Читать книгу Im Schatten der Corona - Agnes Schuster - Страница 9
8. Kapitel
ОглавлениеDie Welt war aus den Fugen geraten und das Leben wie ausgelöscht. Fast niemanden sah man mehr auf Straßen und Plätzen der Großstadt. Kein Auto fuhr mehr hin und her. Alles leer. Nichts bewegte sich mehr. Sie dachte, ausgestorben ist die Welt um uns, so wie es vielleicht sein würde nach einem ungeheurem Knall, nach einem weltweiten Atombombenkrieg, nur standen alle Häuser noch still und ordentlich da, nichts war zerstört, nichts ruiniert oder verkohlt. So verging Tag um Tag im gleichen Trott und Rhythmus. Die Tage monoton, glichen einander aufs Haar. Es fanden bei Kappel keine besonderen Ereignisse mehr statt, außer dass Jupp, unzufrieden mit sich selbst, tagsüber kontinuierlich jammerte und stöhnte. Eintönigkeit, Monotonie und der daraus resultierenden Langeweile des Alltags setzten jetzt allen Menschen zu. Ihr ging Jupp unsagbar auf die Nerven. Sie konnte es kaum noch erwarten, so fieberte sie dem Zeitpunkt des Abschieds entgegen. Sie fragte sich: Wann endlich bin ich von ihm befreit und außer seiner Reichweite?
Dann fanden plötzlich und erstaunlicher Weise einige Lockerungen von etlichen Einschränkungen statt und schon erwachte die Welt hier und da ein wenig aus dem Dauerschlaf. Manchmal, wenn sie gerade nicht übersetzte und eine kleine Pause einlegte, stand sie am Fenster, schob die Gardinen zurück, öffnete es und sah auf die Straße hinunter. Jetzt fuhren wieder Autos hin und her, die von Tag zu Tag sich vervielfachten und die Luft erneut verunreinigten mit Auspuffgasen und Feinstaub, die Luft, die eine Zeitlang fast so gut wie auf dem Lande war. Sie sah Autos entlang sausen wie vor der Pandemie. Auch mehr Menschen wurden auf Gehwegen sichtbar; sie hatten wohl viel zu erledigen, viel nachzuholen, beobachtete sie, die mit Schutzmasken einkaufen gingen. Sonst hörte sie viel Radio nebenbei, um herauszubekommen wie es um die Corona-Krise nun wissenschaftlich aufgedröselt stünde, wie sie sich entwickelt, wie viele täglich in Deutschland noch an dieser Infektion sterben müssen. Und sie erschrak jedes Mal heftig, wenn sich mehr als am Vortag angesteckt hatten. Die Rate steigt unaufhörlich an, dachte sie, es wird nicht besser, eher noch schlechter. Die Pandemie boomt und zieht sich ewig in die Länge. Warum? Sind die Leute zu unvernünftig und halten sich nicht an Regeln, Abmachungen und Vorschriften. Mein Gott! Ob Jupp dies übersteht, es auf Dauer aushält, oder ob er zum Schluss noch durchdreht und zugrunde geht? Er benimmt sich in letzter Zeit unverhältnismäßig unruhig und merkwürdig verrückt, als sei er bereits angeknackst und psychisch gestört. An manchen Tagen sieht es brenzlich für ihn aus, als habe der generell Depressive durch die neuartige Corona-Krise noch stärkere Depressionen hinzugewonnen. Dann hört man ihn seufzen und schniefen und murren, beinahe heulen wie einen kranken Hund, der sich zum Sterben in die Ecke zurückgezogen hat. Er bräuchte dringend Hilfe von einem Therapeuten, sagt er dann, wenn Elli sich nach seinem Weh und Ach erkundigt. Aber wo soll man den Therapeuten auf die Schnelle herbringen? Mürrisch steht er am offenen Fenster und blickt düster mit verhangenen Augen und tiefeingegrabenen Augenringen in die veränderte Welt hinaus und zeigt sich mir gegenüber extrem abweisend. „Geh weg!“, schreit er mich plötzlich an, „starr mich nicht so durchdringend an! Du kannst mich nicht verstehen; dazu reicht dein Grips nicht. Dein geringes Verständnis für mich ist dein größtes Defizit. Sei ehrlich, du magst mich nicht! Hast mich nie geliebt! Du stößt mich ab als sei ich ein giftiges Quecksilber. Das merke ich wohl!“
Mir tut seine Auffassung weh. Ich bin empfindsam, dachte Elli. Es schmerzt mich, dass er auf mich so negativ reagiert, als wäre ich ein Unmensch. Ich selber empfinde mich als einen mitleidigen, barmherzigen warmherzigen Menschen und im besten Sinne human und gewissenhaft. Ich kenne Empathie im reichen Maße, verstehe andere zu trösten, erbarme mich, wenn jemand leidet. Ich bin es von ihm schon gewohnt, dass er mich nicht teilnehmen lässt an seinem Glück, seinem Leid, seinem Kummer und überhaupt nicht an seinem Leben. Er stößt mich ab, lässt mich außen vor, ich kann nur raten. „Gehe dahin, wo der Pfeffer wächst!“, schreit er mich an. Also ans Ende der Welt, meint er wohl. Und bald werde ich damit Ernst machen. Ich werde still und heimlich verschwinden, sobald eine potentielle Hoffnung besteht, und will ihn dann niemals mehr sehen. Für mich ist er schon lange gestorben, eingedenk der Tatsache, wie schäbig und grob er sich sein Leben lang an mir verging. Er behandelte mich, als sei ich ein Tier und könne mit mir machen, was er will, nur weil er mit mir verheiratet ist. Er ließ nie ein gutes Haar an mir und wenn gelegentlich Besuch kam, beklagte er sich bei den Gästen über mich, machte mich vor ihnen herunter, die mich dann mit großen strafenden Augen anschauten, was mich ungeheuerlich demütigte und erniedrigte. Ich jedoch konnte mich nicht verteidigen, um es klarzustellen. Ich schwieg zu seinen degradierenden Worten, brauste nicht auf, denn ich bin ein friedvoller Mensch und eigne mich nicht für aggressive Angriffe. Ich senkte nur mein Haupt, meinen Blick, sah bloß frustriert zu Boden, keinen Augenaufschlag zu seinen Gästen wagend. Mein Mann hatte sich einen Kreis von Vasallen aufgebaut, die ihm treu anhingen und es gerne hörten, wenn mein Mann mich verunglimpfte, obgleich ich immer für die Gäste kochte und sie beim Essen bediente. Wie ein gescholtener Hund verließ ich schließlich die missliebige Gesellschaft und zog mich heulend zurück, mein Schicksal beklagend. Das mich Heruntermachen war gang und gäbe bei ihm, besonders im letzten Jahrzehnt. Er nahm mir mein Ansehen, das ich als Kleinkind und Jugendliche von meinen Vorgesetzten mühsam aufgebaut bekommen habe, wenn sie mich lobten und priesen und mir Aufwind gaben. Kann ich so einen Mann denn noch lieben, der mich heruntermacht und demütigt? Nein! Und abermals nein! Das ist gänzlich unmöglich und vorbei für immer und ewig. Meine Liebe zu ihm, ein zartes, leicht zerbrechliches Pflänzchen war sie, ist endgültig eingegangen. Freudlos ging die Liebe an uns vorüber wie eine Jahreszeit an der andern.
Schon lange betrieb sie Vergangenheitsbewältigung. Sie kam einfach nicht darüber hinweg. Laufend musste sie, so wie die Kuh das Heu, schmerzvolle Erinnerungen wiederkäuen. Oh, ich bin mit ihm fertig und warte nur noch auf den Tag der Erlösung, bis sich der Alltag für mich in einer eigenen Wohnung endlich normalisiert, dachte sie. Aber dies kommt leider noch nicht in Betracht, so wie es mit der Pandemie noch aussieht, die jedem ein Dorn im Auge ist. Wir haben sie nicht gewollt, sie nicht herbeigewünscht. Aber sie ist da und wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen. Wiederholt kreisen gleiche Gedanken in mir. Ich kann nichts dafür. Sie beschäftigen mich Tag und Nacht. Selbst in meinen Träumen kommen und gehen sie, kommen und gehen sie. Kein Ende ist in Sicht. Schließlich gegen Abend hin macht Jupp wieder den Fernseher an, obgleich er eigentlich kein Interesse daran hat, wie er sagt. „Ach, auf alle Kanäle könnte man verzichten! Eine Sendung ist blöder und seichter als die andere! Kein Tiefgang! Wer findet denn daran überhaupt Gefallen? Ich nicht! Und nur Einschränkungen gibt es und keine Lockerungen! Es ist zum Verzweifeln! Ich gehe noch ein!“, ruft er aus. Dann dreht er sich verdrießlich zur Seite und stöhnt bis er eindöst. Der unverbesserliche Pessimist reagiert auf alles negativ, denke ich dann. Viele Radfahrer sind unterwegs, sehe ich zur Straße hinunter. Sie treiben vermutlich alle Sport. Sie wollen heraus aus der Enge der Häuser und kleinen Wohnungen, wollen sich bewegen, die Glieder strecken, die Gelenke trainieren und frische Luft atmen. Und ein Tag ist sonniger als der andere, niemals regnet es, was beileibe nicht positiv sein muss, denn die Erde braucht dringend Regen und nichts als Regen, sonst trocknet sie aus, die Wälder werden krank oder brennen ab. Schon den ganzen April 2020 ist es trocken außer einigen Regentropfen, die vereinzelt vom Himmel tropften. Heiß und trocken sind die Tage in der Großstadt, die Nächte allerdings fast noch winterlich kalt.
Mit der Natur befassten sich auch Ellis Gedanken, denn sie liebte und sorgte sich für sie als selbsternannte Naturschützerin, die auch in ihr steckte.
Gegenüber ihrer Stadtvilla, die Jupp gehörte, nämlich auf der Westseite, befand sich eine große Gaststätte, die nun wegen Corona geschlossen blieb. Auf der Terrasse saßen vor der Pandemie täglich massig Gäste und tranken Bier. Manchmal, wenn Elli zum Lüften am offenen Fenster stand und ein Windstoß wütend durch ihr schwarzlockiges Haar blies, kam es vor, dass Wirtsgäste, alkoholisierte Säufer, so hörte es sich an, ihr mit dem Bierkrug johlend zuwinkten. Dann dachte sie: Sie tun, als sei ich noch ein frisches junges Mädel! Jetzt aber stand die Gaststätte leer und verödet da, nur die Wirtsleute, ein Familienclan ganz besonderer Art, den sie nicht mochte, sah manchmal nach, ob ihre Kneipe noch an Ort und Stelle stünde oder ob ein Hurrikan sie bereits weggeblasen habe.