Читать книгу Im Schatten der Corona - Agnes Schuster - Страница 11
10. Kapitel
ОглавлениеEines Tages musste Elli wirklich ins Krankenhaus, weil der starke Verdacht auf COVID-19 bestand, so wie sie glaubte; denn ihre Atemnot nahm plötzlich rapide überhand. In einer schlaflosen Nacht wurde ihr plötzlich heiß, sie dachte, das ist gewiss Fieber, ein Symptom für Corona, und als sie bei dem künstlichen Licht in den Spiegel schaute, blickten ihr fieberglänzende Augen entgegen. Sie erschrak heftig, aber wehrte sich vehement, jetzt Fieber zu messen. Nur nicht!, dachte sie, ich will die Wahrheit nicht wissen. Diese soll sich an Hand des Thermometers nicht konkretisieren. Auf keinem Fall! Nein! Nein! Lieber will ich darüber im Ungewissen bleiben. Am Eingang der Luftröhre spürte sie einen Krampf, der zum Husten reizte, den sie streng unterdrückte, denn trockener Husten stellte doch auch ein Symptom für Corona dar. Sie schluckte Speichel oder trank vorsorglich einen Schluck Flüssigkeit und schon hatte sich der Hustenreiz erledigt. Sie glaubte, man könne diese Symptome einfach verdrängen oder missachten. Aber als sie sich einmal morgens abrupt vom Bett aufrichtete und am Bett saß, stockte ihr Atem total. Augenblicklich bekam sie überhaupt keine Luft mehr und glaubte zu ersticken. Halb ohnmächtig und wie tot schon zog sie sich hin zum Tisch, wo ihr Smartphone lag. Mit totenblassen zittrigen Händen wählte sie 112, nämlich den Rettungsdienst. Sie dachte, sie müsse jetzt sterben. Schrecklich aufgeregt und verwirrt, gab sie ungenügend Auskunft am Telefon. Selbst ihre Straße und Hausnummer kamen ihr nicht mehr gleich in den Sinn. Wie blamabel! Man fragte wiederholt danach, bis ihr endlich beides einfiel. Gewiss hielt man sie am anderen Ende der Leitung für schwachsinnig. Alzheimer läßt grüßen, dachte man vermutlich. Aber als sie hörten, dass sie keine Luft mehr bekäme, waren sie gewarnt und schneller als gedacht bei ihr. Sie besaß keine Zeit mehr sich vorzubereiten, das Nötigste in eine Tasche zu packen, falls sie ein oder zwei Tage oder gar länger im Krankenhaus bleiben müsse, so wie sie vermutete.
Blitzschnell war der Rettungswagen an Ort und Stelle gewesen. Beim Eintreten in ihr Haus, reichte man ihr sofort eine Gesichtsmaske dar, denn sie glaubten sofort, sie habe bereits COVID-19. Dann fragte einer der beiden jungen Sanitäter sie laufend aus. Aber zuerst maß er sogleich ihren Sauerstoffgehalt im Blut, indem er ihr an einer Fingerspitze eine klammerartige Vorrichtung ansteckte. „100%!“, schrie er fast grob. „Was wollen Sie! Sie haben doch genug Luft! Sie haben ja 100% Sauerstoff im Blut! Wieso klagen Sie über Atemnot?“
„Aber ich habe für einen Moment wirklich überhaupt keine Luft mehr bekommen“, verteidigte sich Frau Kappel. „Was hätte ich sonst tun sollen als den Rettungsdienst anzurufen? Mir war doch zum Sterben zumute!“
Dann fragte er sie über Symptome aus, die man bei einer Corona-Infektion üblicherweise haben kann. „Haben Sie Fieber, Husten, Schluckbeschwerden, Schmerzen in der Lunge oder sonst was? Ist Ihnen übel? Haben Sie Kopfschmerzen oder Geruchs- und Geschmacksstörungen?“
„Nur dauerhafte Atemnot“, sagte Frau Kappel.
Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Fast 53 Jahre“, sagte sie.
„Was haben wir heute für einen Tag?“
„Samstag“, sagte sie.
„Welches Monat?“
„April“, sagte sie.
„Und welches Jahr?“
„2020“, antwortete sie.
„Was wollen Sie jetzt tun?“, fragte er schließlich, „wollen Sie mitkommen oder doch lieber daheim bleiben.“
Elli überlegte und zögerte mit der Antwort, denn sie wollte jetzt inmitten der Corona-Krise wirklich nicht in ein Krankenhaus mit den vielen Infektionen und Todesfällen, nein, ins Zentrum dieser schrecklichen Pandemie wollte sie eigentlich nicht. Aber sie musste sich schnell entscheiden. Die Sanitäter warteten ungeduldig auf Antwort. Die Zeit drängte.
„Doch“, sagte sie endlich, „es muss wohl sein, ich komme mit.“
„Kommen Sie mit“, sagte einer der Sanitäter, „sonst müssen wir gleich nochmals kommen, wenn sie sich plötzlich anders entscheiden, wenn Sie einen erneuten Anfall von Atemnot bekommen.“
Sie nahm nur ihre Handtasche mit, weiter jedoch nichts und sperrte die Eingangstüre des Hauses zu. Ihr Mann schlief noch. Es war früh am Morgen. Ihr Nachbar Limburg beobachtete sie von drüben, merkte sie. Im Rettungswagen wurde sie weiterhin vom Rettungssanitäter ausgefragt, so, wie vorher schon; er wiederholte sich nämlich: „Haben Sie Husten oder Schluckbeschwerden? Tut Ihnen Ihre Lunge weh? Haben Sie Fieber? Wissen Sie welchen Tag wir heute haben? Welches Monat und Jahr haben wir?“ Und weil sie fragend auf ihn blickte, sagte er: „Ja, ich frage Sie dies alles, um eine Übersicht über Sie und Ihren psychischen und physischen Zustand zu bekommen.“
Sie beantwortete alle Fragen nochmals und nochmals.
So landete Elli Kappel jetzt am 25. April 2020 mitten in der Corona-Krise im Zentrum der Pandemie, in einem großstädtischen Krankenhaus, wo man Patienten mit dem schlimmen Virus zu behandeln pflegte, wohin sie aus Angst nie hin wollte. Nun aber geschah das Unausweichliche. Sie war da und hatte Angst, sich hier erst recht zu infizieren, falls sie noch nicht angesteckt war.
Sie wurde von den Sanitätern, zwei hübschen jungen Männern, in die Notaufnahme gebracht, die gleich neben der Intensivstation lag, wo die schlimmen COVID-19 Fälle lagen, angeschlossen und beatmet mit den wichtigen und besonders in Südeuropa so knappen Sauerstoff-Beatmungsmaschinen.
Hier hinterließen die zwei Sanitäter in der Nothilfe noch allerhand Schriftliches über Frau Kappel bei der Übergabe. Sie lag nun auf einer Untersuchungspritsche und wartete auf eine systemrelevante Krankenschwester. Schließlich trat sie ein, angetan mit einem Schutzkittel, blauen Handschuhen, einer Gesichtsmaske, deren Plastikteil auch die Augen bedeckte. Die Schwester, genervt über den Neuzugang am Wochenende, gab sich beinahe abweisend, mürrisch, schroff und außerordentlich unfreundlich. Zuerst wurde ihr ein Viggo in der Armbeuge in die große Armvene gestoßen und Blut abgenommen, wobei eine Menge Röhrchen mit Blut gefüllt wurden. Anschließend schloss man sie an eine Kochsalz-Infusion an und außerdem mit einer Fingerkuppe auf Dauer an den Sauerstoffprüfer, der fortwährend, ungefähr vier Stunden lang, an denen sie im Untersuchungszimmer lag, 97% Sauerstoff anzeigte und nicht mehr 100%. Auch der Corona-Test wurde vorgenommen. Elli schien, die griesgrämige Pflegefachkraft machte diesen zu schlampig, zu flüchtig, zu schnell und nicht sorgfältig genug, eben lustlos. Wahrscheinlich befand sie sich im Dauerstress jetzt am Wochenende, wo wenig Personal vorhanden war, vermutete sie. Die Schwester betonte dies nämlich auch explizit: „Heute ist viel los!“ Offenbar sterben ihnen gerade etliche Corona-Patienten oder es geht denen sehr schlecht, dachte sie.
Ja, man machte allerhand Blutuntersuchungen, den Corona Test sowieso, maß ihr die Vitalzeichen wie Puls, Blutdruck und im Ohr die Temperatur. Nach dieser Arbeit zog die Krankenschwester den Schutzkittel aus, auch die blauen Plastikhandschuhe, warf beides in den Abfallbehälter, klappte den Deckel zu, und verließ abrupt, ohne ihr noch weitere Auskunft zu geben, das Untersuchungszimmer.
Elli fühlte sich alleingelassen und zunehmend eingesperrt, während die Infusion langsam in ihre Vene tropfte. Keine Glocke hing in ihrer Nähe, um im Notfall klingeln zu können. Plötzlich musste sie Wasser lassen, ach, was sollte sie nun machen? Sie lag auf der Pritsche und von allen Seiten angebunden, nämlich am Sauerstoffmessgerät und der Infusion. Also schrie sie so laut sie nur konnte: „Hallo, hallo!“
Niemand hörte sie, keiner kam, sie wartete und wiederholte nochmals: „Hallo! Hallo!“ Wieder blieben ihre Rufe ungehört.
Sie dachte: Ich werde noch auf die Pritsche pinkeln, ganz bestimmt. Um dies zu verhindern, schrie sie nach einer Pause nochmals, es half jedoch nichts. Endlich öffnete sich die Türe und die Pflegefachkraft half ihr jetzt, sich auf den Klostuhl zu setzen. Sie war todfroh darüber. „Ich rief schon öfters nach Ihnen!“, klagte Frau Kappel, „ich musste dringend zur Toilette!“
„Es ist heute sehr viel los!“, mit diesen Worten entschuldigte sie sich nochmals.
„Ach, die Infusion ist ja auch schon durch“, sagte sie und machte sie ihr weg, aber leider nicht die Viggo, die Venennadel, die ihr bei jeder Bewegung in der Armbeuge schmerzte.
„Der Arzt kommt noch vorbei!“, sagte sie schließlich, „und dies kann noch dauern, denn heute ist sehr viel los!“, wiederholte sie. Dann zog sie Schutzkittel und Handschuhe aus, entsorgte sie im Abfallbehälter und verließ rasch das Untersuchungszimmer. Zurückgelassen auf der Pritsche, lag sie schwer atmend da und wartete ungeduldig auf den Arzt, der sich offenbar nebenan bei den um ihr Leben ringenden Corona-Patienten aufhielt und von ihnen nicht mehr loskam. Hoffentlich steckt er mich nicht an, wenn er kommt!, dachte sie. Ach, ich kam der Ansteckungsgefahr jetzt unaufhaltbar nahe. Wäre ich, Dummkopf, doch lieber zuhause geblieben! Warum nur habe ich den Rettungsdienst gerufen? Komisch, dass ich augenblicklich keine Luft mehr bekam, ich verstehe es selber nicht, woher es wohl kam?, was mir so noch nie geschah, reflektierte sie. Fast wäre ich bei diesem Prozess gestorben. Oh, Weh und Ach! Corona-Viren seien schon in mir, dachte ich, ach, wie schrecklich!
Weil die Schwester so lange nicht gekommen war, hatte sie tatsächlich ein bisschen den Schlüpfer nass gemacht. Es wurde ihr unangenehm kalt zwischen den Beinen. Sie hatte leider keine zweite Unterhose mitgenommen, ja, sie hatte überhaupt nichts mitgenommen außer Haustürschlüssel, Krankenkassenausweis und Geldbörse, weil sie optimistisch glaubte, sie dürfe sogleich wieder nachhause fahren. Ob ich mir jetzt eine gravierende, schmerzhafte Blaseninfektion hole?, fragte sie sich.
Da ging die Türe auf und ein ungefähr 45-jähriger Arzt, schlank, mittelgroß, schwarzhaarig, freundlicher Blick, mit Mund-Nasen-Augenschutz, blauen Handschuhen und mit einem Schutzkittel bekleidet, trat ein. Er entschuldete sich gleich, sie so lange warten haben zu lassen. Ein sensibler Arzt, dachte sie. Auch er betonte, sich entschuldigend: „Aber heute ist sehr viel los! Was fehlt Ihnen denn?“
„Ich habe Atemnot“, sagte sie.
„Seit wann? Ist sie neu?“
Nicht ganz, aber ich habe sie zur Zeit vermehrt. Heute früh, konnte ich plötzlich gar nicht mehr atmen; ich glaubte zu ersticken.“
„Wie sind Sie hierher gekommen?“, fragte der Arzt.
„Mit dem Rettungsdienst, den ich anrief, weil ich dies sehr notwendig fand.“
„Nun setzen Sie sich einmal auf, machen Sie den Rücken frei, ich möchte die Lunge abhorchen und abklopfen. Alles in Ordnung. Sie werden anschließend noch die Lunge geröntgt bekommen. Ich muss noch schauen, ob sie an den Unterschenkeln Wasser eingelagert haben. Nein, das ist auch in Ordnung. Haben Sie in letzter Zeit abgenommen?“
„Ja, ungefähr drei Kilo, aber das wollte ich so“, gab Frau Kappel zur Antwort.
Der Arzt lachte, indem er ihre Worte wiederholte: „So, so, das wollten Sie so! Ha, ha, warum denn? Lassen Sie mal schauen? Haben Sie das nötig?“ Dabei wollte ihr der lustige Arzt scheinbar die Zudecke wegziehen. Dann horchte er noch ihr Herz ab. „Etwas zu schnellen Puls haben Sie“, meinte er, „aber ihr Herz schlägt rein und regelmäßig.“
Plötzlich ging die Türe auf. Ein Pfleger blieb in der Türöffnung stehen, während er mit dem Arzt mit gedämpfter Stimme sprach. Sie verstand von alledem kein einziges Wort. Wohl deutete alles darauf hin, dass gerade ein Corona-Patient verstorben sei, denn der Arzt, sie beobachtete ihn genau, zeigte zum Pfleger fragend und zu seiner Vergewisserung mit einem Daumen nach oben in Richtung Himmel, wo sie sogleich dachte: Nun ist wieder so ein armer Corona-Patient gestorben.
Bevor der freundliche Arzt fortging, sagte er noch: „Sie werden gleich zum Röntgen und dann auf Station gebracht“, und weil Elli sich dazu gleich aufrichtete, fügte er noch hinzu, „nein, bleiben Sie liegen, es dauert noch!“ Hieraufhin zog der Arzt seinen Schutzkittel und seine blauen Handschuhe aus, entsorgte sie in der Abfalltonne und verließ umgehend den Untersuchungsraum, indem er Elli noch zurief: „Erst morgen haben wir das Corona-Test-Ergebnis. Alles Gute wünsche ich Ihnen.“
Plötzlich befand sich der liebe Arzt erneut bei ihr und nahm ihr diesmal aus einer winzigen Arterie, direkt da, wo man sonst mit den Fingern den Puls fühlt, am rechten Handgelenk arterielles Blut ab. „Das arterielle Blut ist noch nicht so vermischt wie das venöse“, erklärte er ihr. Als er fertig war, empfahl er ihr, sie möge mit den Fingern die Einstichstelle für längere Zeit abdrücken, denn dies sei besser als ein Pflaster.
„Das mache ich“, sagte sie. Schon war der Arzt mit dem Blutröhrchen verschwunden.
Alleine wieder, wartete und wartete sie, bis sie abgeholt würde. Der Schlüpfer fühlte sich im Schritt feucht und kalt an. Sie dachte: Vielleicht rieche ich nach Urin, denn der Arzt fragte mich doch gleich, als er hereinkam, ob er das Fenster öffnen dürfe. Hoffentlich erkälte ich mich nicht! So eine Blasenentzündung ist widerlich! Womöglich muss ich ein Antibiotika schlucken, davor ich heftig zurückschrecke, denn auf manche reagiere ich allergisch, habe ich festgestellt, außerdem dürfte es kein Breitband-Antibiotika sein, denn dieses macht auch alle gesunden, lebenswichtigen Darmbakterien kaputt, was einen entzündeten Darm zur Folge haben kann, nämlich die langwierige Krankheit Morbus Crohn etwa, die mit allerlei Geschwüren einhergehen soll, glaube ich, soweit ich das in Erinnerung habe.
Es dauerte über eine Stunde, bis endlich jemand kam und sie abholte. Sie wurde zum Röntgen gebracht, wo ihre Lunge einmal von vorne und einmal von der Seite geröntgt wurde. Hinterher wurde sie auf eine Station verlegt, die für unklare Corona-Fälle reserviert war. Man legte sie in ein Einzelzimmer. Man behandelte sie so, als habe sie wirklich COVID-19. Krankenschwestern mit Schutzkitteln und Schutzmasken mit einem Plastikteil über den Augen, kamen in ihr Krankenzimmer, um ihre Vitalzeichen zu messen oder ihr das Essen zu bringen. Anschließend zogen sie sofort die Schutzkitteln und ihre blauen Handschuhe aus, um beides in der Abfalltonne, die im Zimmer stand, zu entsorgen.
Ja, sie lag nun isoliert und allein in einem vorgesehenen Corona-Zimmer, denn man wusste noch nicht, ob sie wirklich infiziert sei. Sie langweilte sich selbstverständlich. Um nicht allezeit im Bett zu liegen, stand sie, eine unruhige Patientin, die sie war, öfters auf, vertrat sich die Füße, und ging im Krankenzimmer auf und ab. Oft blieb sie am Fenster stehen und schaute hinaus in einen lang sich hinziehenden Park mit riesigen uralten Laubbäumen. Sie beobachtete zwei Wildenten, die unter den Bäumen friedlich grasten, Krähen schauten neugierig von einem Ast aus zu ihr ins Fenster herein und Leute liefen joggend im Dauerlauf vorbei. Plötzlich kamen zwei kleine Kinder angerannt und jagten mit hurra das friedlich grasende Entenpaar durch den Park. Ein schöner junger Mann mit rötlichem Haar und sportlich gekleidet, lief seine Jogging-Runden auf einem kreisrunden Kiesweg, bis er außer Atem kam und stillstand.
Erneut im Bett, deckte sie sich warm zu, denn sie begann zu frösteln; sie brauchte als verfrorene Frau mehr Wärme als andere offenbar. Darum ließ sie sich bei der Ankunft von der Krankenschwester sofort eine zweite Zudecke reichen, ebenso Handtücher, Waschlappen und noch andere Toilettensachen mehr, denn sie hatte leider gar nichts von zuhause mitgenommen. Außerdem fehlte ihr ein Buch. Gebrauchte Bücher, jedoch, die herumlagen, rührte sie aus Ansteckungsgefahr nicht an. Fernsehen mochte sie auch nicht, das machte sie erfahrungsgemäß depressiv und ein Radio entdeckte sie nicht. Öfters kommunizierte sie telefonisch mit Doris, die erschrocken auf Ellis Ankunft im Krankenhaus reagierte und sagte: „Ich wünsche dir von Herzen, dass du nichts hast. Dies wäre ja fatal und eine wahre Katastrophe für uns zwei!“ Zwischenzeitlich hatte sie viel zum Nachdenken, sodass die Zeit auch ohne andere Ablenkungsmanöver fast schnell verging.
Regelmäßig klopfte es an der Tür und systemrelevantes Personal erschien, meistens nur eine Person, angetan mit einem Schutzkittel und einer Mund-Nasen-Augenschutzmaske, die mit einem durchsichtigen Plastikteil auch die Augen bedeckte, denn auch übers Auge könnten Viren eindringen, hörte sie jemanden sagen. Darum trug sie jetzt immer eine Sonnenbrille, wenn sie daheim aus dem Haus ging. Die Schwester trat ein und nahm bei ihr die nötigen Messungen der Vitalzeichen vor, wie Blutdruck, Fieber, Puls, Sauerstoff im Blut, Blutzucker. Auch Elli setzte jedesmal sofort die Gesichtsmaske auf, wenn eine Pflegefachkraft erschien. Sobald jedoch Pflegepersonen oder Ärzte das Krankenzimmer verließen, entfernte sie sofort die Maske. Fortwährend quälte sie leichte Atemnot, obgleich sie das Fenster weit geöffnet hielt und dreimal am Tag mit einer vom Aufnahmearzt verordneten Lösung inhalierte.
Plötzlich ging zur Dämmerstunde nochmal die Türe auf und eine Ärztin erschien in der Türöffnung und meldete ihr: „Ihr COVID-19 Test, Frau Kappel, ist negativ ausgefallen.“ Darüber war Elli natürlich heilfroh. Leider setzte die Ärztin noch hinzu: „Morgen wird vermutlich der Test wiederholt werden!“, was die Freude wieder dämpfte. Man weiß es noch nicht sicher, dachte sie. Wieso? Sprang der Test nicht recht an? Sorgenvoll überlegte sie, von wem sie sich eventuell angesteckt haben könnte. Etwa im Supermarkt oder bei ihrem Mann, der es mit der Quarantäne nicht so ernst nahm und öfters irgendwohin fuhr? Wie wird es ihm gehen? Sie hatte mit ihm nichts mehr zu tun, außer ihm das Essen zu kochen, wofür er sich nie bedankte, weil er es für ganz selbstverständlich hielt. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, wo sie jetzt weilte, denn als der Rettungswagen kam, schlief Jupp noch fest in seinen Kissen. Meistens nahm er nach dem späten Fernsehen eine Schlaftablette und schlief dann wie ein Murmeltier bis tief in den Vormittag hinein. Er frühstückte erst, wenn sie vom täglichen Einkauf heimkam und für ihn Croissants mitgebracht hatte, die sein Ein-und-Alles bildeten. „Nur mit Croissants und Bohnenkaffee fängt mein Tag gut an, sonst jedoch nicht!“, betonte er immer. Jetzt musste Jupp sich alleine behelfen, selber seine Croissants einkaufen und so weiter und so fort. Es wird dem verwöhnten Mann unendlich schwerfallen. Er wird ausarten und durchs Haus brüllen, dass das Haus widerhallt. Sie hoffte, jetzt im Krankenhaus einschlafen zu können, allerdings sollte sie die ganze Nacht wach bleiben. Erfahrungsgemäß wusste sie: Am fremden, ungewohnten Ort kann ich nicht schlafen.