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„Nur die Hülle“? Folgen der Spaltung von Körper, Geist und Seele

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Es ist hierzulande weitverbreitet, an einem Totenbett oder am Sarg zu sagen: „Das ist ja jetzt nur noch die Hülle.“ – Dies ist tröstend gemeint. Viele sind davon überzeugt, dass die Seele oder die Essenz des Menschen sehr schnell nach dem Tod fortgehe oder der Mensch, die Persönlichkeit, nun eben einfach nicht mehr da sei. Dies richtet sich unter anderem danach, welche Glaubens- oder Weltvorstellungen die Menschen haben, aber auch danach, in welcher Kultur sie aufgewachsen sind. Ab und zu hören wir auch, meist außerhalb einer Bestattungsbegleitung: „Mir persönlich ist es egal, was nach meinem Tod mit mir geschieht. Wichtig ist das ja nur für meine Nächsten.“

Die meisten Menschen wissen in der Regel nicht, wie der übliche Umgang mit den Toten hier ist. Wenn alle über ausreichende Informationen verfügten, würden manche vielleicht anders darüber denken.

Die Sichtweise, dass nach unserem Tod nur eine leblose Hülle (unser Körper) zurückbleibt, entspricht der Überzeugung einer Trennung von Körper, Geist und Seele. Viele bezweifeln auch das Existieren einer Seele. Bleibt also die Trennung von Körper und Geist. Und der Geist ist nach wie vor das wesentlich höher bewertete menschliche Sein.

Der Körper ist dieser Annahme nach nur so etwas wie ein Hilfsmittel, eine Maschine, die funktionieren muss. Körperlichkeit ist uns entfremdet: etwas, das optimiert werden muss, nie ganz perfekt ist, nicht immer einwandfrei funktioniert, das uns bei schlimmen Krankheiten sogar „verraten“ kann oder gegen uns arbeitet. In ihren Körpern fühlen sich wenige ganz zu Hause. Wenige sind immer glücklich und zufrieden mit ihren Körpern, vor allem Frauen, die dem künstlich erzeugten Ideal niemals ganz entsprechen können.

Dankbarkeit für das Wunder unseres Körpers wird nicht gerade kulturell unterstützt. Kein Wunder also, dass wir uns im Tod auch schnellstmöglich davon trennen wollen?

Aber – ist das wirklich möglich? Wer sind wir? Wo ist der Sitz dieses „Geistes“, wenn manche ForscherInnen mittlerweile herausgefunden haben, dass wir nicht nur mit unserem Gehirn, sondern auch mit unserem Darm26 „denken“ und von riesigen unterschiedlichen (Bakterien-)Völkern besiedelt sind, ohne die wir nicht leben könnten?

Was macht mich aus? Wann und wie sterben diese Völker in mir, die doch auch „Ich“ sind, zumindest ein großer Teil von mir, und nach meinem Tod erst mal munter weiterleben? Gibt es ein abgrenzbares „Ich“ überhaupt? Oder bin ich viele und das nicht nur auf der rein biologischen Ebene? Ist meine Essenz in jeder Zelle, da dort doch auch meine DNA ist, mein „Bauplan“? Und wann sind wir tot, wenn selbst die Medizin diesen Zeitpunkt nicht genau bestimmen kann und dafür derzeit den Hirntod als Maßstab definiert hat? – Das sind Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Und wie gehen wir mit unseren Körpern um? Wie gehen wir mit unseren Toten um? Welchen Umgang lassen wir zu? Welche Folgen hat diese Spaltung von Körper, Geist und Seele? Was macht das mit uns, wenn der Geist sehr hoch bewertet ist, der Körper aber „nur die Hülle“ und die Seele den Religionen oder der Psychologie zugeordnet wird? Welche Auswirkungen hat die Spaltung von Leben und Tod, das gewaltsam erschaffene Konstrukt der Gegensätze Mensch und Natur, schwarz und weiß, Gut und Böse, männlich und weiblich …?

Eine der in meinen Augen passenden Beschreibungen von Tod ist: radikale Veränderung des Zustandes. – Ich nehme diesen Zustand als sehr lebendig wahr. Aber es bleibt auch immer etwas nicht erklärbar und nicht begreifbar. Tote Menschen sind für mich nie „nur eine Hülle“. Schon allein deshalb nicht, weil mir die Abwertung der Körper, die darin zweifellos mitschwingt, missfällt. Woher sonst kommt das „nur“?

Unsere Körper sind der Ausdruck unseres Wesens. Ohne sie könnten wir nicht auf dieser Erde leben, nicht mit unseren Sinnen all die Schönheit um uns wahrnehmen, wir könnten schlicht nicht da sein. Wir sind körperliche Wesen. Körper gehören geehrt und gewürdigt. Mit Respekt und Achtung behandelt. Mit Liebe und Dankbarkeit für dieses Wunder des Lebens, das sich durch unsere Körper offenbart. Die Toten können uns das Wunder des Lebens begreiflicher machen – wenn wir es zulassen.

Bei Toten, die einer aufwendigeren Versorgung bedürften, damit Angehörige am offenen Sarg von ihnen Abschied nehmen könnten, wird häufig gesagt, das ginge nicht mehr, die Toten seien kein schöner Anblick und man solle sie doch so in Erinnerung behalten, wie sie zu Lebzeiten waren. Das ist leider kein guter Rat, auch wenn er vielleicht manchmal gut gemeint scheint.

Viele Menschen haben mir erzählt, dass sie es nie wirklich ganz glauben konnten, wenn ein Mensch aus ihrem Leben einfach so verschwand, und andere ihnen sagten, dass er nun tot sei. Selbst dann, wenn sie bei der Beerdigung dabei waren und den geschlossenen Sarg sahen. Das allein reicht oft nicht. Denn uns Menschenwesen, die wir immer mit unseren Sinnen zu begreifen versuchen, wird der Abschied sehr schwer bis unmöglich gemacht, wenn wir unsere geliebten Nächsten nach ihrem Tod nicht mehr sehen, sie nicht berühren dürfen, um wirklich im wahrsten Sinne des Wortes begreifen zu können, dass sie nicht mehr leben.

So wird Trauer häufig zu einem unverarbeiteten, vielleicht sogar traumatischen Ereignis und das Loslassen, das Verabschieden gelingt manchmal ein Leben lang nicht. Beispielsweise sind die Bilder, die sich Angehörige nach einem Unfalltod in der Vorstellung machen, in der Regel schlimmer, als es der tatsächliche Anblick je hätte sein können. Gerade nach einem plötzlichen Unfalltod, der nur von der Polizei „übermittelt“ wird, ist der Schock sehr groß. Hier kommt es auch sehr entscheidend darauf an, wie sensibel, erfahren und mitfühlend diejenigen sind, die diese schlimme Nachricht überbringen müssen. Dazu auch eine Studie in Kapitel V: Wenn Kinder sterben: Die tiefe Weisheit der Mütter – die darin dargestellten Ergebnisse gelten unter anderem auch für Angehörige, die jemanden nach einem plötzlichen Tod verabschieden müssen.

Unserer Erfahrung nach ist die friedliche und schöne Ausstrahlung der Toten auch nach einem Unfall deutlich sicht- und spürbar. Die (manchmal sehr anspruchsvolle) Versorgung übernehmen wir in diesen Fällen alleine. Die Angehörigen werden von uns einfühlsam vorbereitet und über alles informiert. Nie haben wir es erlebt, dass die Angehörigen es bereut hätten, noch einmal zu ihren Toten gegangen zu sein – im Gegenteil: Danach konnten auch sie ihren Frieden finden – so wie ihre Toten.

Die Heilkraft eines gut begleiteten Abschieds ist besonders nach einem Tod durch Unfall oder einem plötzlichen Tod sehr stark zu spüren. Denn unsere Körper, unsere Herzen lassen sich nichts vormachen. Wir reagieren in der Regel alle auf einen toten Menschen, als wäre da noch die Person, die sie zu Lebzeiten war. Und das ist gut so. Dafür brauchen wir Raum und Zeit. Im Leben, wie im Tod. Denn so ist es bei allen Übergängen.

Nach unserem Tod wechseln wir nicht von einer Sekunde auf die andere den Zustand. Tatsächlich brauchen wir – das hat mich meine Erfahrung und meine Körperweisheit gelehrt – eine Weile, um aus dem gelebten Leben zu gehen, dieser radikalen, unaufhaltsamen Veränderung zu folgen und uns von allem, was uns lieb war, zu verabschieden. Ich verstehe unter dieser Art von Wissen kein „[…] intellektuelles Wissen, sondern ein Wissen, das ganzheitlich, körperlichgeistigemotional in uns gründet, als eine wahrhaftige, umfassende Erfahrung“27.

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