gesicht hatte er, vielleicht kam’s daher, daß er selbst so oft mit finsterer Miene empfangen wurde. Ein kurzer Gruß wurde gewechselt; der Steuerbeamte wies einen Zettel vor, Greiner stand auf, ging an die alte Kommode und schloß sie auf. Sein Töchterchen folgte ihm, ängstlich sah sie in sein Gesicht und nun auf seine Hände, die ein wenig unsicher ein Käßchen öffneten. »Vater, reicht’s?« fragte sie ganz leise und blickte besorgt zu ihm auf. Er gab keine Antwort, es war auch nicht nötig, man merkte ihm auch ohne Worte die Verlegenheit an.
Er zählte das Geld vor dem Steuerboten auf. »Alles haben wir nun freilich gerade noch nicht beisammen,« sagte er entschuldigend. »Der Herr wird schon zufrieden sein,« setzte freundlich Frau Greiner hinzu, »er bekommt später den Rest, andere haben’s auch nicht beisammen.«
»Anderen wird dann eben gepfändet, was sie an Mobiliar oder dergleichen besitzen,« sagte scharf der Beamte und sah sich im Zimmer um. Das war ein unheimlicher Blick. Er blieb haften auf Alex’ Kinderwagen. »Da haben Sie noch ein schönes Stück, das hat Geldwert,« sagte der Beamte.
»Das bleibt im Haus,« erwiderte Greiner mit ungewohnter Festigkeit. Schon manchmal war der Steuerbote mit geringem Betrag abgezogen, aber heute war er so zäh! Er wich nicht eher, als bis Frau Greiner den Taler herbeigeholt hatte, den ihr der Amerikaner gegeben hatte. Sie hatte ihn so schön in einem besonderem Büchschen aufgehoben; es half nichts, er mußte eingewechselt und noch zur Hälfte darauf gelegt werden. Erst dann verschwand der unliebsame Gast. Mißmutig sah die Frau ihm nach. »Er wittert das Geld,« sagte sie, »er hat’s nicht wissen können, daß wir noch etwas haben, aber er hat’s gespürt, daß Geld im Haus ist.«
»Es ist ein Elend,« seufzte Greiner, »da geht man wahrhaftig gern aus dem Land.«
»So mein’ ich auch; der Taler ist fort, Elias, das ist ein Fingerzeig, wir gehen auch fort.«
»Ja, und das gern.«
»Bist entschlossen? Im Ernst?«
»Ja, wie du sagst, es ist ein Fingerzeig.«
»Kinder, Kinder, denkt’s euch nur, wir gehen nach Amerika!« rief die Mutter.
Jetzt gab’s Fragen und Verwundern und eine Aufregung war in der kleinen Familie wie noch nicht leicht. Daß der Alex nicht mit durfte, das kam allen hart vor, aber die Mutter hatte schon einen Plan: Nach Sonneberg wollte sie ihn bringen, bei ihrer Mutter wäre er gut versorgt; ihre Schwester hatte jetzt lange genug keine Kinder gehabt, die sollte das arme Waislein nur nehmen.
Vater Greiner sagte aber fast jede Stunde an diesem Tag: »Wenn er nur auch Wort hält, dein Amerikaner!« worauf dann seine Frau entgegnete: »Denk nur an den Taler!« Ja, der Taler war das Unterpfand, aber er lag nicht mehr da, so wirkte er auch nicht mehr recht.
Im Dorfe hatte sich gar schnell die Nachricht verbreitet, daß die ganze Familie Greiner auswandern würde nach Amerika. Dafür hatte schon Georg gesorgt. Öfter als sonst ging in den zwei nächsten Tagen die Türe auf, die Verwandten und Freunde wollten alle genau hören, wie sich die Sache verhielt, und es wurde in Greiners Stübchen mehr gesprochen als gearbeitet in diesen Tagen; Greiner drückte zwar unermüdlich seine Puppenköpfe aus und mahnte die Seinen, denn von dem Lohn, den sie in Amerika bekommen sollten, würden sie jetzt noch nicht satt. Aber seine Frau hatte keine Seelenruhe mehr für ihre Puppenbälge; sie dachte nur immer an die Zukunft und wie der Auszug zu bewerkstelligen wäre, und die Kinder liefen vor das Haus und ließen sich anstaunen als die Reisenden, die übers Meer wollten. Einmal kam Georg herein und erzählte, daß ein Kamerad aus dem Nachbarort von dem Amerikaner erzählt habe. Ein vornehmer Herr sei es, der gut zahle, und beim Wirt habe er geäußert, daß er am Mittwoch über Oberhain nach Sonneberg zurück wolle.
Dienstag abend war’s. Die Kinder lagen schon im Bett, Greiner und seine Frau hatten auch Feierabend gemacht. Er stand vor der Haustüre und rauchte sein Pfeifchen; sie nahm die Puppenköpfe ab, die da und dort noch zum Trocknen am Zaun standen, und plauderte dabei mit ihrem Mann, als sie durch den dämmernden Abend einen älteren Mann langsam und bedächtig die Dorfstraße herauf auf ihr Häuschen zukommen sahen. Die Frau bemerkte ihn zuerst, stieß ihren Mann an und sagte: »Der Schulze kommt zu dir.«
Dieser Mann, der wohl schon ein Siebziger sein mochte und mit seinen weißen Haaren einen ehrwürdigen Eindruck machte, war der Ortsvorsteher von Oberhain, der Bauer Ruppert. Schon so lange verwaltete er dies Amt, daß Greiner und seine Frau sich die Zeit nicht mehr erinnern konnten, wo Ruppert noch nicht der Gemeindevorstand war. Greiner nahm die Pfeife aus dem Mund, was er andern gegenüber nie für nötig hielt, und grüßte den Alten, der nun zu ihnen trat, um ein Wort mit ihnen zu sprechen. Ins Haus wollte er nicht, er war noch rüstig, stand fest und gerade und erschien in seinen alten Tagen noch frischer als Greiner. Über den Gartenzaun besprachen sich die Männer. Ruppert wollte von Greiner selbst hören, was wahr sei von dem Gerede, daß sie nach Amerika übersiedeln wollten. Frau Greiner mußte ihm nun genau ihre Begegnung mit dem Amerikaner erzählen und alles, was dieser zu ihr geredet hatte.
»Und ihr wollt gehen?« fragte Ruppert.
»Wenn sich alles so verhält, wie der Mann zu meiner Frau gesagt hat, und wenn er alles schriftlich vor dem Notar macht, dann wären wir entschlossen zu gehen,« war Greiners Antwort.
Eine Stille trat ein. Frau Greiner hatte so ein unbestimmtes Gefühl, als ob der Mann, der nun schweigend mit ernstem Ausdruck bei ihnen stand, nicht einverstanden wäre. Das konnte sie nicht ertragen. »Es ist doch natürlich, daß man aus seinem Elend heraus möchte, wenn man kann, nicht wahr? Und wenn einem jemand sagt, du kannst 60 Mark verdienen statt 20, so wäre man doch nicht recht gescheit, wenn man nicht zulangen wollte, ist’s nicht wahr? Und wie ärmlich ist mein Vater gestorben, alles hat man ihm verpfändet! Und meinen Kindern wird’s auch einmal nicht besser gehen, wenn wir sie nicht fortbringen aus dem Elend, oder nicht?«
Bei jeder Frage hatte der alte Mann nur zustimmend genickt, wer kannte besser als er die Armut im Dorf! »Ja, ja, ja,« sagte er nun langsam und bedächtig, »wenn nur eines nicht wäre! Wenn die da drüben in Amerika unser Handwerk lernen und wenn sie selbst die Arbeit machen, die wir jetzt tun, wer wird dann noch von Thüringen Puppen kommen lassen? Wenn die Amerikaner nicht mehr in Sonneberg bestellen, dann fällt die beste Kundschaft weg; für 2 Millionen Mark haben die Amerikaner in einem einzigen Jahr Puppen und Spielsachen nach Amerika kommen lassen und gerade am meisten von der Sorte, wie wir sie in unserem Dorf machen. Der Bürgermeister von Sonneberg hat schon gar oft mit mir darüber gesprochen und die Herren Fabrikanten auch. Wißt Ihr, Greiner, wie mir’s vorkommt, wenn Ihr geht? Da oben hinter Eurem Haus kommt doch die Quelle heraus für alle unsere Brunnen; gerade so kommt mir’s vor, als wolltet Ihr hingehen und die Quelle verschütten, daß der ganze Ort kein Wasser mehr hat.«
Da fiel Frau Greiner ihm in die Rede: »Nein, nein,« sagte sie, »wegen der Quelle dürfen Sie keine Sorge haben, das tät mein Mann nie, mit dem Graben ist’s ohnehin nicht viel bei ihm.«
»Magdalene, was red’st so ungeschickt,« sagte Greiner, »das ist nur so sinnbildlich gesagt!«
»Ja, Greiner,« nahm der Ortsvorsteher wieder das Wort, »es ist zum Vergleich. Wenn eine Familie hinübergeht und zeigt’s den Amerikanern, wie sie’s machen sollen, so ist’s eine Gefahr für unsere Einnahmequelle. Für Euch könnt’s ein Glück sein, aber für das ganze Dorf kann’s zum Unheil ausschlagen. Unsere Leute haben keinen andern Verdienst als ihre Puppen, das wollt’ ich Euch zu bedenken geben, darum bin ich heraufgekommen.«
Frau Greiner sah ihren Mann ängstlich an, ob er wohl etwas gegen diese Worte zu sagen wüßte. Ihr selbst wollte gar nichts einfallen. Ja, jetzt entgegnete er etwas. »Wer weiß, ob’s dem Herrn Amerikaner gelingt da drüben?« fragte er. »Es wird so leicht nicht sein, daß er das gerade so einführt, wie’s bei uns seit hundert Jahren oder wer weiß wie lang schon ist.«
»Da habt Ihr recht. Aber ich rechne so: Gelingt’s ihm nicht, so werdet auch Ihr Euer Glück nicht machen, Ihr werdet ihm bald zur Last sein. Gelingt’s aber, die Industrie dort einzuführen, dann ist’s der helle Schaden für uns herüben, das ist leicht einzusehen.« Ja, das war einleuchtend, die Frau war schon ganz überzeugt. Aber ihr Mann? Sie mußte sich nur wundern, er war halt doch ein ganzer Mann, sogar mit dem Schulz konnte er’s aufnehmen, denn er wußte wieder etwas dagegen zu reden.
»Auf jeden Fall,« sagte Greiner, »braucht so etwas Zeit. Bis die da drüben die Kunst so los haben, wie wir, geht wohl ein Jahrzehnt dahin, und bis das dann im ganzen Amerika bekannt wird und sie die Puppen von dem Herrn beziehen, statt wie bisher von unsern Fabrikanten, da kann’s noch lang dauern, bis dorthin leben wir wohl nicht mehr.«
Die Frau nickte beifällig. »Ja, so weit hinaus sorgt niemand,« sagte sie zustimmend.
»Das denkt Ihr so, weil Ihr jung seid,« sagte Ruppert zur Frau. »Mir kommt’s nicht soviel vor, so zwanzig Jährlein, und an die Nachkommen muß man auch denken. Für wen hat denn der Gemeindeförster den Abhang da oben frisch aufgeforstet? Für uns nicht, kaum für die Kinder, für die Kindeskinder vielleicht. Und wo nehmen wir unser Holz her? Von den Bäumen nicht, die wir gepflanzt haben, die Alten haben uns dafür gesorgt, die lange schon tot sind. Darum meine ich, wir dürfen, da wir so arm sind in unsern Walddörfern, unsern einzigen Verdienst nicht den Amerikanern bringen. Warum? – weil unsere Enkelkinder auch noch essen wollen!«
Nun nickten sie beide zustimmend, Mann und Frau. Daß die Enkelkinder auch noch essen wollten, das war berechtigt.
»Es ist schon wahr,« sagte Greiner mit schwerem Seufzer, »am Unglück vom Dorf möchte ich nicht schuld sein.«
»Ich noch weniger, lieber Gott, wenn man dächte, es wäre gar kein Verdienst mehr im Ort, es wäre ja zum Verzweifeln. Wenn aber der Amerikaner eine andere Familie mit hinübernimmt?« fragte Frau Greiner.
»Von unserem Dorf geht keine mit,« entgegnete Ruppert, »unsere Leut kenn’ ich und will schon mit ihnen reden, und wegen der Nachbarorte will ich schon sorgen; wenn man mit dem Amtmann spricht und mit den Pfarrern und Lehrern und mit den Ortsvorstehern und dem Notar, dann wird der Amerikaner auch nichts erreichen.«
Schon eine gute Weile war in den stillen Sommerabend das Schreien des kleinen Alex herausgedrungen, jetzt ließ sich auch noch der Johann vernehmen und die Mutter ging hinein. »Ihr habt jetzt ein Kostkind?« fragte Ruppert.
»Ja, mein Schwesterkind ist’s.«
»Was bekommt ihr Kostgeld dafür?«
»So ein Kostkind ist’s nicht, für das man Kostgeld bekommt, wir haben’s bloß aus Barmherzigkeit, weil die Eltern tot sind und das Vermögen verloren.«
»Ist denn gar nichts für die Kinder übrig geblieben? Der Mann Eurer Schwester war doch reich?«
»Ich weiß selbst nichts weiter, der Vormund hat uns halt das Kind geschickt. Gewollt haben wir’s nicht; das große Mädchen hätten wir gern genommen, aber der Kleine ist ihnen übrig geblieben.«
»Der Vormund hat sich’s leicht gemacht. Etwas Kostgeld hättet Ihr Euch ausbedingen sollen. Jetzt gute Nacht, Greiner. Wenn morgen wirklich der Amerikaner kommen sollte, so sagt’s ihm nur, er könne sich die Mühe sparen, in den Häusern herumzulaufen, von Oberhain gehe keiner mit, die halten alle fest zusammen gegen Amerika.«
»Ja, ja, das tun wir auch.«
Die Gestalt des alten Mannes verschwand im Halbdunkel des Sommerabends, und Greiner kehrte in die Hütte des Elends zurück, aus der hinaus er sich geträumt hatte.
Bald wurde es still und dunkel im Häuschen. Doch nach Mitternacht erwachte Frau Greiner an einem schweren Traum: Hungrige Enkelkinder wollten dem kleinen Alex ein Leid tun. Sie fuhr auf in ihrem Bett: da stand ihr Mann am Wagen des Kleinen und schob das weinende Kind im Wagen sanft hin und her. »Kannst liegen bleiben,« sagte der Mann zu ihr, »es ist ja meiner Schwester Kind.« Da legte sie sich behaglich und sagte schon wieder halb schlafend: »Es ist recht, Elias, du wirst nicht so müd sein wie ich.«
Als am nächsten Morgen die Kinder kaum erwacht, schon miteinander anfingen zu plaudern von der Reise übers Meer, da war’s doch traurig, ihnen sagen zu müssen, daß über Nacht das ganze Luftschloß eingestürzt sei, daß man nicht nach Amerika ginge, sondern alles bliebe wie bisher. Sie waren noch zu klein, um den wahren Grund zu verstehen; als sie aber gar nicht abließen, danach zu fragen, half sich die Mutter auf ihre Art und sagte: »Kinder, seid zufrieden, da drüben gibt’s noch Menschenfresser.«
»Aber der Amerikaner geht doch auch hinüber!«
»Der freilich; Herren fressen sie nicht, bloß Kinder.« Da gaben sie sich zufrieden.
Im ganzen Dorf war in diesen Tagen von nichts anderem die Rede gewesen als davon, daß Greiners übers Meer gingen, und dann, daß sie nun doch nicht gingen, weil Ruppert gesagt habe: keiner, der’s mit Oberhain gut meine, dürfe dem Amerikaner folgen. Als nun dieser Herr, nichts ahnend von der Stimmung, die gegen ihn gemacht worden war, am Mittag ins Dorf kam, sahen ihn alle, die ihm begegneten, scheu an, wie den Versucher zum Bösen, und mit knapper Not waren sie so artig, ihm die Wohnung des Drückers Greiner zu zeigen, nach der er fragte.
Den ganzen Morgen war es unserer Frau Greiner schon unbehaglich bei dem Gedanken, daß der Herr nun abgewiesen werden mußte, und wohl zehnmal wollte sie von ihrem Manne hören, wie er es denn vorbringen wolle. Während sie an der Arbeit saßen, wurde der kleine Philipp immer wieder vors Haus geschickt, nachzusehen, ob kein Fremder die Dorfstraße heraufkomme, und richtig, so gegen Mittag war es, da kam er hereingerannt und rief: »Er kommt, er ist schon da!« Und dem kleinen Kerl auf dem Fuß folgte der lange Amerikaner mit dem hellen Anzug und dem Reiseschal schräg über die Achsel geknüpft. Er mußte sich bücken, als er durch die kleine Türe eintrat, denn er war wohl einen Kopf größer als Greiner, der nun von der Arbeit aufstand, während seine Frau ihre Verlegenheit zu verbergen suchte, indem sie nur um so eifriger an ihren Puppenbälgen nähte, als ob sie der Besuch nichts anginge.
Das half ihr aber nichts, denn der Amerikaner wandte sich gleich an sie: »Wie geht es, Madame Greiner?« fragte er; »haben Sie meinen Vorschlag Ihrem Manne mitgeteilt? Ja? Haben Sie meine Sache vertreten?«
Da sah Frau Greiner hilfesuchend zu ihrem Mann auf, und der antwortete an ihrer Stelle: »Sie hat’s schon getan, daran hat sie’s nicht fehlen lassen; es wäre auch nicht so ohne, elend genug ist’s bei uns, wie Sie sehen. Aber der Beschluß ist doch so ausgefallen, daß wir nicht gehen.«
»Das wollen wir uns doch erst überlegen, Sie und ich. Ich denke mir wohl, daß Sie nicht gleich einem fremden Mann, wie ich bin, vertrauen wollen, und auch ich müßte erst vom Arzt hören, ob Sie gesund genug sind, und noch anderes mehr. Die Unterhandlungen fangen jetzt erst an, Sie müssen nicht gleich von einem Beschluß reden. Sie dürfen mir selbst einen Notar vorschlagen, mit dem wir die Sache besprechen wollen.«
»Der Notar kann da nichts ändern,« sagte Greiner, »wir Oberhainer gehen nicht hinüber.«
Der Amerikaner schien betroffen, er merkte jetzt, daß die Sache doch wohl schon reiflich überlegt war.
»Sagen Sie mir, warum nicht. Ich habe Ihnen Vertrauen entgegengebracht, ich darf wohl auch von Ihnen Vertrauen erwarten?«
Nun sprach Greiner frei heraus; sagte, daß er die Puppenindustrie nicht nach Amerika bringen und dadurch sein Heimatland schädigen wolle; auch dann nicht, wenn er selbst dabei reich werden könnte; und so wie er dächten auch die andern Familien im Ort.
Darauf schwieg der Amerikaner. Greiner ging wieder an sein Geschäft – die Pause war schon lang gewesen für einen Wochentag, auch die Kinder rührten wieder die Hände. Philipp stopfte Sägspäne in die Bälge. Marie wandte mit fabelhafter Geschicklichkeit die zugenähten Körper um, und der lange Herr sah staunend auf sie herab. Ja, solche Familien hätte er gerne gehabt, drüben in seinem Wald: Leute mit solch ehrenwerter Gesinnung und mit solchem Fleiß und Geschick, Leute, die zufrieden waren in solch ärmlicher Umgebung.
Als er so still dastand, sah Frau Greiner zu ihm auf und beschämt zog sie ein Päckchen Geld aus ihrer Tasche: »Etwas fehlt an dem Taler, den Sie mir gegeben haben,« sagte sie, »weil der Steuerbote so dumm dahergekommen ist, wie wir gerade nur noch den Taler im Besitz gehabt haben.«
»Ich habe doch gesagt, du sollst hinuntergehen zum Schulzen,« sagte Greiner, »er soll dir darauf legen, was fehlt, bis nächsten Samstag. Der hat’s und tut’s gern.«
»Nicht nötig,« sagte der Amerikaner, »es war nicht ausgemacht, daß ich den Taler wieder bekomme. Es war ein Geschenk.«
Und nun grüßte er und sie grüßten ihn, und er zog von dannen, zum Ort hinaus, ohne einen Versuch bei andern Familien zu machen. –
In der Nähe von Greiners Häuschen war schon den ganzen Morgen ein Bursche herumgestrichen: Georg, der junge Fabrikarbeiter, der bei der ersten Begegnung mit dem Amerikaner dabei gewesen war. Einem Kameraden hatte er aufgetragen, ihn wegen eines bösen Fußes in der Fabrik zu entschuldigen. Als aber der Amerikaner den Ort verließ, folgte ihm Georg mit seinem bösen Fuß erstaunlich schnell. Der Amerikaner ging mit langen Schritten vorwärts, Georg hielt sich immer eine Strecke hinter ihm, bis das Dorf außer Sicht war und sich der Wald dazwischenschob. Dann eilte er vorwärts, versicherte sich noch einmal, daß niemand des Weges kam, lief dem Fremden nach und redete ihn an. Dieser erkannte ihn sofort. Einen Augenblick dachte er, Greiner habe ihn nachgeschickt. Vielleicht bereute er die Abweisung; aber er merkte bald, daß es nicht so war.
»Ich wollte den Herrn nur fragen, ob er mich nicht nach Amerika mitnehmen wolle. Ich bin mit dem Puppengeschäft aufgewachsen und ich wüßte noch einen Burschen und ein Mädchen aus dem Ort, die wären auch bereit, mitzugehen; wir drei könnten so gut wie die Greiners die Leute in Amerika anweisen.«
Eine Weile besann sich der Amerikaner. »Wißt Ihr auch den Grund,« fragte er, »warum die Familie Greiner nicht mit mir zieht?«
»Ja wohl weiß ich’s, daß sie unser Dorf nicht um seinen Verdienst bringen wollen. Aber ich bin aufgeklärter, ich denke: Jeder ist sich selbst der Nächste, und soviel ich von Amerika weiß, denken sie da drüben auch so und machen Geld, soviel sie können.«
»Ja, ja, das ist ganz richtig,« sagte der Amerikaner. »Es ist auch das Vernünftigste. Aber wenn ich doch einmal Deutsche mitnehme, dann will ich richtige Deutsche, die das Gemüt haben, wie es nur die Deutschen haben, die so denken wie dieser arme Mann, der Greiner, denkt. Sie sind kein solcher; Sie haben kein Herz für Ihr Dorf: Sie würden auch für mein Geschäft kein Herz haben, sondern würden mich verlassen, sobald Ihnen ein anderer einen Dollar mehr böte. Guten Abend.«
Mit diesem unverhofften Gruß ging der Fremde nach der andern Seite der Straße und hatte keinen Blick mehr für Georg. Der stand da, halb zornig, halb beschämt, sah eine Weile dem langen Amerikaner nach, wandte sich dann und schlich langsam zurück ins Dorf. Wer ihm jetzt begegnete, der konnte eher glauben, daß er einen bösen Fuß habe.
Armut und Sorge, Not und Entbehrung lasten immer schwer auf dem Menschen, aber am schwersten trägt er daran, wenn er einen Augenblick gemeint hat, er habe die Last los, und wenn sie ihm nun aufs neue aufgebürdet wird. Es war eine trübe Stimmung im Hause des Drückers in den nächsten Wochen, bis allmählich die Erinnerung an den Plan der Auswanderung verblaßte und sie wieder eingewöhnt waren in das alte Elend!
Klein Alex aber schien sich nicht einzugewöhnen; er nahm nicht zu und wurde nicht kräftig wie andere Kinder seines Alters. Wenn gerade Geld und Zeit übrig war, so wurde ihm Milch geholt und er wurde so gut gepflegt, wie’s eben seine Pflegemutter verstand. War aber Mangel im Haus und drängte die Arbeit, dann mußte sich der Kleine wieder mit Kartoffeln begnügen und Kaffeebrühe trinken wie die andern Kinder auch. »Er verträgt’s nicht,« sagte dann Greiner und sah trübselig auf das Kleine, das bei Nacht sein Pflegekind war.
»Nein, er verträgt’s nicht, er ist an seinen Soxhlet gewöhnt,« sagte die Mutter. »Aber gut ist’s, daß er’s nicht weiß und nicht bös auf uns ist, gelt du Kleiner, gelt du magst uns doch? Hast’s ja so gut bei uns, kein Mensch darf dir was tun! Und am Sonntag, da wird’s lustig, da fahren wir dich in Wald hinaus, wo die Vöglein singen und pfeifen, gelt du freust dich, kleiner Schelm?«
So plauderte sie mit ihm, ohne die Arbeit aus der Hand zu legen, und lachte ihm freundlich zu, und Marie, Philipp und Johann machten es der Mutter nach. Dann lächelte der Kleine so hold, daß sie ihn alle lieb hatten und ihm sein vieles Schreien verziehen. Sie beachteten es nicht so im Drange der Arbeit.
Sommer und Herbst waren vergangen. Das letzte Schiff, das die Puppen zu Weihnachten nach Amerika bringen sollte, war abgefahren, und was unsere kleinen Leute gearbeitet hatten, war nun auf der Reise in aller Herren Länder. Und nun stockte die Arbeit. Die Fabriken in Sonneberg gaben keine Aufträge mehr. Das war alle Jahre so im Winter, aber es war immer wieder ein Schrecken für die Leute, wenn der Verdienst aufhörte. Und doch konnten sie die Ruhe so notwendig brauchen. Der Kartoffelacker mußte bestellt und Holz gesammelt werden. Die Kammer, der man den ganzen Sommer versprochen hatte, daß sie auch einmal geputzt werden sollte, wurde nun rein gemacht. Die Kleider wurden geflickt, und wer kein gutes Hemd mehr hatte, für den wurde jetzt ein neues genäht. Aber die Kost wurde immer schmäler.
Um die Weihnachtszeit war’s am schlimmsten. »Marie, geh zum Krämer,« sagte die Mutter, »hol einen Hering zu Mittag. Drei Pfennige nimmst mit, was er mehr kostet, soll der Krämer aufschreiben.« Marie kam zurück mit leeren Händen. »Er gibt’s nicht mehr auf Borg; es wird ihm gar zuviel, sagt er; aber ich soll ein Töpfchen bringen, von der Heringsbrüh wolle er mir geben um drei Pfennig.« Und Marie nahm ein Töpfchen. »Sei doch gescheit und nimm den großen Topf mit, dann bekommst mehr,« sagte Frau Greiner. Aber der Krämer war auch gescheit; er machte den Topf nur zur Hälfte voll.
»Die Brüh ist kräftig,« sagte Frau Greiner, als sie sie zu den Kartoffeln auf den Tisch setzte, »man könnt’ meinen, man hätte einen Hering, so stark schmeckt sie.« »Ja,« sagte Greiner, »aber hintennach merkt man’s doch, daß man keinen Hering gegessen hat. Man wird halt gar nicht satt von der Brüh.« »Wart nur, im Sommer, wenn die gute Einnahm’ kommt, dann holen wir wieder Speck.« So wurde schon im Dezember die harte Arbeitszeit wieder ersehnt.
Weihnachten kam. Die Wege waren verschneit, das Eis glitzerte an den Bäumen, aber doch wanderten gar viele Dorfbewohner durch den winterlichen Wald, Sonneberg zu, das Christfest in der Kirche zu feiern. Auch Greiner und seine Frau gingen miteinander hin. Die Kinder ließen sie ruhig allein, brav waren sie gewiß an diesem Morgen, denn sie wußten von vergangenen Jahren: Vater und Mutter kehrten nach der Kirche bei der Großmutter ein, und die schickte Lebkuchen, für jedes Kind einen, und diese Freude warf ihren Schimmer voraus auf das Trüpplein der Kinder, das daheim neben dem Ofen kauerte und wartete, wartete eine Stunde nach der andern, unfähig an etwas anderes denken zu können, als an den Lebkuchen. Jetzt stapfte jemand in den Hausgang herein; der Postbote, dick beschneit, erschien unter der Türe, und als er nur die Kinder sah, rief er: »Ist der Vater nicht da oder die Mutter? Da ist ein Paket, ist wohl ein Christstollen darin. Daß ihr’s nicht aufmacht! Ich leg’s lieber da hinauf.« Und der Bote legte den Pack oben hin auf den Kleiderschrank und ging. Das war nun eine Aufregung! Da standen sie alle, die Marie, der Philipp und der Johann und sahen andächtig hinauf nach dem großen Paket in seinem braunen Packpapier und wiederholten, was der Postbote gesagt hatte: »Es ist wohl ein Christstollen.« Der Philipp, der sich das Paket näher besehen wollte, trug einen Stuhl herbei und hätte den Pack auch wohl heruntergeholt; aber das wollte Marie nicht erlauben und darum fing sie an, an dem Stuhl zu rütteln, so daß der Philipp schrie und froh war, als er glücklich wieder auf festem Boden stand. Und nun knieten sie auf der Bank am Fenster, kratzten das Eis von den Scheiben und sahen hindurch, ob denn die Eltern immer und immer noch nicht kämen.
Endlich tauchten sie auf, die zwei beschneiten Gestalten; der Vater kam hustend und frierend gleich auf den Ofen zu, die Mutter konnte nicht vorwärts kommen, so wurde sie bedrängt und umringt von den Kindern und ihr Korb bestürmt wegen der Lebkuchen. Auch der kleine Alex im Wagen tat einen kleinen Juchzer, als er die Mutter wieder sah, und auch er bekam von dem Weihnachtsgebäck. »Wenn’s ihm nur gut bekommt, gib’s ihm lieber nicht,« sagte Greiner sorglich. Aber ganz entrüstet rief seine Frau: »Ich werd doch nicht ihm allein keinen Lebkuchen geben, wenn alle einen essen? er muß doch auch merken, daß Christtag ist: da, mein Bübchen, da, heute ist Weihnacht!«
Einen Augenblick hatte das heißhungerige Verlangen die Kinder sogar das Paket vergessen lassen, aber noch mit dem ersten Bissen im Mund verkündeten sie das Ereignis. Philipp sprang wieder auf den Stuhl und Marie wehrte ihm nicht, so schleppte er das Paket auf den Tisch, und unter gespannter Aufmerksamkeit wurden die Schnüre gelöst. Alle drängten sich heran und mit unbeschreiblichem Jubel wurde der Christstollen begrüßt, den der Postbote prophezeit hatte, und was auch dieser nicht geahnt hatte: ein ganzer Kranz Würste, gute feste Siedwürste, und noch etwas gar liebliches: ein rosa Kinderkleidchen.
Die Sendung kam von Fräulein Elisabeth; sie hatte dem kleinen Alex das Kleid gemacht, der ganzen Familie zum Gruß für die Feiertage den Stollen gebacken und ihre Eltern hatten die Würste beigelegt. In einem Brief voll Liebe und Teilnahme fragte sie nach ihrem Liebling und ob ihn auch alle lieb hätten. Da umringten sie den Kleinen im Gefühl, daß sie ihm das alles verdankten, und sagten ihm liebe Worte, und er lachte laut, als sich all die freundlichen Gesichter über ihn beugten. Aber das schöne Kleidchen konnte ihm Frau Greiner nicht anziehen; so war er nicht gewachsen und gediehen, wie sich’s wohl Fräulein Elisabeth vorgestellt hatte. »So sollte er halt jetzt sein,« sagte Greiner. »Wir heben das Kleidchen gut auf, bis übers Jahr wird er hineingewachsen sein,« sagte die Mutter und verwahrte es sorgsam.
Das gab ein Festmahl heute! Wie taute der halb erfrorene abgemagerte Mann auf, als die heißen Würste aufgetragen wurden, und wie schmeckte diese ganze Woche die Kaffeebrühe so wunderbar, wenn der köstliche Stollen dazu eingetunkt wurde! Ja, der Dank kam aus dem Herzen, den Vater Greiner in einem Brief zu Neujahr an Fräulein Elisabeth im Namen der ganzen Familie aussprach! –
Januar war’s, kalte kurze Tage und keine Arbeit im Haus. Nicht einmal bei Nacht konnte man die Sorgen verschlafen, denn Alex war krank. Eine Frau im Dorf hatte geraten, ihm von Zeit zu Zeit Überschläge zu machen auf das heiße Köpfchen, und das besorgte Greiner. So saß er in der stillen Nacht an dem Kinderwagen, und indem er auf das schöne Kind seiner verstorbenen Schwester sah und sich fragte, ob es wohl bald seiner Mutter nachfolgen würde, kam den Mann, der jahraus jahrein handwerksmäßig die gewohnten Puppenköpfe formte, das Verlangen an, dies Kinderköpfchen nach dem Leben zu bilden. Hätte er nur Wachs gehabt, wie er es in seinen jungen Jahren auf der Schule verwendet hatte, so hätte er sich’s wohl zugetraut.
Es gab aber ein paar Jungen im Dorfe, die jeden Tag nach Sonneberg in die Industrieschule wanderten. Dort lernten sie Menschen und Tiere aus Wachs bilden. Durch diese konnte er sich welches verschaffen. Er sagte nichts davon zu seiner Frau; aber er ging frühmorgens vors Haus, paßte einen der Burschen ab und am Abend hatte er schon, was er brauchte zu seinem Vorhaben.
Und bei Nacht machte er sich an die Arbeit. Nie hatte es ihm Freude gemacht, in den Formen Köpfe auszudrücken, die ihm die Fabrik übergab; denn die Puppenköpfe, die da herauskamen, gefielen ihm nicht, er machte sie nur, weil er Geld dafür bekam. Aber nun hatte er eine Arbeit, die ihm Freude machte; er konnte etwas Schönes schaffen, wie vor zwanzig Jahren, wo er auf der Schule war. Mit jugendlichem Eifer ging er daran und nach ein paar Stunden hatte er ein Köpfchen geformt, das Ähnlichkeit hatte mit dem des kleinen Alex. Aber als er es am nächsten Morgen heimlich bei Tageslicht ansah, war er unzufrieden mit seinem Werk. Wohl waren die einzelnen Züge ähnlich, aber die Anmut und Lieblichkeit, die dem ganzen Gesichtchen einen besonderen Reiz verlieh, die fehlte. Mit einem einzigen Druck der Hand zerstörte er die Arbeit der vergangenen Nacht; er hielt wieder das formlose Wachs in Händen und legte es mutlos beiseite.
In der nächsten Nacht, als der Kleine unruhig wurde und dann im Weinen innehielt und verlangend die Arme nach ihm ausstreckte, war Greiner wieder ergriffen von dem rührenden Ausdruck des Gesichtchens. Kaum war das Kind beruhigt, so konnte er dem Verlangen nicht widerstehen, setzte sich an die Arbeit, formte aufs neue und allmählich kam’s ihm in die Finger, daß er das zum Ausdruck zu bringen vermochte, was er vor sich sah. Ja, nun schien sein Köpfchen Leben zu haben; beglückt betrachtete er sein Kunstwerk. Diesmal verbarg er es nicht, er stellte es oben auf den Kleiderkasten; er wollte hören, was seine Frau dazu sagen würde.
In der Dunkelheit des Januarmorgens bemerkten weder die Frau noch die Kinder beim Aufstehen das kleine Köpfchen, das auf dem Schrank stand, und Greiner hatte eine gewisse Scheu, davon zu sprechen. Doch lächelte er beim Frühstück so traumverloren vor sich hin, daß seine Frau ihn verwundert ansah. Sie hatte aber nichts dagegen, daß er so vergnüglich dreinschaute, es war ihr schon lieber als das sorgliche und grämliche Gesicht, das sie an ihm gewöhnt war. Gegen acht Uhr richtete Marie sich zur Schule. Sie ging in die Kammer, ihr Tuch zu holen. Der Vater horchte auf ihre Schritte – richtig, jetzt machte sie Halt, sie mußte etwa vor dem Schrank stehen. »Mutter,« rief sie nun aus der Kammer, »was steht denn da oben?«
»Ich weiß doch nicht, was du meinst.«
»Da oben auf dem Schrank, es sieht aus, wie ein Kopf.«
Jetzt wurde die Mutter aufmerksam und Philipp sprang neugierig in die Kammer. »Ein Puppenkopf ist’s,« rief er, »aber kein solcher,« und er deutete auf die, welche sein Vater auspreßte.
»Auf dem Schrank steht doch kein Puppenkopf, oder hast du etwas hinaufgestellt, Elias?«
»Mußt eben sehen,« sagte der mit seinem wunderlichen Lächeln. Jetzt ging die Mutter selbst hinaus und Greiner schaute ihr nach. Vorsichtig hob Frau Greiner das Köpfchen herunter, nahm es vor ans Kammerfenster; die Kinder folgten ihr, der Vater horchte hinaus. »Das ist gar kein Puppenkopf,« hörte er jetzt seinen Philipp sagen, »das ist ja der Alex.«
»Gerade hab’ ich’s auch gedacht,« rief die Frau, »unser Alex, ja ganz wie er leibt und lebt.«
Da hörten sie Greiner laut und vergnügt lachen, wie sie’s gar nicht gewöhnt waren. »Was lachst denn du so?« fragte seine Frau und kam zu ihm mit dem kleinen Kunstwerk in der Hand.
»Mich freut’s halt, daß ihr’s erkannt habt. Bei Nacht hab’ ich’s gemacht, daß wir doch ein Andenken haben, wenn der Kleine sterben sollte,« setzte er schon wieder in seiner gewohnten sorglichen Weise hinzu.
»So steht’s nicht um ihn, daran brauchst gar nicht zu denken.« Sie trat an den Wagen, das Kind schlief, sie hielt das Köpfchen daneben. »Gut erraten hast’s, wirklich gut!«
»Wenn man danach Formen machte, meinst nicht, das würde schönere Puppenköpfe geben, als die alten da?«
»Ja, wahrhaftig, Elias, aber wie müßt’ man das anstellen?«
»Einen andern Weg wüßt’ ich nicht, als daß man den Kopf den Fabrikherren zeigt, ob er einem von ihnen so gut gefiele, daß er Formen danach machen ließe.«
»Aber der müßt ihn dir abkaufen; für einen neuen Kopf hat mancher schon viel Geld bekommen.«
»Ich hab’ ja nichts dagegen, wenn er ihn teuer bezahlt, du mußt ihn halt in die Stadt tragen; meine Liebhaberei ist das nicht, zu den Herren zu laufen, die einen vielleicht kurz abweisen.«
Die Frau sah das ein. Sie besann sich auch nicht, ob es ihre Liebhaberei sei. Sie wollte es versuchen. Es gab ja eine ganze Anzahl von Fabrikanten in Sonneberg; ihre Schwester wollte sie fragen, an wen sie sich wenden sollte, einer würde es schon annehmen. Das Kunstwerk wurde nun vorsichtig wieder auf den Schrank gestellt, und am folgenden Tage richtete sich Frau Greiner, ihr Glück in der Stadt zu versuchen.
Dem lebendigen kleinen Alex versprach sie beim Abschied, daß es ihm nie mehr an Milch fehlen sollte, wenn sein Abbild einen Käufer fände. Leichtfüßig ging sie aus dem Haus – Arbeit war nicht abzuliefern, der große Huckelkorb hatte seine Ruhezeit. Am Arm ein kleines Körbchen, in dem der Schatz geborgen war, ein großes Tuch um Kopf und Brust geschlungen, das die Winterkälte abhalten sollte, so verließ sie ihr Heim. Der Mann blieb in größerer Aufregung zurück als je vorher. Wenn sonst seine Frau zur Stadt ging, so handelte es sich nur darum, ob sie etwas mehr oder weniger Geld und Bestellungen heimbringen würde; heute aber war die große Frage, ob sie gleichgültig abgewiesen mit leeren Händen beschämt heimkommen, einen kleinen Betrag bringen oder gar eine große Summe erhalten würde?
Einmal war’s ja vorgekommen im Dorf – das mochte aber schon dreißig Jahre her sein – daß einer ein reicher Mann geworden war durch einen besonders hübschen Puppenkopf, den er geformt hatte. Es war Greiner zumute wie einem, der ein Los genommen, auf das er große Hoffnungen setzt, und nun sieht er der Ziehung entgegen – wird’s eine Niete sein, ein Gewinnst oder gar der Haupttreffer? Der schöne Traum mit dem großen Verdienst in Amerika fiel ihm wieder ein, wie schnell war er verflogen! Nun ja, auch der schöne Traum würde wohl heute abend vorbei sein. Seine Frau wird den kleinen Kopf wieder heimbringen, vor ihn hinlegen und sagen: es hat ihn keiner gewollt. Natürlich, sie hatten ja in Sonneberg Formen genug, was sollten sie andere machen? Die alten Puppenköpfe gefielen ihnen vielleicht viel besser, sie lachten seine Frau wohl aus. Mit all seinem Denken und Fühlen war Greiner bei seiner Frau, nur körperlich weilte er unter seinen Kindern. Er sah und hörte kaum, was sie trieben.
Inzwischen hatte Frau Greiner die Stadt erreicht und suchte Mutter und Schwester auf. – Auch bei diesen stockte in dieser Jahreszeit die Arbeit. Die alte Frau saß am Ofen und ruhte, die Schwester flickte, friedlich und still war’s im Stübchen. Aus dem Topf auf dem Ofen wurde Frau Greiner eine große Tasse voll Kaffee eingeschenkt, der sie angenehm erwärmte nach dem langen Marsch durch die Kälte. Sie hatte schon erzählt, was sie heute in die Stadt trieb, aber das Kunstwerk war noch im Korb.
»So zeig doch einmal den Kopf,« sagte nun die alte Frau. Sorgsam nahm ihn Frau Greiner heraus, gespannt sah sie auf der Mutter prüfendes Gesicht. »Da spar’ dir nur die Müh’, Magdalene,« sagte sie jetzt, »das ist kein richtiger Puppenkopf. Der sieht ja aus wie ein Kinderkopf, den nimmt dir kein Fabrikant ab. Jetzt macht der Greiner in die dreißig Jahr Köpf’ und weiß noch nicht, wie sie aussehen müssen! Hättest’s ihm wohl sagen können, hast’s denn du nicht gesehen?«
»Ja,« sagte die Frau kleinmütig, »anders ist er freilich, als sonst die Puppenköpfe sind, aber er hat halt gemeint, so wären sie schöner.«
»Wie, laß mich’s doch auch recht sehen,« sagte die Schwester und stellte den Kopf an das Plätzchen, an dem sie sonst jahraus jahrein den Köpfen ihren Haarschmuck zurechtmachte. »So einer ist freilich noch nie dagestanden,« sagte sie kopfschüttelnd, »aber so unrecht ist er gerade nicht. Bei dem jungen Fabrikanten Weber drüben, da wär’s doch nicht unmöglich, daß du ihn anbrächtest; da ging’ ich hin, der ist fürs Neumodische; wenn der ihn nicht nimmt, dann nimmt ihn keiner.«
»Kennst du den Mann? Gehst du nicht mit mir?« fragte Frau Greiner.
»Bis ans Haus begleit’ ich dich und wart’ unten; hinauf möcht’ ich grad nicht, sie sind oft so barsch.«
Die Schwestern gingen miteinander, es war nicht weit. Das Haus war geschlossen, am Glockenzug blieben sie zögernd stehen. »Meinst du nicht, man lacht mich nur aus mit meinem elenden Köpfchen? Sollt’ ich’s nicht bleiben lassen? Der Mutter hat’s ja gar nicht gepaßt.«
»Wenn der junge Herr so zufällig herauskäm’, wär’s freilich besser, als wenn man so extra und großartig die Glocke zieht.« Eine Weile standen sie zaghaft auf dem kalten Pflaster. Da mußte die junge Frau an daheim denken, und es war, als ob sie es spürte, wie ihr Mann mit all seinem Denken bei ihr war. »Ich muß in Gottes Namen hinein,« sagte sie, »ich könnt’ mich ja vor meinem Elias heut’ abend nicht blicken lassen.« Sie läutete; die Türe wurde aufgezogen; die Schwester ging einen Schritt zurück und Frau Greiner vorwärts bis an eine Türe mit der Aufschrift »Kontor«, und tapfer hinein in das Zimmer, wo an großen Stehpulten zwei Herren schrieben.
»Sie wünschen?« fragte der eine, der nur einen Augenblick den Kopf erhoben hatte, dann aber eifrig weiterschrieb. Schüchtern und unsicher brachte Frau Greiner ihr Anliegen vor. Einen neuen Puppenkopf habe ihr Mann gemacht, weil sie ein so schönes Waisenkind hätten, nach dem hätt’ er’s gemacht, wie’s leibt und lebt; bei Nacht, weil es seiner Schwester Kind sei und Umschläge brauchte bei Nacht.
»Ja, gute Frau, was geht denn das uns an, was wollen Sie denn eigentlich?« fragte der Schreiber.
»Wir haben gemeint, ob Herr Weber den Kopf nicht kaufen würde?«
»Kaufen? Ja, zu was denn?«
»Daß man Formen danach mache zu Papiermasché-Köpfen. Mein Mann ist Drücker in Oberhain.«
»Wenn er Drücker ist, dann soll er nur die Formen schön ausdrücken; aber die neuen Köpfe, das könnt’ er wissen, die bezieht Herr Weber nicht von den Drückern da draußen im Wald, die werden von den Künstlern geliefert, von rechten Künstlern, die ausgebildet sind auf der Kunstschule. So etwas muß gelernt sein, gute Frau. Jetzt gehen Sie nur heim und machen Sie Ihrem Waisenkind Umschläge, das wird besser sein.« Er lachte und der jüngere Herr am nächsten Schreibpult lachte auch. Aber Frau Greiner war nicht empfindlich; es waren eben junge Herrn, die machten sich gern lustig, das nahm sie nicht schwer. Zeigen wollte sie doch wenigstens den Kopf. Sie nahm ihn aus dem Korb. »Das wäre er,« sagte sie; »der Herr Weber ist wohl nicht zu Haus, daß ich ihm den Kopf zeigen könnt’?«
»Nein,« sagte der Herr und schaute nur flüchtig nach dem Köpfchen. »Herr Weber hat genug neue Muster, fragen Sie nur anderswo; Fabriken gibt es ja hier in jedem dritten Haus, jedes Kind auf der Straße kann Ihnen eine zeigen.«
Frau Greiner packte ihren Schatz sorgsam wieder ein, und dabei sagte sie ganz treuherzig: »Es wär’ mir doch recht gewesen, wenn ich den Herrn Weber hätt’ einen Augenblick sprechen können. Weil er doch fürs Neumodische ist, und so neumodisch wie der Kopf ist, ganz weich ist er noch.« Die Herren lachten, da lachte Frau Greiner mit. »Sie haben halt noch gut lachen,« sagte sie, »Sie sind jung. Aber für meinen Mann ist’s schon anders, wenn ich mit leeren Händen heimkomm’. Man könnt’s Geld so nötig brauchen und er hat schon wunder gemeint, wieviel ich ihm heimbring’! Der macht böse Falten hin!«
Halblaut sagte der ältere Schreiber zum jüngeren: »So gehen Sie eben hinauf und bitten Sie Herrn Weber, daß er einen Augenblick herunterkomme.«
Frau Greiner bemerkte mit großer Genugtuung, daß Herr Weber nun auf einmal zu Hause war. Gleich packte sie ihr Köpfchen wieder aus.
So sehr jung war der Fabrikant nicht mehr, der nun eintrat und zu Frau Greiner sagte: »Einen Kopf hat Ihr Mann gemacht? So lassen Sie mal sehen.« Und während er mit dem Köpfchen in der Hand ans Fenster trat, es fortwährend betrachtend, fragte er: »Wie heißt denn Ihr Mann?«
»Elias Greiner.«
»Hat er denn schon mehr verkauft? Nein? Wo hat er’s gelernt?«
»Nur als Bub war er ein halbes Jahr auf der Schul’.«
»So, so, und was verlangen Sie für den Kopf?«
Die letzte Frage war eine feine Frage! Die Augen von Frau Greiner leuchteten ordentlich, aber was sollte sie antworten? »Ich weiß nicht, was ich verlangen soll,« sagte sie. Inzwischen hatte Herr Weber mit seinem Buchhalter leise verhandelt.
»Wer etwas verkaufen will, der muß auch den Preis machen,« sagte der Fabrikant.
Da wuchs Frau Greiner der Mut. »Ich denk’ halt so,« sagte sie; »Fabriken gibt’s hier in jedem dritten Haus, ich könnt’ überall fragen und es dem Herrn geben, der’s am besten bezahlt.«
Die jungen Herren lachten. Aber der Fabrikant wandte sich ernsthaft an sie: »Ich will Ihnen etwas sagen, Frau, und Sie können es Ihrem Mann ausrichten: der Kopf ist ausgezeichnet geformt, ganz nach dem Leben, aber trotzdem, Sie werden ihn doch nicht leicht verkaufen können. Es ist kein Puppenkopf, wie man es gewohnt ist. Ihr Mann soll sich einmal hundert Puppenköpfe ansehen: alle haben einen Mund so klein, kleiner als die Augen und so schmal wie die Nase. Beim Menschen ist es ja nicht so, und bei diesem Kopf auch nicht, darum sieht er aus wie ein Kinderköpfchen, nicht wie ein Puppenkopf. Mir gefällt es so, weil es nach dem Leben ist, ich kann die großen Puppenaugen nicht leiden; aber ob es sich gut verkaufen läßt, das fragt sich sehr. Die Kaufleute wollen eben die hergebrachten Puppenköpfe, und darum dürfen Sie mir glauben, wenn Sie auch zu allen Fabrikanten laufen, Sie werden den Kopf schwer anbringen. Aber versuchen Sie es nur.«
Frau Greiner hatte kein Verlangen danach, sie war froh, daß dieser Mann an dem Kopf Gefallen fand. Auch flößte ihr seine Art Vertrauen ein. »Ich weiß nicht, was ich fordern soll,« sagte sie, »aber wenn Sie ihn kaufen wollen, so biete ich ihn niemand anders an. Sie werden mir schon geben, was recht ist.«
Noch einmal betrachtete der Fabrikant prüfend das kleine Kunstwerk, dann sagte er: »Ihr Mann soll mir schriftlich versprechen, daß er in den nächsten Jahren keinen Kopf für einen anderen Fabrikanten macht als für mich, dann zahle ich Ihnen für den Kopf 800 Mark; davon gebe ich Ihnen die Hälfte gleich mit und die andere Hälfte, sowie Ihr Mann mir das Schriftliche bringt. Wenn Sie einverstanden sind, so wird der Handel gleich schriftlich gemacht.«
»Ja, ja, ja,« sagte Frau Greiner, »einverstanden bin ich, ganz einverstanden,« und die Freude über die hohe Summe überstrahlte ihr Gesicht, alle ihre Erwartungen waren übertroffen. Als sie die Summe wirklich in die Hand bekam und das Schreiben dazu, sagte der Fabrikant: »Ihr Mann soll die andere Hälfte des Geldes selbst holen, ich möchte mit ihm reden, vielleicht können wir miteinander verabreden, daß er mir den Kopf auch in andern Größen liefert.«
Da fühlte die Frau, daß ihr für jetzt und für die Zukunft eine Last abgenommen war, die sie getragen hatte, solang sie zurückdenken konnte – die bittere Armut, unter deren Druck sie gestanden, so lange sie lebte. Sie sagte noch mit Tränen in den Augen: »Vergelt’s Gott, und mein Mann wird sich selbst bedanken,« und ging wie im Traum von dannen. Die Herren sahen ihr nach, der Buchhalter meinte: »Die hätt’s auch um weniger hergegeben.« »Ja,« sagte der Fabrikant, »aber es wäre nicht recht, wollte man die Unwissenheit solch armer Leute ausnützen. Ein Künstler hätt’ das Doppelte dafür verlangt. Der Kopf ist vorzüglich, wollen wir sehen, ob wir gute Geschäfte damit machen.« Das Abbild des kleinen Alex wurde in kostbarem Schrank verwahrt.
Draußen vor dem Haus trippelte frierend Frau Greiners Schwester auf und ab. »Aber du hast lang gebraucht! Ich bin ganz erstarrt!«
»Macht nichts, Regine, macht gar nichts. Er hat’s ja gekauft! Rat nur, um wieviel? Aber du hättest’s ja doch nie erraten – um 800 Mark, Regine! Komm zur Mutter, komm nur schnell!« –
Es war schon dunkel, als Frau Greiner ihr Dorf erreichte. Auf dem langen Wege hatte sie sich ihren Plan gemacht: Am Krämer wollte sie vorbeigehen und am Metzger, Schulden bezahlen, einkaufen, bar zahlen. Dann, wenn sie heimkam, wollte sie die Kinder hinausschicken, die brauchten nichts zu wissen von dem vielen Geld. Danach wollte sie zu ihrem Manne sagen: Den Kopf nimmt niemand, der hat ja gar so einen großen Mund, und dann, wenn er sich recht gegrämt hatte, wollte sie den Korb aufmachen und statt dem Kopf die Geldrollen vor ihn legen. Ja, so hatte sie sich’s ausgedacht. Als sie aber endlich im Dorf war, mochte sie sich nicht mehr aufhalten; einkaufen konnte sie doch später noch, jetzt heim, heim! Und als sie die Zimmertüre aufmachte, wo all die Ihren beisammen saßen und auf sie warteten, und als ihr Mann auf sie zukam und sie ansah, wie wenn sein Leben abhinge von dem Wort, das jetzt über ihre Lippen kommen würde, da hatte sie kein Verlangen mehr, ihn zu täuschen; da fuhr sie ihm mit beiden Händen über seine schmalen Backen, und strahlend vor Glück rief sie: »Um 800 Mark haben sie ihn gekauft, und er will noch mehr von dir! Gelt, da kannst lachen, du alter Griesgram du!«
Der kleine Alex hatte geschlafen, als die Mutter heimgekommen war. Nach einer Stunde etwa ließ er sein Stimmchen hören und ein einstimmiges: »Jetzt wacht er!« kam aus aller Mund; im Augenblick war der Wagen umringt von allem was Greiner hieß, denn die ganze Dankbarkeit wandte sich dem Kindlein zu. Des Alex’ Gesichtchen war’s ja, das solches Glück ins Haus gebracht hatte. Milch hatten sie schon bereit, zwei von seinen Soxhletfläschchen standen voll auf dem Ofen. Wie lieblich der Kleine all die freundlichen Gesichter anlächelte, die seinen Wagen umringten, und wie gierig er die Milch trank; er konnte gar nicht genug bekommen! Sie sahen ihm alle zu. »Jetzt sollst du Milch haben, soviel du willst, alle Tage frische Milch, du lieber kleiner Schelm du!«
Aber wie war es nur möglich – sie bekam ihm nicht einmal gut! »Er wird die Milch doch vertragen, es wird doch nicht zu spät sein?« dachte Greiner. Am nächsten Morgen wollte er sie gar nicht nehmen; er schob das Soxhletfläschchen weg, wenn sie es ihm reichten und mit allen Schmeichelworten immer wieder anboten. In der Nacht faßte Greiner einen Entschluß: »Wenn ich morgen in die Stadt gehe und das Geld hole, nehme ich den Arzt mit heraus; wir sind’s ihm schuldig, dem Kind, wir wollen alles dafür tun.«
Aber das war nicht des kleinen Alex Bestimmung. Er war nicht gesandt, Mühe und Kosten zu machen, er sollte bloß aus dem Elend helfen. Jetzt hatte er geholfen und jetzt nahm er Abschied. In früher, dunkler Morgenstunde, als Greiner an seinem Bettchen saß, lächelte der kleine Alex holdselig, dann schloß er halb die kleinen Äuglein und war still. Ganz sanft war er entschlafen. Da trat der Mann ans Bett seiner Frau. »Magdalene, wach auf, unser Kleiner ist gestorben.«
Das Waislein wurde betrauert, wie es bei seinen eigenen Eltern und Geschwistern nicht mehr hätte betrauert werden können, und dem kleinen Fremdling folgten auf den winterlichen Friedhof alle Nachbarn und Freunde; denn es war keiner, dem es nicht Leid getan hätte um das liebliche Kind. Und sie sagten untereinander, es sei zu schön gewesen für diese Welt.
Der Ortsvorsteher schrieb nach Köln, man sollte den Vormund ausfindig machen und ihm den Todesfall mitteilen. Die Familie lasse auch fragen, ob sie die Wäsche, den Wagen und den Soxhlet als Erbe behalten dürfe? Er, Ruppert, halte das für selbstverständlich. Er habe es nie gebilligt, daß man dieser armen Familie das Kind zugeschoben habe, und bitte den Vormund, die Beerdigungskosten zu zahlen.
Eines Tages brachte Ruppert das Geld für die Beerdigung und eine Antwort mit Entschuldigung. Der Vormund habe nicht gewußt, daß Fabrikant Greiner in so schlechten Vermögensverhältnissen sei. Die Wäsche und den Wagen sollten selbstverständlich die Kostgeber als Entschädigung erhalten.
»Vom Soxhlet steht nichts darin?«
»Nein, von dem nicht.«
»Siehst, wir sind nicht allein so dumm,« sagte Frau Greiner zu ihrem Mann. »Die Herren wissen halt auch nicht, was der Soxhlet ist.«
Im Frühjahr, als der Schnee schmolz, richteten sie das kleine Grab. Rings um den Hügel gruben sie in die Erde die Soxhletfläschchen, die dienten als Gläser für die Schneeglöckchen und Maiblumen. Sogar ein schönes Kreuz schmückte das Grab, obwohl das im Dorf nicht Sitte ist bei Kindergräbern. Aber wo ruht auch sonst ein kleiner Erdenbürger, der, wie Alex, eine ganze Familie aus dem Elend errettet hat? Mancher wird alt und grau und hat in seinem langen Leben andern kein Glück gebracht!
Wenn ihr an Weihnachten die Puppen seht, eine neben der andern ausgestellt in den Läden der großen Stadt, dann schaut sie genau an. Ist nicht eine dabei, die lebensvoll wie ein Kindergesichtchen euch ansieht zwischen all den großäugigen Puppengesichtern? Dann grüßt sie freundlich, ihr wißt ja, wie sie entstanden ist: dem kleinen Alex ist sie nachgebildet.
Fußnoten
[*] Unter Soxhlet versteht man eine Vorrichtung zum Kochen der Milch für kleine Kinder.